Wenn Sie dachten, Poesie könne nicht die Welt bewegen, dann überdenken Sie das noch einmal: Max Ehrmanns fast hundert Jahre altes Gedicht „Desiderata“ hat im Internet-Zeitalter Millionen Leser berührt. Wie alle Lyrik auf höchstem Niveau stellt es Resonanz her – mit Menschen, mit dem Leben und dem Göttlichen.

Zu den Momenten, die TWASBO-Leser am meisten fürchten, gehört die Erkenntnis: Oh nein, er hat wieder was mit Lyrik veröffentlicht! Der Super-GAU ist in dem Fall ein eigenes Gedicht, aber übel genug auch, wenn es um anderer Leute Poesie geht. Da kann ich noch so leidenschaftlich erklären, dass das Sicheinlassen auf Dichtung und ihre besondere Sprache eine wichtige Antenne der Wahrnehmung des Universums ist, und deshalb einer der drei Grundpfeiler dieses Magazins … es ist alles in den Wind gesprochen.

Nicht, dass mich das in meinem Alter noch verunsichern oder von der Mission einer ganzheitlichen Geistes- und Herzensbildung meines Publikums abbringen könnte. Und deshalb schnallen Sie sich bitte an: Dies ist wieder solch ein Moment.

Sie glauben, Lyrik habe keinen Einfluss auf die breite Masse, sage normalen Menschen nichts, sei nur was für weltfremde, komische Vögel wie mich? Ihnen steht eine Offenbarung bevor. Und dabei war das oben in einer YouTube-Version wiedergegebene Gedicht „Desiderata“ des Deutsch-Amerikaners Max Ehrmann zu Lebzeiten des Dichters (1872-1945) genau das, was Sie schon vermuteten: ein weithin unbekannter Flop. Aber dazu später mehr.

Jetzt hören und/oder lesen Sie „Desiderata“ erst einmal in Ruhe. Sorry, dass ich mich hier auf das amerikanische Original beschränke, denn die Übertragungen ins Deutsche sind – wieder einmal – erschütternd schwach. Dabei hätte das Übersetzen einigermaßen leichtfallen sollen, da es sich um ein Prosagedicht handelt. Es muss also nicht einmal ein schwieriges Versmaß eingehalten und kein einziger Reim gefunden werden, weil es im ganzen Gedicht keinen gibt. Wenn sie suchen, finden Sie auf YouTube auch deutschsprachige Versionen, aber Sie wurden gewarnt.

Viele Interpreten glauben offenbar, so eine geballte Dosis Lebensweisheit müsse mit ganz viel Schmalz angerichtet werden. Bullshit!

„Desiderata“ bezieht seinen Titel aus dem Lateinischen: Begehrtes bzw. Begehrenswertes. Es geht also um das, wonach man im Leben „trachten“ soll, wie es altmodisch hieß. Das, was sich anzustreben oder zu suchen lohnt. Und es wird allgemein als ein „inspirierendes“ Gedicht besonders für schwierige Lebenslagen verkauft. Denn dies ist der Text eines Mannes, der 55 Jahre alt war, als er ihn 1927 schrieb. Also vor fast einem Jahrhundert. Der Dichter hatte somit bereits ein beachtliches Stück Leben gelebt; er hatte einiges an Erfahrung und Weisheit zum Thema an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Daraus ergibt sich im heutigen audiovisuellen Zeitalter offenbar automatisch ein Problem: Es sind Dutzende YouTube-Versionen im Umlauf, die mit unerträglich kitschiger Musik und weichgezeichneten Bildern von wogenden Kornfeldern und Sonnenuntergängen unterlegt sind.

Warum das so sein muss, ist mir nicht ganz klar, aber viele Interpreten glauben offenbar, eine geballte Dosis Lebensweisheit müsse mit ganz viel Schmalz angerichtet werden. Bullshit! Die Version oben ist dabei noch eine der erträglichsten. Mit Abstrichen sogar hinsichtlich der Rezitation, also der Vortragsweise und Persönlichkeit des Rezitators. Da gibt es schreckliche, wirklich schreckliche Amateuraufnahmen – wobei sich leider schnell zeigt, dass zur Würde und Güte des Vorgetragenen weder die Stimmen junger gelangweilter Männer noch insbesondere affektierter Frauen mit TikTok-Appeal passen.

Aber auch jede Menge prominente Schauspieler haben sich am Vortrag von „Desiderata“ versucht. Einer der besseren unter ihnen war überraschenderweise Spock. Ja genau, der spitzohrige Offizier des Raumschiffs Enterprise:

Leider hat Spock alias Leonard Nimoy bei dieser sehr frühen Aufnahme (ich vermute die Siebzigerjahre) das Wort „dark“ vor „imaginings“ vergessen, was den Sinn des betreffenden Verses leider sehr verkürzt und verzerrt. Aber selbst manche gedruckte Textversion enthält diese Auslassung. Jahrzehnte später, kurz vor seinem Tod, las Nimoy das Gedicht nochmals vor, da es für ihn „immer noch Gültigkeit und Bedeutung“ habe. Und trotzdem kam das Wörtchen „dark“ schon wieder nicht vor – wo doch das ganze Weltall, das natürliche Habitat des Vulkaniers, dunkel ist. Ich versteh’s nicht. Aber ich will ja gar nicht von den Problemen mit diesem Stück Dichtung reden.

Sondern was mich umgehauen hat, waren die User-Kommentare. Tausende und Abertausende sind unter den Videos aufgereiht. Männer und Frauen jeden Alters, jeder Sprache und Kultur. Und alle beschreiben sie mit unterschiedlichen Worten dasselbe: Dieses Gedicht habe ihr Leben geprägt, verändert, Trost in der Krise gespendet, ihnen ein Ziel gegeben, neue Hoffnung gemacht, sie stets begleitet. Es ist ein Phänomen! Hier, bitte sehr, nur ein paar Beispiele im englischsprachigen Original, willkürlich ausgeschnitten aus diesem kollektiven Bewusstseinstrom der von „Desiderata“ Berührten:

„I gave my son this poem when he graduated. He passed away 12 years ago he was 27, I would like to think he would read this often for he was such a kind and gentle soul. I miss you Jimmy“

„Today I have played this poem to my class. They all went silent. I asked them why, they said, they had a lot to reflect on from the poem. After the lessons, some of them followed me and shared their thoughts with me. I’m so glad that it inspired them.“

„I used to listen to the song Deserata, sung by Les Crane, every day to keep my sanity when I lost my daughter, mother, father and then my son in 1981, 1982, 1982, 1983… this song kept my sanity.“

„I have had this on a plaque since 1960’s and I am 71 yrs old. Have striven to this my whole life. I have left a special note on the back for my grown children & grandchildren. Thank you & blessings“

„I am having some difficult days with school pressure, mom’s constant nagging and lectures that makes me sad about myself but seeing this has really made me feel much better. Thank you Desiderata.“

Und immer, immer so weiter – Kurzmeldungen und Blitzlichter von verstorbenen Liebsten, von Lebenskrisen, von gefundenen Soulmates, vom Andenken an Väter und Großmütter, vom Hinfallen und Wiederaufstehen, von der Suche nach Sinn, Gott und Orientierung. Und Sie waren der Meinung, Lyrik berühre die Menschen nicht? Lesen Sie all diese Zeugnisse, dann denken Sie neu nach! Denn dies ist das Phänomen der Power of Poetry: Normale Menschen – nicht Prominente, Mächtige, Privilegierte – erinnern „Desiderata“ als Poster im Jugendzimmer, in samtgebundenen Poesiealben, bei Lesungen, auf laminierten Zetteln hinter den Büchern im Regal, als gerahmtes Bild zum Highschool-Abschluss.

Diese Menschen fühlen etwas, wenn das Gedicht ins Spiel kommt. Tränen laufen ihnen über die Wangen. Lang vergessene Bilder stehen ihnen vor Augen. Namen, die verloschen sind, erwachen für sie wieder zum Leben. Eine seelische Resonanz entsteht, Resonanz mit Ehrmann, mit den eigenen Vorfahren, aber auch mit unbekannten Zeitgenossen auf der ganzen Welt. Kennen Sie einen Text heutiger Autoren, der das bewirkt? Die Rede einer … hust … deutschen Politikerin oder Literaturpreisträgerin, die eine solche Wirkung gehabt hätte? Wüssten Sie einen Act aus dem Milliarden-Dollar-Entertainment-Zirkus, der so etwas kann?

Wie hat Max Ehrmann das geschafft, lautet die naheliegende Frage. Der Witz ist: Er selbst hätte wohl am allerwenigsten damit gerechnet, diesen Flächenbrand auszulösen. Als der Sohn einer deutschen Einwandererfamilie in Indiana, der es zur Harvard Law School schaffte, versuchte er sich zunächst an einer Anwaltskarriere, doch vergebens. Dann stieg er ins elterliche Unternehmen ein, ohne Erfolg. Und erst mit 40 Jahren fand er seine Berufung: als Autor und Journalist, als Dichter. Dennoch starb er 1945, ohne dass sein Tod große Wellen in den Feuilletons schlug.

Dann aber kamen die Sechzigerjahre, der Vietnamkrieg und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Irgendjemand publizierte das Gedicht mit dem lateinischen Titel irrtümlich in einer Anthologie als das Werk eines anonymen Autors aus dem 16. Jahrhundert. Oh, diese Weisheit der Menschen aus dem … äh … Altertum? Mittelalter? Whatever. Prompt hatte „Desiderata“ den Qualitätsstempel eines griechischen Philosophen, französischen Mönchs oder englischen Shakespeare-Epigonen. Plötzlich galt dieses Gedicht in den USA als zeitlose Botschaft der Hoffnung, des Friedens und der Inspiration. Erst der Mythos einer vergangenen Epoche sorgte dafür, dass dieser Text unters friedensbewegte Volk kam. Ehrmanns Nachfahren mussten regelrecht darum kämpfen, dass sein Name wieder rechtmäßig unter den Text gedruckt wurde.

Für einen weiteren Publicity-Stunt sorgte im Jahr 1971 der amerikanische Radio- und TV-Talkmaster Les Crane, dessen mit psychedelisch angehauchtem Discopop unterlegte Vertonung des Gedichts kurzzeitig die Nr. 8 in den US-Charts erreichte:

Heute, fast hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung, hat das Internet zu einer Verbreitung des Gedichts „Desiderata“ beigetragen, von der Ehrmann sich noch weniger hätte träumen lassen. Man kann etwa einer virtuellen Lesung durch den Dichter selbst zusehen, wenn auch mit der Stimme eines anderen. Man kann dem chinesischen Star-Schauspieler Ying Ruocheng beim Vortrag eines Textfragments lauschen, der rhetorisch alle anderen Interpretationen in den Schatten stellt – und frustriert zur Kenntnis nehmen, dass er bloß für einen Werbespot der Schweizer Großbank UBS tätig wurde. Und wenn man den Nerv hat, kann man sogar einen Clip anschauen, in dem Gedicht und Bildmontage zur Verherrlichung des ukrainischen Präsidentendarstellers Wolodymyr Selenskyj dienen.

Die ästhetisch und konzeptionell anspruchsvollste Interpretation, die ich finden konnte, kommt aber aus Asien. In der philippinischen Millionenstadt Caloocan haben sich sprach-, hör- und sehbehinderte Menschen zum Speech Choir zusammengetan. Mit der künstlerischen Verfilmung ihres Vortrags von „Desiderata“ (Beginn des eigentlichen Gedichts bei 2’23“) lässt sich die Erkundung dieses weltverbindenden Phänomens gut beschließen. Ebenso wie Max Ehrmann hat der Speech Chor eine einfache Botschaft an die Welt: „No matter what the world throws at you, be true to yourself, be cheerful and strive to be happy.“