Unser Privathaushalt ist keine Wegwerfgesellschaft. Nein, wir sind Aufbewahrer: In unseren Schränken überdauern Verbrauchsgüter, die anderswo längst als Biowaffen entsorgt worden wären. Bei uns hingegen kommt nichts weg, das nicht vollständig verzehrt wurde. Und heute ist der Tag eines magischen Jubiläums – wird ES wieder lebendig werden?

Niemand weiß es mehr genau, denn die menschliche Geschichtsschreibung reicht so weit nicht zurück, aber es könnte wie folgt gewesen sein: An einem wunderschönen Tag im Mai des Jahres 2003, die Tochter war gerade zwei Monate alt und der Sohn noch nicht mal Pudding im Schaufenster, beschloss die Frau, ein Brot zu backen. Hurtig ging sie über die Kreuzung zum Ünüvar, was so eine Art Edeka auf Türkisch war und heute längst abgerissen ist, um die dazu benötigte Dose Backferment zu erwerben.

Bitte fragen Sie mich nicht, was Backferment tut. Ich könnte höchstens neunmalklug raten, dass es den Teig fermentiert, aber nicht sagen, was das bedeutet oder warum das erforderlich ist. Jedenfalls scheint es mit dem “Backtriebmittel” verwandt zu sein, einem Verpackungswort im Kleingedruckten, das mich schon immer auf merkwürdig animalische Art fasziniert hat. Man darf ohne gehässige Untertöne sagen, dass die Frau einen Backtrieb hat, von dem wir alle sehr profitieren, und dazu braucht sie halt das Mittel. Das Backferment.

Gesagt, getan. Der mit Ferment gedopte Brotteig trieb wie der Teufel, es duftete im Ofen, und dann saß die Kleinfamilie satt um den Abendbrottisch. Längst hatte die Frau die Dose mit dem Backferment in den Tiefen unseres Hochschranks verstaut, was kein Widerspruch ist, sondern Teil des Problems: Was aus den Augen und aus dem Weg soll, kommt in die Tiefen des Hochschranks. Tief mal hoch ergibt viel Stauraum. Es ist dunkel im Hochschrank. Dinge, die in seinen hohen Tiefen landen, verdämmern und werden bald von anderen Dingen überlagert. Schicht um Schicht an geöffneten Packungen, Dosen, Gläsern stapelt sich im tiefen Dunkel des Hochschranks. Denn sie sind ja alle noch nicht aufgebraucht. Kann man also jederzeit wiederverwenden.

Muss man aber nicht zwangsläufig. Und tut man auch gar nicht so häufig, wie man glauben könnte. Die Frau zum Beispiel buk (ja, in Grimms Märchen hieß es buk) aus irgendwelchen längst vergessenen Gründen gar nicht so bald wieder ein Brot. So kam es, dass fast genau ein Jahr danach in den Tiefen des Hochschranks ein Mindesthaltbarkeitsdatum ablief. Unbemerkt. Denn über der stummen Backfermentdose lagerten bereits sechs Schichten neuerer Nahrungsmittel. Wäre sie nicht ohnehin stumm gewesen, sie hätte schon durch den erstickenden Druck, der auf ihr lastete, kein Wort herausgebracht.

So verging Jahr um Jahr. Mag sein, dass die Backfermentdose anfangs noch manchmal ausgegraben, verwundert bis freudig erstaunt betrachtet – “Huch! Ich hab ja doch noch welches, wie praktisch!” – und arglos ohne Blicke auf Kleingedrucktes ihrer Verwendung zugeführt wurde. Es muss so gewesen sein, denn sie ist heute nur noch drittelvoll. Immer aber versackte sie nach Gebrauch wieder im Treibgut des tiefen Hochschranks, bis sie schließlich Teil der verkrusteten und karamellisierten Bodenschicht in der Hochdruckrestepresse unseres Schrankes wurde, aus der sie lange Zeit niemand mehr herauslösen konnte.

Eines Tages jedoch, und wir schrieben sicher schon das Jahr 2023, legte der Sohn durch einen unwahrscheinlichen Zufall die Dose erneut frei und beförderte sie ans Licht. Ein Aufschrei aus der Küche trieb uns zusammen. Der Sohn hatte die Hieroglyphen des Mindesthaltbarkeitsdatums entschlüsselt. Allerhand Ideen schossen durch den Raum: “Ich werde es bloggen!”, rief ich. “Ich werde der Backfermentdose einen Jubiläumskuchen widmen!”, rief der Sohn, der damit kein eigenes Backwerk, sondern eine Auftrags-Motivtorte vom migrantischen Zuckerbäckerbetrieb meinte. Und von diesem Moment an zählten wir die Tage – bis heute. Heute ist der Tag. Heute hat die Backfermentdose 20-jähriges Mindesthaltbarkeitsdatumablaufjubiläum.

Ich habe das mal ein wenig recherchiert. Das “Spezial-Backferment” oder auch “Teiglockerungsmittelgranulat nach Hugo Erbe” der Firma Sekowa Backrechnik GmbH gibt es – grundsätzlich jedenfalls – immer noch zu kaufen. Was in mir eine tiefe Zufriedenheit auslöst, denn rings um mich her bricht alles Vertraute zusammen, alles Bewährte wird weggespült, alle Grundpfeiler meiner Sozialisation stürzen ein. Zwanzig Jahre haben mir existenziell zu- und mein persönliches Mindesthaltbarkeitsdatum entsprechend herabgesetzt.

Bitte, wir sprechen hier über das prähistorische Jahr 2004! Niemand ahnte damals, was für Heimsuchungen bald darauf über uns kommen würden: Merkel, Bankenkrise, Grenzöffnung, Wokeness, Corona-Totalitarismus und Energiewende. Aber die Sekowa Backtechnik GmbH in 61197 Florstadt beliefert uns unverzagt weiter mit den lebensnotwendigen Teiglockerungsmittelgranulaten. Selbst das Dosendesign hat sich über 20 Jahre hinweg kaum verändert. Doch Moment … was ist das? “Versand derzeit nicht möglich”, warnt die Homepage. Was ist da los, Sekowa? Bitte bleib bei uns!

Ich kann nämlich auf keines solcher Qualitätsprodukte von gestern mehr verzichten. Ihr seid wie ich: die letzten Mohikaner. Ihr seid Anker meiner Vergangenheit, Botschafter aus einer fernen, aber besseren Zeit, in der “Fett noch mit o geschrieben wurde”, wie mein Vater rätselhaft zu sagen pflegte. Inspiriert von der Ausgrabung des versteinerten Backferments habe ich auch andere Schränke unseres Haushalts durchkämmt – und bin dank Forscherglück vielfach fündig geworden. Der archäologischen Systematik halber sind die Funde in drei Abteilungen dokumentiert.

1. Lebensmittel

Vergleichsweise wenig spektakulär ist eine angebrochene Schachtel “Schapfenmühle Leinsamen geschrotet”. Dem MHD 5. Mai 2022 zufolge ist sie erst zwei Jahre übers Ablaufdatum, nicht nennenswert also. Dennoch fanden sich in der Packung ein paar interessante … Anomalien, egal. Schon auf das erste Corona-Jahr zurück geht immerhin die noch unangetastete Tüte “Knorr Salat Krönung Paprika-Kräuter”: MHD Dezember 2020.

Nur noch unvollständig erhalten – wir reisen weiter in der Zeit zurück – ist eine Packung “Dr. Oetker Bittermandel-Aroma” mit dem MHD November 2016. Zwei von ursprünglich vier Ampullen fehlen, doch die übriggebliebenen scheinen unversehrt. Den Vogel in dieser Abteilung schießt aber ganz klar die angebrochene “Kania Lebkuchen-Würzmischung” ab: Mit dem MHD “Ende 2008” wäre sie der Methusalem unter unseren Küchenvorräten – wenn sie nicht das Backferment noch um locker vier Jahre überrundet hätte.

2. Hausapotheke

Auch hier fangen wir mit der harmlosesten Überziehung der Haltbarkeit an: mit den Globuli. Das “Homöopathische Arzneimittel Arnica D 6” ist eine noch zu zwei Dritteln mit Zuckerkügelchen gefüllte Flasche, MHD Juni 2013. Hat also gerade mal sein Zehnjähriges hinter sich, das Schneeflöckchen. Deutlich ernster wird es bei den “Bad Heilbrunner Gastrimint Magentabletten gegen Sodbrennen”, in deren Schachtel mit dem MHD-Aufdruck “Juni 2008” immerhin noch 40 von 60 Tabletten vorhanden sind. Mir persönlich schmecken die im Bedarfsfall heute aber immer noch recht minzig, wenn auch im Abgang etwas muffig.

Noch vier Monate länger übers Datum hinaus (Januar 2008) ist ein Blister mit zwei Fieberzäpfchen für Kinder Marke “Viburcol N”, dessen Packung vor langer Zeit verloren ging. Der Sieger dieser Kategorie aber, mit deutlichem Abstand, blieb aus einem Spanienurlaub bei uns zurück: “Biodramina C” Tabletten für die “prevención y tratamiento del mareo”, was Seekrankheit, Schwindel, aber kurioserweise auch “Dusel” heißen kann. Alle vier Tabletten sind noch vorhanden – und seit April 2005 abgelaufen.

3. Haushaltschemie

Noch am aktuellsten, eigentlich kaum vom Zahn der Zeit benagt, ist hier die halbvolle Pumpspraydose “S-quito free sensitiv Insektenschutz”, deren MHD vom April 2013 erzählt. Mithin also ein Zeitgenosse der Globuli aus der Hausapotheke. Nichts von seiner kreativen Kraft verloren haben dürfte auch die “Window Art Fenstermalfarbe Blauglitter”, immerhin noch viertelvoll, die bereits im Januar 2008 hätte hinüber sein müssen.

Aber der Star dieser Abteilung ist einzigartig, geradezu zeitlos. Übrigens auch, was das MHD betrifft: Es gab damals vermutlich noch keines. Sicher ist nur, dass die “Hansa-Glanz Möbelpolitur” unter anderem “gegen Holzwurmschäden” schützen soll und ihre Glasflasche noch knapp halb voll mit einer öligen Emulsion ist. Erworben habe ich die damals natürlich noch unangebrochene Flasche rückblickend wohl schon im September 2015 bei einem Räumungsausverkauf in einer Drogerie, deren verstorbene Besitzerin ebenfalls einen Aufbewahrungstrieb gehabt hatte.

Vermutlich stammt “Hansa-Glanz” aber nicht nur aus dem vergangenen Jahrtausend, worauf schon allein die Preisangabe “Vertrieb 2,50” hindeutet, die stark nach D-Mark-Zeiten klingt. Nein, nach dem Etikettendesign mit der Nachkriegs-Schriftart und dem Wirtschaftswunder-Produktnamen zu urteilen, könnte sie geradewegs in den 1950er-Jahren hergestellt worden sein. Oder gar gleich noch unterm Führer, was 2,50 Reichsmark gleichkäme. Und das würde selbst das Backferment tief in den Schatten stellen. Die sensorische Prüfung ergibt übrigens bei jenem ebensowenig Beanstandungen wie bei diesem. Auch seinen Zweck, die Möbelpolitur, erfüllt “Hansa-Glanz” ordentlich.

Was wäre aber nun eigentlich, wenn wir alle diese Funde mit etwas Wasser verrühren und drei Wochen in der Frühlingssonne auf dem Balkon stehenlassen würden? Welche originellen Lebensformen, die womöglich noch nicht einmal wissenschaftlich beschrieben wurden, könnten daraus hervorgehen? Nein, TWASBO wird natürlich nicht berichten. Alles kommt stattdessen ordnungsgemäß auf die Giftmülleponie, um dort in nachhaltige und klimaschonende Energie verwandelt zu werden. Nur das Backferment, das behalten wir. Mit dem wollen wir alt werden.