Die Erde ist eine Scheibe – oder etwa nicht? Auch wenn der Meister es so lehrt: Den Schüler Jo-Hammad plagen Zweifel, denn am Horizont lockt schemenhaft der verbotene Turm. Soll er es wagen, den Flachbau der Schule hinter sich zu lassen und den gefährlichen Weg zum Rand der Welt anzutreten?

Das Haus war so flach wie möglich gebaut. Natürlich, denn es war ein Schulhaus. Einstöckig, fensterlos, ohne Ecken und Kanten. Ein Haus wie ein ausgehöhlter Hügel. Seine Hänge bestanden aus weiß verputztem Waschbeton, ringsum sanft ansteigend und wieder abfallend, um der Bauhöhe von fast drei Metern das Anmaßende zu nehmen.

Wer des Morgens von den Wohnlöchern herkam, dem bot sich ein abweisender Anblick: Wie bei allen öffentlichen Häusern, die sich unter GO-LLAHs erhabenem Himmelszelt duckten, hatte man auch diese von Menschen gemachte Wölbung mit bunten Glasscherben gespickt. Warnend glitzerten sie im Sonnenlicht, scharfkantig aufgestellt, dicht an dicht. So konnte niemand die Anhöhe als Versuchung begreifen, auf ihre Kuppe zu steigen und einen unziemlich langen Schatten über die Ebene zu werfen.

GO-LLAH erlaubte es nicht.

Wie vermessen musste ein hier Lehrender oder Lernender sein, um sich über den Horizont erheben zu wollen, den GO-LLAH wie mit dem Lineal gezogen hatte? Der Meister erinnerte Jo-Hammad und die anderen jeden Morgen zu Schulbeginn daran. Und er gemahnte sie auch an das Glück, dass sich ohne Fenster kein Ausblick zum Turm hin auftun konnte, der in der nördlichen Ferne stand.

„Der Turm“, sang der Meister die alten Worte vor, „ist das Haus der Vermessenheit!“ Und mit den anderen stimmte Jo-Hammad automatisch ein: „Der Ort, an den man nicht geht!“

Aber wenn Jo-Hammad am Mittag aus dem Schulhaus kam, stand der Turm noch immer dort, weit im Norden. So wie vor der Zeit, als GO-LLAH in seinem Zorn die Welt der Alten Sünder eingeebnet hatte. Nur dieses Bauwerk hatte sein Gegenspieler frech bewahrt, dem Großen Gleichmacher zum Spott. Eine böse und mächtige Hexe treibe darin ihr Unwesen, hieß es. Sie schien Jo-Hammad zu rufen: Komm, besteige den Turm! Erhebe dich über den Horizont! Sei vermessen! Schau, was kein anderer je gesehen hat!

Zögernd wandte der Junge den Blick ab und schlurfte zu den Wohnlöchern zurück. Ein letztes Mal.

Denn am nächsten Tag geschah, was irgendwann hatte kommen müssen: Jo-Hammad, der Einzelgänger, fand sich auf dem verbotenen Pfad nach Norden wieder. So sehr er sich ängstigte, so unnachgiebig hatte der Turm ihn angezogen. Der Ort, an den man nicht ging, war sein Ziel geworden. Gegen alle Regeln hatte er sich auf den verbotenen Weg gemacht.

Nach einem halben Tagesmarsch, meist tief geduckt gegen die Blicke der Späher, das lockige braune Haar fast auf einer Höhe mit den Ähren der Weizenfelder, erreichte Jo-Hammad spätabends den Fuß des Turmes. Dort erst richtete der schlaksige Junge sich zu ganzer Größe auf. Eine Kraft, die von dem unheiligen Ort ausging, schien ihn in die Vertikale zu ziehen. Zum ersten Mal in seinem Leben legte er den Kopf in den Nacken – so weit, dass er die kleinen Knochen im Genick knirschen hörte.

Die Spitze des Bauwerks verschmolz dort oben am Abendhimmel mit dem Glanz der Sterne.

Gigantisch! Vier, womöglich fünf Stockwerke hoch, selbst den Geißelungshügel der Glaubensbewahrer deutlich überragend, türmten sich die Steine schwindelerregend dem Firmament entgegen. Jeder Meter eine Anmaßung, jedes Sims ein Frevel, jede Zinne ein Hohn auf den Großen Gleichmacher. Doch das Tor stand offen. Einladend warmes Licht drang heraus.

Jo-Hammad hatte schon jetzt in einem Ausmaß gesündigt, um sein Leben zu verwirken. Da würde es keinen Unterschied mehr machen, wenn er die enge, steinerne Wendeltreppe erklomm. Dennoch raste sein Herz vor Anstrengung und Angst, als er das Turmzimmer unter dem Dach erreicht hatte. Nirgends war er unterwegs auf die Hexe getroffen. Also musste sie wohl hier oben auf ihn lauern. Würde ihn als erstes ihr böser Blick treffen oder doch gleich die Strafe GO-LLAHS? „Mein Leben ist ohnehin verwirkt“, rief sich Jo-Hammad ins Gedächtnis. Er drückte die Klinke und öffnete die schwere Holztür einen Spaltbreit.

Im Halbdunkel war niemand zu sehen. Bloß ein Messingrohr auf einem Stativ, das vor einem großen Fenster ohne Scheibe aufgebaut war. Das Rohr schien auf einen Punkt in der Ferne ausgerichtet zu sein. Wieder zog die Neugier an Jo-Hammad. Er trat ins Zimmer und dann an das dünnere Ende des Rohres, um hindurchzuschauen. Denn das war offenbar der Zweck der Apparatur. Im kreisrunden Guckloch flammte beim letzten Licht des Tages etwas rötlich auf, knapp über dem Horizont.

„Sieh dich nur satt!“

Die Stimme in seinem Rücken gehörte einer alten Frau. Unbemerkt hatte sie sich von hinten angenähert. Es gab keinen Gedanken mehr an Flucht. Die Hexe hatte das Rennen gegen den Zorn GO-LLAHS gewonnen. Doch Jo-Hammad widerstand dem Impuls, die Augen in Erwartung der tödlichen Folgen fest zusammenzupressen. Zu faszinierend war das, was sich ihm am Fernrohr bot.

„Das Gebirge“, kommentierte die Hexe hinter seinem Rücken überraschend sachlich. „Eine Kette von tausend Meter hohen Bergen.“

„Das kann nicht sein“, protestierte Jo-Hammad erregt. „Die Welt ist ganz eben! Niemand von uns hat so etwas je gesehen!“

„Weil es hinter eurem Horizont liegt. Doch von hier oben aus erweitert sich der Blick. Selbst ohne Teleskop. Schau!“

Tatsächlich! Einmal mit der Silhouette vertraut, erkannte Jo-Hammad die Bergkette dort hinten selbst mit unbewaffnetem Auge. Und … war es ein Sehfehler, oder wölbte der gesamte Horizont sich leicht? Unwillkürlich machte er das Zeichen GO-LLAHS.

„Du siehst richtig: Er krümmt sich“, schien die Hexe seine Gedanken zu lesen. „Im Ganzen rundet er sich zu einem perfekten Kreis. Denn wir alle leben auf einer Kugel! Auf der Erdkugel.“

Jo-Hammad verstand nicht warum, doch die Hexe ließ ihn entkommen. Ohne einen Kampf. Ohne ihn in Staub zu verwandeln. Als er an ihr vorbei zur Treppe stürzte, sah sie nicht einmal wie eine Hexe aus – eher wie eine gelehrte Frau, wenn es so etwas hätte geben können. Ob GO-LLAH doch noch Pläne mit ihm hatte? Zweifelsohne sollte er seinem Lehrer berichten, was er gesehen hatte!

Für Sekunden sah der Meister aus, als ob er Jo-Hammad mit dem Heiligen Dolch den Kopf vom Rumpf trennen wollte. Wieder war sich  der Junge sicher, für seinen Übermut sterben zu müssen. Aber gerade noch besann sich sein Lehrer. Eine Idee war ihm gekommen: „Du wirst noch einmal dorthin gehen, an den Ort, an den man nicht geht!“

Dieses Mal brauchte Jo-Hammad nicht tief geduckt zu laufen. Er war im Auftrag des Meisters unterwegs. Bei der Hexe angekommen, empfand er keine Angst, denn die Frage, die er ihr zur stellen hatte, kam vom weisen Meister, und sie war GO-LLAH gefällig:

„Wäre die Welt eine Kugel ohne Ränder, wie könnte dann die Sonne ihre Bahn vom einen Rand der Welt zum anderen ziehen?“

Anstelle einer Antwort verwies ihn die Hexe wieder auf das Fernrohr, das ihm die Erdkrümmung vor Augen geführt hatte. Jo-Hammad wusste nicht, wie sie es anstellte, aber als er hindurchblickte, schien sich der eben noch taghelle Himmel ganz und gar zu verdunkeln, das Fenster in Luft aufzulösen und jeder Maßstab, ja selbst das Zeitmaß verloren zugehen. Denn er sah die Sonne als feurigen Ball in der Schwärze des Alls, so groß wie ein Kürbis. Um sie herum kreisten in einem gemächlichen Reigen acht kleinere und größere Bälle.

Der dritte von ihnen war nur erbsengroß, aber leuchtend blau. Erst beschien die Sonne seine linke Hälfte, dann, als er auf der anderen Seite angekommen war, seine rechte. Unterdessen wirbelte die blaue Erbse hunderte Male um die eigene Achse. Das sei die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne, denn so und nicht umgekehrt verlaufe die Bewegung, erklärte die Hexe aus dem Hintergrund, während sich der Junge ein weiteres Mal sattsah.

„Ein Jahr“, erläuterte sie die große Rotation, und „365 Tage“ die kleine.

Hatte Jo-Hammad das alles gerade wirklich durch dieses kleine Metallrohr gesehen? Oder war er einem Trugbild der Hexe zum Opfer gefallen? Wie konnte er auf der Erde stehen und sie zugleich wie von weither am Sternenhimmel kreisen sehen, wobei er auch noch in eine winzige Sonne blickte, die den Mittelpunkt des ganzen Panoramas zu bilden schien?

„All das kannst du wissen“, bot ihm die Hexe geheimnisvoll an.

„Aber all das kann ich nicht glauben“, widersprach Jo-Hammad nervös und machte zum Selbstschutz das Zeichen GO-LLAHS. Doch er sah sich ein weiteres Mal in der Pflicht, dem Meister von der Himmelsmechanik der Hexe im Turm zu berichten.

„Sie behauptet also tatsächlich, dass sich die Erde zusammen mit all diesen angeblichen Planetenkugeln um die Sonne dreht, die sie alle wärmt?“, grollte der Meister, doch diesmal schien Jo-Hammad ein wenig Angst mitzuschwingen, dass etwas daran sein könnte. „Warum sollte GO-LLAH dann nur unsere Erde mit Meeren und Fischen und Waldtieren und Feldfrüchten und als Krönung mit uns Menschen gesegnet haben? Warum ist Leben nur hier und nirgendwo sonst am weiten Sternenhimmel? Warum hat der Große Gleichmacher nur uns auserwählt? Frag sie das alles!“

Was Jo-Hammad bei seinem nächsten Besuch im Turm durch das Messingrohr erblickte, überwältigte ihn vollends.

Sonnen ohne Zahl, um die Planeten jeder Größe kreisten, sandten in den Weiten des Alls ihre wärmenden Strahlen aus. Waren diese Welten ihrem jeweiligen Stern nah genug, dass Wasser nicht zu Eis erstarrte, aber weit genug entfernt, dass es nicht vor Hitze verkochte, dann hatten sie häufig Meere aus flüssigem Wasser – ganz ähnlich wie auf der Erde.

„Und wo Wasser ist, ist auch Leben“, belehrte die Hexe Jo-Hammad. Dem ließ sich schwer widersprechen, fand der Junge und vergaß ganz, das Zeichen GO-LLAHS zu machen.

Es gab wolkige Planeten und wolkenlose, über und über mit Wäldern bedeckte und Wüstenwelten, solche mit Eiskappen an den Polen und solche, die ganz und gar von schneeweißem Eis bedeckt waren. Nicht selten waren es sogar die Monde der Planeten, die ihrerseits wie kleine Paradiese funkelten.

„Das Leben findet immer einen Weg und eine Form“, erklärte ihm die weise alte Frau, die er bei sich nicht länger Hexe nannte. Sie war jetzt die Forscherin. So hatte sie selbst ihre Tätigkeit im Turm beschrieben.

„Aber wie beginnt es denn überhaupt?“, fragte der Junge.

Die Forscherin zeigte ihm durch das Fernrohr felsige Brocken, die ziellos durchs All trudelten, bis ein noch unbelebter Planet sie anzog und die Felsbrocken feurig vom Himmel stürzen ließ. Mit dem Feuer aber kam auch das Wasser, das die Weltraum-Felsen als eisigen Bestandteil in sich trugen. Beim Einschlag verdampfte es und sorgte für Wolken auf den getroffenen Welten, die irgendwann als Regen niedergingen und das Land mit dem Virus des Lebens befruchteten. Dann, während Jahrhunderttausende wie Minuten vorüberzogen, wuchsen Lebensformen heran und vergingen, wurden komplexer und intelligenter, erschufen Neues, vermehrten sich und gingen zugrunde.

„Willst du bis zum Ursprung all dessen vordringen?“, fragte schließlich die alte Frau.

„Ja, ich will wissen, wo GO-LLAH wohnt!“, rief Jo-Hammad begeistert.

Und das Fernrohr der Forscherin zeigte ihm die Tiefe des Alls, immer weiter hinaus in den Raum, immer weiter zurück in der Zeit. Sein Blick durchmaß Jahrmilliarden, erreichte das Zeitalter der ersten Sterne – und zuletzt eine große Dunkelheit, die auf einen einzigen, winzigen Punkt hinauslief.

„Das ist alles“, erklärte ihm die Forscherin. „Weiter können wir nicht vordringen mit unserem Verstand. Das ist der Endpunkt unseres Wissens.“

„Aber ich will jetzt restlos alles überblicken, alles durchschauen!“

„Der Rest liegt hinter dem Raum, jenseits der Zeit. Da hat das Reich des Glaubens seinen Platz, die Domäne deines Meisters. Frag ihn diesmal von mir etwas: Wollen wir die Grenze zwischen Wissen und Glauben zukünftig so ziehen, in Frieden, für immer?“

Als Jo-Hammad am übernächsten Tag wie jeden Morgen seinen Kopf aus dem Wohnloch streckte und sich zum Schulhaus aufmachte, fiel ihm die Veränderung schon von weitem auf. Auf der nördlichen Seite klaffte ein fenstergroßes Loch im künstlichen Hügel. Ein kleines Häufchen Schutt lag davor. Das erste Tageslicht drang ins Haus.

Doch der schwere Eisenhammer, der dies bewerkstelligt hatte, war noch immer in Gebrauch. Ein helles Klirren und Splittern ertönte in kurzen Abständen von der Kuppe des Schulhaushügels. Dort oben sah Jo-Hammad die Silhouette eines kräftigen Mannes, der den langstieligen Hammer in weit ausgreifenden Bögen wie einen Golfschläger schwang.

Es war der Meister. Scherbe um Scherbe zermalmte er die Sperren aus Glas auf dem Gebäude. Zuletzt, als Jo-Hammad schon ganz nah war, richtete er sich auf, legte das Werkzeug beiseite und winkte den Jungen zu sich heran.

Was – sollte er etwa auf die Kuppe steigen? Aber er würde einen Schatten über die Ebene werfen! War der Meister irre geworden über der Frage der Forscherin, die Jo-Hammad ihm bei seiner Rückkehr vom Turm übermittelt hatte? Zögernd begann der Junge, den Hügel des Schulhauses zu beschreiten. Bald war er oben. In der noch tief stehenden Morgensonne warf er einen fast so langen Schatten wie der Meister selbst, weit über das Schulhaus hinaus nach Westen. Er bemühte sich, nicht dorthin zu blicken.

„Ich habe lange nachgedacht“, begrüßte ihn der Meister.

„Über die letzte Frage?“, mutmaßte Jo-Hammad hoffnungsvoll.

Der Meister nickte stumm.

„Habt Ihr deshalb den Ausblick zum Turm hin geöffnet?“

Der Meister nickte erneut. Freude ergriff Jo-Hammad. Die Vorstellung, dass der Meister seine Weisheit mit dem erstaunlichen Wissen der Forscherin vereinigt hatte, beglückte ihn.

„Und habt Ihr deshalb auch das Besteigen des Schulhauses ermöglicht?“

Zum dritten Mal nickte der Meister. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass GO-LLAH uns Menschen auf die nächste Stufe heben will. Wir sollen mehr erkennen als zuvor.“

Das verstärkte das Jo-Hammads Glücksgefühl noch mehr. Wie schön es war, dass Glauben und Wissen sich nun ergänzten!

„Schau nach Norden!“, wies der Meister ihn an. „Was siehst du?“

Jo-Hammad blickte in die befohlene Richtung. Dann blinzelte er. Dort fehlte etwas! Der Turm war … eingestürzt! Seine Trümmer lagen auf einem staubigen Haufen.

„Man muss nur wissen, wo man den Hammer ansetzen muss“, erklärte der Meister. „Trifft man die tragenden Steine, geht es ganz schnell. Die Hexe hat es nicht überlebt.“

„Aber“, protestierte Jo-Hammad kläglich, während Tränen aus seinen Augen stürzten, „GO-LLAH wollte uns lehren, mehr zu sehen! Ihr habt es selbst gesagt!“

„So ist es“, sagte der Meister mit ruhiger Stimme. „Und nun, wo wir auf höherer Warte stehen: Dort hinten liegt der Horizont – wie erscheint er dir?“

Jo-Hammad musste schlucken. „Eine gerade Linie, aber …“

„Eine gerade Linie, du sagst es. Nicht anders als vom Boden aus. Die Hexe hat uns geschickt zu täuschen versucht. Aber GO-LLAH, der Große Gleichmacher, der die Erde so perfekt geebnet hat, verurteilte ihren Turm der Lügen zum Einsturz! Ab heute können es alle mit eigenen Augen sehen – vom Dach des Schulhauses ebenso wie aus seinem Fenster.“

Und mit diesen Worten nahm der Meister Jo-Hammad mit sich, hinunter vom Dach und in die Schule hinein. Sie war nicht mehr düster und verschlossen wie zuvor. Zum ersten Mal fiel an diesem Morgen Licht durch das eben eröffnete Fenster. Das Licht eines neuen, erleuchteten Zeitalters.


 

(c) Oliver Driesen 2018, kein Reproduktion ohne schriftliche Genehmigung