Aschi und Potze sind Pfandflaschensammler – dummerweise im selben Revier. Da trägt es nicht zur Entspannung  bei, dass Aschi behauptet, aus besseren Kreisen zu stammen. Was als komischer Klassenkampf begann, wird bald zum brutalen Wettstreit.

Da war er wieder, der gefürchtete Aufkleber: „Pfand gehört daneben!“ Er prangte am orangefarbenen Mülleimer der Berliner Stadtreinigung, und, na klar: Daneben stand keine einzige Pfandflasche. Das Leergut hatte bestimmt schon so eine Mutti mitgenommen, eine dieser zugezogenen Schwäbinnen aus den Altbau-Eigentumswohnungen in Prenzlauer Berg. Sie trugen ihre Beute mit spitzen Fingern zum EDEKA schräg gegenüber und strichen mit schwäbischer Freude die paar Cent retour ein.

„Pfand gehört daneben!“ Das hatten sie sich so schön ausgedacht, die Weltverbesserer von irgendeiner Werbeagentur. Aber ohne Aufkleber wäre hier gestern Nacht kein Trinker dazu verleitet worden, seine Flaschen in bester Absicht hübsch griffbereit „daneben“ zu platzieren. Im schmutzigen Eimer nach den Flaschen zu wühlen, hätte die Berliner Schwäbin sich nie die Blöße gegeben.

Und dann hätte Aschi den Lohn eingesackt, der ihm zustand.

Düsterer Stimmung versenkte Aschi, der Flaschensammler, den Arm versuchsweise im ovalen Loch des Mülleimers. Er nämlich, das durften die Muttis ruhig sehen, war sich nicht zu schade! Er ging auch dahin, wo das Licht nicht hin schien. Und als Profi trug er einen dicken Gummihandschuh, der bis zum Ellbogen reichte.

Nichts. Kein Pfandglas, überhaupt kein Glas. Morgen würde er auf seiner Tour früher hier vorbeikommen müssen, vor Ladenöffnung. Vor den Muttis.

 „Schwäbische Elstern! Kommen hierher und nehmen uns die Arbeit weg!“

Was? Wer quatschte da? Wer nahm ihm die Worte aus dem Mund? Aschi zog den Arm aus dem Eimer und hob den Blick. Aus dem Nichts war noch jemand mit Arbeitshandschuh und IKEA-XXL-Tragetasche aufgetaucht. Nicht gut. Definitiv kein guter Morgenheute.

„Tach auch!“, entbot ihm der Konkurrent. „Hab dich hier um die Häuser ziehen sehn. Du bist Aschi, oder? Hat mir der Penner auf der Bank am Späti verraten. Machen uns fertig, die Elstern, wa? Allet bloß wegen die Werbeheinis mit ihrer Aktion da, Pfand daneben. Halbierte Umsätze seitdem, würd ick sagen. Übrigens: Potze heiß ick.“

Der Störenfried streckte ihm die behandschuhte Rechte entgegen. Für einen Sekundenbruchteil hatte Aschi das Gefühl, in einenSpiegel zu schauen. Der andere hatte dichtes, mit grauen Strähnen durchsetztes Haar wie er selbst. Eine sonnengegerbte, aber nicht von Alkohol aufgedunsene Gesichtshaut, gleich ihm. Einen kurz getrimmten Vollbart (er hingegen trug Kinnbart, jedoch ebenfalls kurz). Ungefähr dieselbe Figur, vielleicht eine Spur stämmiger. Und wie er selbst hielt der Eindringling mit seiner regenfesten, aber nicht abgerissenen Kleidung auf Distanz zu den obdachlosen Trinkern.

Andererseits: Potze? Potze war ganz klar ein Pennername.

Aschi machte eine kleine Staatsaktion daraus, wortlos seinen Gummihandschuh abzustreifen. Er hatte das Gefühl, sich hier deutlich abgrenzen zu müssen. Dannerst schlug er ein, die nackte Hand demonstrativ in den fleckigen Handschuh des anderen schiebend.

„Wolfgang Freiherr von Aschersleben. Von minderen Zeitgenossen ohne mein Einverständnis Aschi gerufen. Sehr erfreut!“

Sein Gegenüber brauchte eine Sekunde, um das zu verarbeiten. Dann brach er in ein geierndes Gelächter aus.

„Freiherr? Freiherr von? Nee, wa? Ein Blaublütiger! Dukatenkacker! Ick werd nicht mehr! Da scheiß doch rein! Da muss man erst mal drauf kommen! Tach auch, Durchlaucht!“

Dabei entwand sich der, der sich Potze nannte, mit Schwung seinem Griff, riss sich dabei selbst den Arbeitshandschuh von den Fingern, wedelte damit herum und versuchte unbeholfen, das ganze in einen übertrieben beflissenen Diener münden zu lassen: „Und ick bin Graf Potz zu Blitz!“

Lachtränen kullerten ihm über die Wange.

„Wobei Sie als Graf, mithin als der höher Geborene, einem Freiherrn gegenüber nicht zu dienern hätten“, korrigierte ihn Aschi, mit keineswegs amüsiertem Blick und einer sorgfältig dosierten Prise Tadel in der Stimme.

Der Pfandflaschen-Graf war so verdattert, dass der Tränenfluss schlagartig versiegte. Nur der Mund mitden nikotingelben Zähnen blieb noch in Lachstellung eingefroren.

„Zudem“, legte sein Peiniger nach, „ist die Anrede Durchlaucht in Preußen, wie Sie zweifellos wissen, bereits durch das Gesetz über die Aufhebung der Standesvorrechte des Adels aus dem Jahr 1920 obsolet geworden.“

Das verschlug Potze vollends die Sprache. Sekundenlang konnte er Aschi nur entgeistert anstarren. Schließlich murmelte er: „Aber … der Typ auf der Bank … Aschi … so heißt du doch, ohne Scheiß jetzt?“

„Mein lieber Graf Potz, es würde hier und jetzt sicher zu weit führen, Ihnen die Geschichte meines Namens und meines Hauses zu unterbreiten. Einigen wir uns doch für den Moment auf die vergleichsweise unkomplizierte Anrede ‚Herr Aschersleben’. Und mit wem – Spaß beiseite – habe ich das Vergnügen?“

Jetzt war es aber mal gut mit dem Brimborium, fand Potze, der endlich sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Spaß beiseite? Kannst du haben, Wichtigtuer.

„Ey, Alter, ganz kurz mal, ja? War witzig, deine Nummer. Aber so wie ich das sehe, bist du Aschi. Und icke, ick bin Potze. Und Aschi und Potze, die sammeln beide Flaschen. Wir sind aus einem Holz geschnitzt, da beißt die Maus kein’ Faden ab! Eilmeldung für dich: Freiherren und so Dukatenkacker haben das nicht nötig. Du schon, du stinkst nämlich genauso aus dem Maul wie ich. Und noch eine Eilmeldung: Das hier ist von jetzt an mein Revier. Also verfatzda! Mit sofortiger Wirkung, Durchlaucht!“

Mittlerweile war Potze sehr nah an Aschi herangerückt. Ihre Gesichter trennten kaum noch zehn Zentimeter.

„Die Anrede für einen Freiherrn lautet Hochwohlgeboren!“ zischte Aschi, mühsam die Fassung bewahrend. „So viel Etikette muss sein, wenn Sie unbedingt auf meinem Titel insistieren wollen, Herr Graf!“

„Alter, pass uff: Ick schmeiß dir in’n Container!“ Der rote Nebel des Jähzorns ließ Potze immer mehr ins Berlinerische abgleiten.

„Gut, ich habe verstanden: Sie wählen im Zweifel den Weg der rohen Gewalt statt der Aussprache unter Ehrenmännern – oder wenigstens einer ehrenhaften Satisfaktion. Für heute ziehe ich mich zurück. Aber ich warne Sie, Herr Graf: Ich werde deswegen nicht meine morgendlichen Gepflogenheiten ändern und auch weiterhin hier meine Runden drehen! Wir werden ja sehen, wessen Kinderstube sich letztlich durchsetzen wird!“

Allerdings, wenn er ehrlich war: Das Tempo, mit dem Aschi die Beine in die Hand nahm, passte nicht recht zu seinen wohlgesetzten Worten, von denen Potze die letzten nur noch von weitem hörte.

Der nächste Tag schien die Neuaufteilung der Flaschensammler-Reviere auf der ganzen Linie zu bestätigen. Von Aschi keine Spur. Potze gratulierte sich dazu, ein gutes Stück Prenzlberg im Handstreich erobert zu haben. „Dein Typ da, dieser Aschi“, berichtete er dem Bank-Penner am Kiosk bei der ersten Wegbier-Pause triumphierend, „der hat nicht alle Latten am Zaun: Macht der jestern kackfrech einen auf ‚Freiherr von Aschersleben’! Na, den ham’wa einjenordet, den feinen Pinkel.“

„Aba der Aschi, der hatte schon sone Aurora“, leierte der Trinker, der bereits einige Flaschen Sternburg geleert und an seinen neuen Pfand-Paten Potze abgeführt hatte. „Sone Aurora von wat Bedeutsames, so jebildet irjntwie. Du dajejnüba hasses ja nich so mit Ho… Ho… Hochdeutsch, da gehsssu nichma alssss Bunnsss-Präsedent durch!“

„Wat?“, fuhr Potze hoch. „Ick, kein Hochdeutsch? Hier, ick jeb’da Hochdeutsch: ‚Ach, Jnädigste, kommen se mir doch morjn ma uff mein Schloss Schreckenstein besuchn, da fiedeln wa’n paar Schampanja wech und machen’s uns jemütlich uff’n Kanapee!“

„Nich schlech!“, musste der Trinker einräumen. „Jeht doch, Exslllenz! Siehsssja irjntwie sojar uss wie Freiherr Aschi. Der neue Freiherr Aschi der Ssswote! Er lebe hochhochhoch!“

Es war der übernächste Morgen, der die Machtprobe brachte. Potze wühlte gerade in einem privaten Wertstoffcontainer, der meist nicht abgeschlossen wurde und immer gut war für ein paar achtlos hineingeworfene PET-Wasserflaschen. Sie waren die Rolls-Royce des Leerguts: federleicht zu tragen, vier Stück ein voller Euro Pfand. Der Container stand im toten Winkel eines Garagenhofs, den meisten Blicken entzogen, solange keine Autos ein- oder ausfuhren. Potze mit seinem Gespür für ergiebige Fanggründe hatte ihn gleich auf seiner ersten Tour im neuen Revier entdeckt.

Da plötzlich bemerkte er Schritte hinter sich.

„Sie werden entschuldigen, Herr Graf, aber so haben wir nicht gewettet!“

Potze wirbelte herum.

Tatsächlich: Der Unterlegene, dieser Scheinriese, traute sich noch hierher! Und was war das da, das er da halb drohend in der Hand hielt? Ein Spazierstock aus Bambus mit Knauf aus Elfenbein? Aber das war ja lächerlich!

„Alter! Wat hab ick dir jesacht? Verfatzda, hab ick dir jesacht! Ick schmeißda in’n Container, hab ick dir jesacht!“

Aber Aschi verfatzte sich nicht. Sein Fehler. Was musste er zu allem Überfluss auch noch mit dem blöden Stöckchen in der Gegend rumfuchteln? Wusch! Um ein Haar hätte die Messingspitze Potzes Ohr rasiert. Jetzt reichte es aber! Mit der Wucht eines Kirmesboxers holte der Angegriffene aus. Die saftige Schelle erwischte Aschi genau an der linken Schläfe. Durch den Schwung des Hiebes krachte sein Körper gegen die Kunststoffwand des Wertstoffbehälters, wobei der Stab mit dem schön geschnitzten Elfenbein-Elefantenknauf durch die Luft wirbelte. Und noch bevor das kleine Kunstwerk auf dem Pflaster landete, schlug dort schon ihr Besitzer auf – mit dem Hinterkopf. Ein hässliches, ploppendes Geräusch.

Während Aschis Gesicht mehr Überraschung als Schmerz ausdrückte, begann sich unter ihm eine dunkle Lache auszubreiten. Dann wurde der Ausdruck seiner Augen stumpf. Aschis Wangen hatten sich aschfahl verfärbt, was seinem Namen ebenso gerecht wurde wie dem Anlass.

„Alter? Ey?“

Da der Mann am Boden keinen Piep mehr machte, verstand Potze, was die Stunde geschlagen hatte: Hier war nichts mehr zu machen. Der angebliche Freiherr, diese Luftnummer! Ein Schlag, und schon machte der schlapp. So ein verdammter Mist! So ein Idiot, keine Reflexe und keine Abroll-Technik, aber andere Leute attackieren wollen!

Sich in alle Richtungen vergewissernd, dass niemand den Vorfall beobachtet hatte, bückte sich Potze und griff in die Jacke des Toten. Etwa vorhandenes Geld brauchte der ja nun nicht mehr. Er zog eine schmale Brieftasche heraus. Außerdem nahm er noch den auffälligen Gehstock an sich und verstaute ihn in seinem Plastiksack. Dann machte er, dass er Land gewann.

Erst in der S-Bahn, die ihn einfach nur schnell weit weg bringen sollte, öffnete Potze das fremde Ledermäppchen. Ein paar kleine Scheine. Etwas Klimpergeld. Verschiedene Ausweispapiere. Und ein Zeitungsartikel, säuberlich zusammengefaltet, aber so abgegriffen, dass er in Potzes groben Händen fast auseinanderfiel. Der „Tagesspiegel“ vom 5. August 1991.

„… ist der Eigentümer des Gutshauses seit drei Tagen spurlos verschwunden. Freiherr von Aschersleben sei immer schon leicht exzentrisch gewesen, sagte ein Bediensteter des Anwesens, der nicht genannt werden wollte. In letzter Zeit habe sein Dienstherr verstärkt seiner Sehnsucht nach dem ‚einfachen Leben’ unter freiem Himmel Ausdruck verliehen und sei mehrmals nächtelang nicht ins Gut zurückgekehrt. Zum Zeitpunkt seines endgültigen Untertauchens trug der Vermisste …“

Das Archivfoto zeigte einen würdevoll gekleideten Enddreißiger mit dunklem Kinnbart, der sich elegant auf einen dünnen Stab mit Elfenbeinknauf lehnte.

Der Trinker auf der Bank neben dem Spätkauf las keine Zeitungen. Sie waren für ihn fliegende Blätter, die der Wind vorbeitrieb. Manchmal taugten dickere Bündel Altpapier als Schlafunterlage, aber meist drifteten die Schlagzeilen nur mit dem restlichen Müll an der Bank vorbei und verschwanden irgendwann wieder aus seinem Sichtfeld.

Aber diese Doppelseite aus dem „Berliner Kurier“ von gestern war etwas anderes. Ein großes Foto rechts oben fiel dem struppigen Trinker ins Auge. Seit fast vier Wochen hatte er seinen kurzzeitigen neuen Pfand-Paten nicht mehr gesehen, die leeren Sternburgs holten wechselnde Unbekannte ab. Aber da war er plötzlich, da in der Zeitung, eindeutig. Grauer Vollbart, brutales, triumphales Grinsen: Potze. Gestützt auf einen eleganten Gehstock, wie ein Adeliger. Mühsam erschloss sich der ungeübte Leser die Überschrift.

„Verschwundener Freiherr will Landgut zurück“

Darunter folgte ein Kurzbericht über den nach Jahrzehnten wieder aufgetauchten Wolfgang von Aschersleben, der nun sein zwangsversteigertes Anwesen vor Gericht zurückverlangte.

„Wussichsdoch!“, prostete der Mann auf der Bank dem Zeitungsfoto zu. „Du bisss Aschi der Sssweite!“ Ehrfürchtig hob er das Sternburg, um vor der eben gelandeten Schar Tauben einen Toast auszubringen.

„Der neue Freiherr Aschi, er lebe hochhochhoch!“


(c) Oliver Driesen 2018, kein Reproduktion ohne schriftliche Genehmigung

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