Vor genau drei Jahren, am 1. August 2021, kam es zum ersten Todesfall bei einer Demonstration von Gegnern der Coronamaßnahmen: Kurz nach seiner Festnahme in Berlin starb ein Mitbegründer der Partei Die Basis. Was geschah damals in der Hauptstadt – und wer war der Mann, der sich als Kunstfigur “El Chancho” neu erschaffen hatte?
Vor laufender Videokamera, eine bronzene Buddhafigur im Bildhintergrund, nimmt ein stattlicher Mann mit kurz getrimmtem, graumelliertem Vollbart Aufstellung. Er trägt eine dunkle Sonnenbrille, ein schwarzes Barett und einen Parka mit militärischem Tarnmuster. Im Stil eines Commandante der kubanischen Guerilla und in perfektem Spanisch beginnt er in dem mittlerweile gelöschten YouTube-Video seine Erklärung vorzutragen, simultangedolmetscht von einem unsichtbaren Sprecher: “Am 29. August 2020 hat der Freiheitsgeist der Deutschen den Revolutionär El Chancho geboren.”
Der Wiedergeborene ist ein Alter Ego, eine bizarre Kunstfigur. Bürgerlich heißt er Sascha Moll, beheimatet nicht in den Bergregionen Lateinamerikas, sondern in einem Dorf bei Zülpich im Rheinland. Er ist zu diesem Zeitpunkt 47 Jahre alt, Vater eines halbwüchsigen Sohnes. Er arbeitet im Schichtdienst in einem Kiosk. Und er betreibt Aquaponik, eine Kombination aus Fischzucht und Gemüse-Anbau in nachhaltiger Kreislaufwirtschaft. Zusammen mit einem Freund plant Moll, seine Eigenentwicklungen in dieser Technologie bis nach Indien zu verkaufen, wo “spiritual farming” ein enormer Wachstumsmarkt ist. Eine rheinische Frohnatur, die gerne schallend lacht. Wäre Corona nicht gekommen, hätte El Chancho vermutlich nie das Licht der Welt erblickt.
“Chancho” heißt auf Deutsch der Eber, das männliche Schwein. Warum sich ein Gemütsmensch wie Moll so wild inszeniert und benennt, wird ansatzweise erst nachvollziehbar, wenn man sich mit der Figur des Ernesto Guevara befasst. Der in Argentinien geborenen Revolutionär wurde für eine ganze Generation im Westen zur Ikone – auch für den Mann, der sich nun Chancho nennt und Jahre seines Lebens als Weltenbummler auch in lateinamerikanischen Ländern verbracht hat. Guevara ging nicht mit seinem Vornamen in die Geschichte ein, sondern schlicht als El Che. Der Ausruf “Che!” dient in Argentinien landläufig dazu, Aufmerksamkeit zu erregen, etwa wie im Deutschen “He!”. Er wurde geradezu zum Synonym für den typischen Argentinier, sodass Guevaras Kameraden im Exil ihm “Che” als Spitzname verliehen.
Vielleicht wollte auch Moll alias El Chancho mit einem ironisch gewählten nom de plume etwas Landestypisches verkörpern: das Schweinefleisch, das den nicht nur kulinarisch genügsamen und politisch trägen Deutschen als Klischee anhängt wie das Sauerkraut. Fragen kann man ihn nicht mehr. Denn am Tag seiner Selbsterschaffung als Sprecher der “Revolutionäre des Friedens und der Liebe in Deutschland und auf der ganzen Welt” hatte El Chancho kein ganzes Jahr mehr zu leben.
Am Nachmittag des 1. August 2021 geriet Moll als Teilnehmer einer verbotenen Demonstration von Gegnern der Coronamaßnahmen in Berlin in Polizeigewahrsam. Laut einem Sprecher der Berliner Generalstaatsanwaltschaft hatte er eine Polizeiabsperrung “durchbrochen und dabei einen Polizisten umgerissen”. Er sei deshalb vom Beamten verfolgt, “zu Boden gebracht” und anschließend festgenommen worden. Gleich nach der Festnahme habe Moll über Schulterschmerzen geklagt, das Angebot ärztlicher Hilfe jedoch abgelehnt. Nach seinem Transport in die Hiroshimastraße zur Identitätsfeststellung und weiteren Bearbeitung des Vorfalls habe sich sein Zustand verschlechtert, sodass ein Krankenwagen gerufen worden sei. In Gegenwart des Notarztes, den er auf “Brustschmerzen und Kribbeln in den Händen” hingewiesen habe, und der Polizeibeamten sei Moll dann kollabiert. So der Hergang laut Darstellung der Behörde.
Noch am selben Tag starb der Rheinländer auf der Intensivstation der Berliner Charité. Die amtliche Obduktion ergab keine Hinweise auf “todesursächliche” Polizeigewalt. Zu den Akten genommen wurde vielmehr ein Herzinfarkt.
Es war der erste Todesfall nach Festnahme bei einem Protest der “Querdenker”-Szene, deren Bewegung es um die Wiederherstellung der zu großen Teilen ausgesetzten Grundrechte und ein Ende politischer Übergriffigkeit gegen Maßnahmen-Skeptiker ging. Vom Zeitpunkt des Bekanntwerdens an hatte dieser Tod ein außerordentliches politisches Sprengpotenzial. Die Nachricht stieß in eine extrem aufgeheizte Stimmung hinein: Nie zuvor war ein Querdenker-Protest auf so gewalttätig agierende Polizisten geprallt wie an jenem Tag in Berlin. Bilder und Berichte von blutig zusammengeschlagenen Demonstranten, aus der Menge gegriffenen oder niedergeworfenen Protestierern, selbst Familienvätern mit Kindern oder älteren Damen, hatten sich bereits wie Lauffeuer in den Sozialen Medien verbreitet. Die Presse berichtete von mehr als 500 Festnahmen. Und nun hatte es auch noch einen Toten gegeben.
Im Bemühen um Mäßigung und Deeskalation konnten die Organisatoren der Demonstration deshalb nicht daran interessiert sein, dass dieser Tod eines politisch Neugeborenen gleichzeitig zur Geburtsstunde des ersten “Märtyrers” der Bewegung verklärt würde. Die Personalie war umso brisanter, als das Opfer kein namenloser Mitläufer gewesen war: Moll war eines von 44 Gründungsmitgliedern der den Querdenkern nahestehenden Basisdemokratischen Partei Deutschland (Die Basis), zugleich Mitbegründer des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen und Vorsitzender des Kreisverbandes Euskirchen. Ignoriert von den meisten Medien war die erst im Juli 2020 gegründete Basis innerhalb von einem Jahr zur nach Kopfzahl neuntstärksten deutschen Partei mit rund 25.000 Mitgliedern (Selbstauskunft) aufgestiegen. Bei aller Härte der Situation herrschte Aufbruchstimmung – jäh unterbrochen an jenem tragischen Tag in Berlin.
Selbst Mainstream-Medien, die Argumenten der Bewegung sonst keinerlei Raum gaben und deren Funktionäre höchstens in negativer Konnotation erwähnten, transportierten nun aus offensichtlichen Motiven deren Aufrufe zu Besonnenheit. Das Boulevardblatt “Berliner Kurier” etwa berichtete am nächsten Tag, die Partei Die Basis habe darum gebeten, „den tragischen Tod eines Menschen auf keinen Fall politisch zu missbrauchen“. Das Nachrichtenportal T-Online zitierte den Kölner Juristen Dirk Sattelmaier von den “Anwälten für Aufklärung” mit den Worten: “Lasst es sein, das zu instrumentalisieren. So etwas kann passieren.”
Die Appelle verhinderten indes nicht, dass eine Woche nach dem Todestag bis zu tausend Menschen mit einem Trauerzug durch die Berliner Innenstadt an Sascha Moll erinnerten. Am Ort der Festnahme – Ecke Luckenwalder Straße / Tempelhofer Ufer – legten viele Blumen nieder. Der weitgehend in Schweigen verlaufende Marsch wurde von der Polizei nicht behindert, die Lage blieb friedlich. Doch auch Wochen nach dem tödlichen Berliner Vorfall suchten Angehörige, Freunde und politische Weggefährten Molls immer noch nach Erklärungen und Auskünften. Was genau hatte sich am 1. August 2021 in der Hauptstadt zugetragen? Molls Familie betraute den Berliner Anwalt Henning Hacker mit der Vertretung ihrer Interessen und weiteren Schritten zur Klärung der Vorgänge.
Dazu zählte auch eine zweite, unabhängig ausgeführte Obduktion. Laut Hacker brachte sie keinerlei Aufschluss über das, was zum Tod des Demonstranten geführt haben könnte – weder auf Gewalteinwirkung noch auf einen Herzinfarkt. Doch Teile des Herzens waren schon bei der ersten Autopsie entnommen worden, sodass eine Zweitbeschau unmöglich war – nicht ungewöhnlich in solchen Fällen. Unterdessen hielt die Staatsanwaltschaft Berlin ihre Ermittlungsakte offen. Heute, drei Jahre später, wartet der Anwalt als Vertreter der Familie des Opfers noch immer auf Nachricht, dass und mit welchem Ergebnis der Fall abgeschlossen wurde. Ein derart langer Schwebezustand der Ermittlungen, so Hacker, sei schon “eher unüblich”.
Eines ist sicher: Moll, der gelegentliche Imitator Che Guevaras, hatte mit seinem Idol höchstens den zeitweiligen Habitus, nicht aber die Militanz gemeinsam. Auch wenn sich brave Bürger durch El Chanchos rebellisches Gebaren beunruhigt fühlen mochten: Für eine Neigung zu Gewaltaktionen oder Umgang mit Waffen war Moll nicht bekannt. Dem Parteiensystem, das er für korrupt und scheindemokratisch hielt, hatte er lange teilnahmslos gegenübergestanden. In einem ausführlichen Videogespräch im August 2020 bekannte er, bis zu den Erfahrungen mit der Corona-Pandemie und den unerwartet harschen staatlichen Maßnahmen “überzeugter Nichtwähler” gewesen zu sein.
In diesem Videodokument gibt Moll außerdem zahlreiche Kostproben seines fast jungenhaften Humors: Im eher gemütlichen Plausch mit dem Interviewer lacht er sich über viele Phänomene der aktuellen gesellschaftlichen Situation einfach scheckig. Auf die Frage, ob man die Coronapolitik noch ernst nehmen könne, bekommt er schließlich kaum noch Luft vor Lachen: “Das Traurige sind halt die Protagonisten!”
Ernst wird Moll in dem Video-Talk vor allem bei zwei Themen. Das eine ist die Partei, die er von Anfang an mit aufgebaut und deren Berliner Landesverband er wenige Tage vor dem Interview mit aus der Taufe gehoben hat: Deren Prinzip der basisdemokratischen Konsensfindung sei zwar anstrengend, aber “so haben alle zu dem Ergebnis beigetragen und tragen es mit, und dadurch führen sie es auch zum Erfolg”. Das andere sind die Verheerungen, die in seinen Augen von neoliberalem Konzern-Kapitalismus im Verein mit den Corona-Lockdowns ausgehen. Eine Welle von Pleiten und ruinierten Existenzen rolle längst durchs Land, die viele nicht wahrhaben wollten: “Aber wenn die Leute sich immer weiter wegducken und wegschauen, klopft es irgendwann an jede Tür.”
Wenige Tage später erstmals in die Rolle des “El Chancho” zu schlüpfen, war seine Methode, satirischen Spott mit ernsthafter politischer Gegenwehr zu vereinen. Die Feierstunde seiner Selbst-Schöpfung als Revolutionär, an einem “geheimgehaltenen Ort” und eingeleitet von einem grotesk misstönenden Fanfarenstoß, inszenierte er wie einen Staatsakt, die Antrittsrede eines Fidel Castro 2.0 aus dem Untergrund: “Die deutsche Bevölkerung leidet unter der Abwesenheit von Wahrheit, Freiheit und Demokratie. Wir sagen basta! Schluss damit! An die Marionetten, die sich Politiker nennen, die nur für sich und andere, unbekannte Mächtige arbeiten: Schluss damit! Schluss mit den Lügen, publiziert über die Fernseher, die Zeitungen, die Radios und das Internet! Schluss mit der Heuchelei!”
Das Thema Wahrheit war Moll so wichtig, dass er der journalistischen Stimmungsmache gegen Querdenker, Maßnahmenkritiker und Grundrechte-Verfechter eine eigene Chancho-Aktion widmete: In der Kölner Innenstadt zog der Freizeit-Commandante in voller Guerilla-Montur mit einer Handvoll Begleiter vor das WDR-Funkhaus, um dort einen symbolischen Kranz zum Gedenken an das Hinscheiden des kritischen Journalismus niederzulegen. “Sascha hatte sich Formen des Protests überlegt, die angesichts der Versammlungssverbote überhaupt noch durchführbar waren”, berichtet Bodo Oepen, Co-Vorsitzender des NRW-Landesverbandes der Basis und ein Freund Molls.
Der Frohsinn sei seinem Weggefährten allerdings in den Monaten vor dessen abruptem Tod abhanden gekommen. Moll sei bei der Arbeit als Verkäufer im Kiosk durch seine Verweigerung des Maskentragens immer wieder angeeckt, habe sich in den Niederungen der Parteiarbeit aufgerieben. Auch die zunehmend angespannte Gesamtlage im Land habe seine Humorreserven aufgezehrt – während Moll selbst vermehrt zu Zigaretten und Snacks gegriffen habe: “Das könnte für ihn ein Mittel der Stressbewältigung gewesen sein”.
Oepen hält es daher auch für denkbar, dass ein unbemerktes Herz-Kreislauf-Leiden zu einer extremen Stressreaktion auf die Festnahme bei der Berliner Demonstration und letztlich zum Herzversagen beigetragen haben könnte. In die Chronik der Corona-Proteste geht Moll gleichwohl als das erste Todesopfer ein – nicht jedoch das letzte. Der Vergleich mit seinem Idol Che Guevara noch im Tod war deshalb wohl für manchen unwiderstehlich: “Dass El Chancho selbst auch im Widerstand gegen die zunehmende Unterdrückung in unserem eigenen Land sterben würde, konnte niemand vorausahnen”, rief sein Landesverband NRW ihm in einer Trauerbotschaft nach – und kam damit der politischen Instrumentalisierung dieses Falles, um deren Vermeidung der Basis-Vorstand gebeten hatte, durchaus nahe.
Im darauf folgenden Sommer, beim ersten Jahresgedächtnis am 1. August 2022, hatte man dann die letzten Fesseln der Zurückhaltung abgestreift. “Die Welt soll es wissen”, so Basis-Redakteur Holger Gräf auf der Webseite der Partei: “Er hieß Sascha Moll und er starb für deine Freiheit, für meine Freiheit und für die Zukunft unserer Kinder!” Gräfs Fazit zum Tod von Sascha Moll: “Er war friedlich und wurde Opfer von unnötiger, ungerechtfertigter Polizeigewalt, in deren Folge er verstorben ist.”
Auch heute, drei Jahre nach dem Todesfall, geht die offizielle Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen und der exekutiven Exzesse während dieser Verfassungskrise bestenfalls äußerst schleppend voran. Als gesichert kann gelten: Es gibt einen Charaktertyp, bei dem es nicht ohne Konsequenzen bleibt, wenn ihm jeden Tag neue Verhaltensregeln diktiert werden. Extremer Druck führt bei diesem Typus zu einer Auflehnung mit jeder Faser der Persönlichkeit. Der dritte Todestag des Sascha Moll erinnert an diese, bisweilen tödliche, Auswirkung einer menschenfeindlichen Politik.
Als sehe er seinem finalen Bestimmungsort bereits entgegen, schließt der Commandante El Chancho im Video seine Antrittsrede mit den Worten: “Bis zum nächsten Mal! Bis zum Sieg! Wir sehen uns auf der Straße!”