Oliver D., von 1985 bis 1987 Zivildienstleistender in einem Düsseldorfer Altersheim, ist jetzt bei der Bundeswehr. Diese überraschende Wendung ging passender Weise mit einem Abschuss los. Abgeschossen hat mich eine Hamburger Rettungswagenbesatzung – mit einem Cocktail aus 25 mg Ketanest, intravenös, 4 mg Dormicum und 15 µg Sufentanil. Zuhause, während ich bewegungsunfähig auf dem neuen Parkettboden im Wohnzimmer lag. Zu dem Zeitpunkt allerdings wusste ich weder Namen noch Dosierungen. Der Einfachheit halber stellte man mir alle zusammen als „das Medikament“ vor.

C. hatte die Maschinerie in Gang gesetzt, den Notruf 112 gewählt, nachdem ich es aus dem Bad – beim Duschen war noch alles prima gewesen – mit ihr als Stütze gerade noch ins Wohnzimmer geschafft hatte und dort bei ansonsten vollem Bewusstsein verkrümmt zusammengesackt war. Akute Iliosakralgelenk-Blockade heißt der Fachbegriff wohl. Für den medizinischen Laien: schneidende Schmerzen im Lendenwirbelbereich, die man keinem wünscht. Die einen in drei Sekunden von 100 auf 0 reduzieren, auf ein Bündel Mensch, das sich nicht mal mehr auf die Seite drehen kann und merkwürdig fremdartige Jammerlaute ausstößt.

Auch C’s massierende Hände helfen diesmal nicht, ebenso wenig der wärmende, mit Getreidekörnern gefüllte Stoffsack aus der Mikrowelle, sonst bewährt gegen kalte Füße und sonstige Zipperlein, nichts, gar nichts hilft. Also Notruf. Ich kann ja nicht ewig so daliegen. Irgendwann werde ich aufs Klo müssen. Und ins Büro.

Jetzt sind sie absurderweise zu sechst, hoch über meinem Kopf, nahe der Zimmerdecke: zwei von der Feuerwehr, first responders, von der 112-Zentrale in Marsch gesetzt, und gleich vier Mann/Frau hoch die RTW-Besatzung, wiederum von den Wehrleuten zwecks Abtransport herantelefoniert. Vor unserem Haus muss es aussehen wie der Wagenpark des Hamburger Katastrophenschutzes zur Sturmflut 1962, schön was zum Gucken für die Nachbarn. Zwölf schwere Arbeitsstiefel auf dem neuen Parkett, auf dem auch eine interessante Menge Schokokrümel der Kinder zu studieren ist.

Nur ein ICE schmerzt mehr

Der jüngere der beiden Feuerwehrmänner hatte schon versucht, mir einen Infusionszugang in die Vene des Handrückens zu legen, war aber an meiner Vene abgerutscht und hatte beim Versuch, ein Blutbad zu verhindern, seinen Daumen gefühlte zehn Minuten mit Nachdruck auf die Einstichstelle gepresst. Den zweiten Versuch hatte ich mit der Bitte abgelehnt, das doch einfach den Notarzt machen zu lassen, der kenne sich doch sicher aus. „Zweiten Versuch hat er verweigert“, fasst der junge Mann es jetzt für die Notärztin noch mal mit etwas anderem Zungenschlag zusammen. Die hat inzwischen selbst – erfolgreich – die Braunüle in die Ellenbeuge meines linken Arms installiert. „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie stark sind Ihre Schmerzen?“ Neun, lüge ich, um nicht zehn zu sagen. Zehn bleibt Menschen vorbehalten, die vom ICE überrollt werden.

Gut, da wird also was in mich reintropfen, aber was ist nun mit Büro? „Wenn wir Ihnen dieses Schmerzmittel geben, müssen wir Sie auch mitnehmen“, sagt eine Stimme, vermutlich die Notärztin. Erst finde ich das zuviel der Fürsorge, aber kaum fließt das Zeug aus dem Tropf in die Vene, beginnt auch schon die Zimmerdecke, sich zu drehen. „Das ist normal, das ist das Medikament“, sagt ein Kopf über mir. „Ist wie ein LSD-Trip, genießen Sie’s!“

Es ist aber nicht, wie ich mir einen LSD-Trip zum Genießen vorstelle. Es ist ein einziger, vollkommen unerwarteter, ansatzloser, beispielloser Höllentrip: einmal Nahtod – und dann doch noch mal zurück. Dabei lag ich gerade noch morgens um halb zehn auf meinem Parkettboden und dachte bloß, verdammt, du kommst zu spät ins Büro wegen dem Scheiß. Sie werden dir eine Spritze in den Hintern geben, wie früher schon einmal der kassenärztliche Bereitschaftsdienst, und dann werden die Schmerzen langsam nachlassen, du wirst dich langsam rochrappeln, noch eine Proberunde zu Fuß durch den Park drehen und dann aufs Fahrrad steigen.

Aber die Decke dreht sich immer schneller. „Kann sein, dass Ihnen übel wird“, sagt eine andere Stimme bestätigend, weshalb nun auch noch der potenzielle Brechreiz ausgeschaltet werden muss. Und dann bekomme ich noch mit, dass sie ernsthaft darüber diskutieren, ob sie mich mit der Drehleiter der Feuerwehr über den Balkon aus dem zweiten Stock runterhieven. Da sei aber die Birke im Weg. Aber die starre Rettungstrage macht im engen Treppenhaus Probleme. Also dann das „Rettungstuch“, das dann auch gleich unter meiner stabilen Seitenlage hindurchgezwängt wird. Ah, noch mehr Schokokrümel, interessant! Meine Hände und Füße sind schweißig und eisig zugleich. „Sie fühlen sich ziemlich kalt an, junger Mann!“ Ja, aber es dreht sich ja auch alles, dreht sich alles, dreht sich, dreht.

Eyes wide shut

Und dann höre ich mich nur noch selber reden, weil um mich herum alles ganz eng wird, immer enger, wie in einem Strudel, aus dem es kein Entkommen gibt. Ob meine Augen geöffnet oder geschlossen sind, kann ich nicht mehr unterscheiden, obwohl es gar nicht finster ist, sondern – verwirrend gemustert, würde ich sagen. Eine Art Brausen hebt an und droht alle Kommunikation unmöglich zu machen, weshalb ich mich laut und ungefragt Bericht erstatten höre über meinen Zustand, immer dasselbe wiederholend, in etwa dies: Ich kann nichts fühlen, kann nichts fühlen, nichts fühlen. Da ist auch gar nichts mehr, kein Parkett, kein Boden, kein Unten, kein Oben. Keine C., keine Kinder, keine Rettungssanitäter.

Meine Sätze werden immer kürzer, die Wörter dafür immer länger, wie ins Gravitationsfeld eines Schwarzen Lochs gesprochen: Mir ist kalt – kaaaalt – kaaaaaaaaaaaaaaaaaalt! Für einen Sekundenbruchteil wird das undefinierbare Muster ersetzt durch etwas anderes, eine massive Struktur aus identischen weißen Kacheln. Das Treppenhaus? Etwas vibriert ganz heftig, aber was, ist unklar. Wo bin ich – woo – wooooo? „Sie sind in einem Rettungswagen!“ Und aus unerklärlichen Gründen: „Bundeswehr“. Ein paar Stimmen lachen über irgend etwas, das wohl ich bin. Aber ich sehe mit offenen Augen nichts Bestimmtes.

Dann kippt wieder alles weg, ist wieder Brausen und Tunnel, ein weißer, gleißender Tunnel. Oh je, der sprichwörtliche weiße, gleißende Tunnel. Etwas Enormes, Endgültiges ist nicht mehr weit entfernt, mutmaßt mein geschundener Orientierungssinn. Zugleich ist mir kalt – kaaaaalt – kaaaaaaaaaaaalt. Eine unsichtbare Mehrzahl von Stimmen diskutiert nun über mich: dass man dringend dies und das mit mir machen müsse, jenes geben, dieses messen, auch das noch spritzen. Es klingt nicht entspannt. Ein Gedankenrest nistet sich ein: Die haben das nicht mehr im Griff, da läuft gewaltig was aus dem Ruder. Das ist also mein Ende, so unangemeldet, so banal. Und keine Zeit für Verabschiedungen. Aus dem Leben gerissen, sagt man wohl. Aber der Morgen hatte doch so friedlich angefangen, aufstehen, duschen … Es kommt mir alles so unangemessen vor. Ich höre noch einmal meine fragende Stimme: Bin ich tot – tooot – tooooot? „Nein, sind Sie nicht“, sagt eine Stimme, die keineswegs erleuchtet klingt, sondern nun wieder aufs Neue amüsiert.

Dann ist nichts, und das bleibt eine unbestimmte Zeit so. Dann komme ich zu mir in einem Zimmer voller Krankenbetten, von denen nur meines belegt ist. Und jemand kommt und erklärt mir, dass es das Bundeswehrkrankenhaus Hamburg-Wandsbek ist. Dort, in der Notaufnahme, war man von meinem derangierten Zustand wenig begeistert. „Wir konnten drei bis vier Stunden nichts mit Ihnen anfangen, so weggetreten waren Sie.“ Mit Kanonen auf Spatzen schießen, nennt man das wohl. Nur war das kein Spatz, der da aufgescheucht wurde, eher das Flügelwesen aus dem alten Meat-Loaf-Song Bat out of Hell: eine Fledermaus aus der Hölle.

Aber, Überraschung: Das Bundeswehrkrankenhaus selbst entpuppt sich als ausgesprochen guter Ort zum Auskurieren einer ISG-Blockade und eines traumatischen Trips. Tag 2, und ich laufe schon wie ein junger Gott am Rollator über die Flure. Außerdem klärt eine der ausgesprochen kompetent wirkenden Ärztinnen für mich geduldig das Mysterium des Alptraum-Cocktails auf. Kurz gefasst: eine übliche präklinische Narkose-Rezeptur im Notarztgepäck, mit dem opioidhaltigen Sufentanil als stärkstem in Deutschland zugelassenem Schmerzkiller.

Dem Ketanest fällt dabei die Aufgabe zu, nicht nur zu betäuben, sondern zugleich einen – wie in meinem Fall – schwächelnden Kreislauf in Schwung zu halten. Allerdings ist es auch dafür aktenkundig, „schlechte Träume“ zu produzieren (ein hübscher Euphemismus aus der Wirkstoff-Datenbank). Die sollen deshalb wiederum durch das Dormicum aus dem Gedächtnis getilgt werden – nur dass es in meinem Fall offenbar nicht angeschlagen hat. Vielleicht letztlich besser so, denn laut Wikipedia kann sein Wirkstoff Midazolam „bereits nach kurzer Anwendung zu psychischer Abhängigkeit führen“. Danke, das genügt.