Lyrik, also Dichtkunst, steht bei geschätzten 98 Prozent der Bevölkerung im Land der Dichter und Denker etwa ebenso hoch im Kurs wie Krampfadern. Etwas für ondulierte Omis oder für schräge Vögel, die streng riechen. Erinnerungen werden wach an schlimm fehlgeschlagene Versuche, in der Schule unter Zwang irgendein verstaubtes Klassiker-Gedicht aufzusagen. Dichtkunst hat was mit Reimen zu tun, so viel weiß man noch: Liebe/Triebe, Morgen/Sorgen. Goethe spielt Flöte/auf Schiller sein’ Piller.

“Poesiealbum” und “deutscher Schlager” fällt Normalverbrauchern vielleicht noch ein: Schöne Maid / hast du heut’ / für mich Zeit … alles ganz schrecklich. Poesie schreckt ab. Hatte man früher vielleicht nötig, braucht man heute nicht mehr, kann weg.

Kein Wunder, geht es doch um die Konfrontation mit etwas nahezu Übersinnlichem: Silben und Rhythmen, die eine psychobiologische Resonanz erzeugen, das Innerste aufwühlen und auf einer weitgehend unerforschten Ebene zwischen Sprache, Denken, Atmen und Empfinden merkwürdige Effekte im Emotionshaushalt auslösen können. Sich dorthin zu begeben, erzeugt Berührungsängste und Orientierungslosigkeit. Für viele Menschen sind das unüberwindliche Hindernisse.

Doch dann, plötzlich und ganz unvorbereitet, begegneten im Jahr 2013 Hunderttausende dieser Poesieverächter doch noch einem großen Stück Dichtkunst. Weil sie nämlich im Kino saßen und sich den (ansonsten hundsmiserabel absurden und grotesk überbewerteten) Science-Fiction-Blockbuster “Interstellar” antaten: “Wow, geile CGI! Das schwarze Loch, Hammer!” Story? Dialoge? Glaubwürdigkeit? Ähm …

Matt Damon röchelt ein Gedicht

Egal. Denn worauf ich hinaus will: Gegen jede Vernunft beginnt Matt Damon als Astronaut auf einem Eisplaneten, stöhnend und keuchend in seinem Raumanzug, weil er gerade einen anderen Astronauten beim Raufen im Schnee tödlich verletzt hat und diesem armen Wicht jetzt beim Verenden zusieht, ein Gedicht zu rezitieren.

Anderswo in “Interstellar” wird ein Teil des Gedichts auch noch von einem unsichtbaren Sprecher aufgesagt, allerdings lustlos, mit falscher Betonung und erkennbar ohne jedes Gespür für seine Botschaft. Bei Matt Damon wiederum versteht man dafür akustisch kaum ein Wort, aber macht nichts, wird schon sehr bedeutungsvoll sein.

Und was soll ich sagen: Ja, es ist bedeutungsvoll. Also nicht für den unheilbar bekloppten Film jetzt. Aber für die Menschheit. Das Gedicht heißt “Do not go gentle into that good night”. Es wurde vom walisischen Schriftsteller und Säufer Dylan Thomas (1914-1953) zwei Jahre vor seinem alkoholbedingten Tod veröffentlicht. Mit der “good night” ist auf sarkastische Weise das nahende, unausweichliche Ende des Lebens gemeint, soviel darf ich – auch im Namen von Matt Damon – an dieser Stelle schon mal verraten.

Jetzt lassen Sie das einfach mal auf sich wirken, und zwar, weil wir gerade dabei sind, zusammen mit kongenial ausgewählten und zurechtgeschnittenen Weltraumbildern aus Dutzenden von Science-Fiction-Filmen (es geht ja um Un-/Endlichkeit und Ewigkeit). Und vor allem vorgetragen von jemandem, der sein Handwerk versteht:

Der Sprecher war, vielleicht haben Sie es im Abspann gelesen, niemand Geringeres als Anthony Hopkins, bekannt als Hannibal the Cannibal. Also ein Experte für nahenden, unausweichlichen und äußerst schmackhaften Tod.

Sie können sich das Ganze auch noch mal vom Meister selbst vorlesen lassen. Achten Sie darauf, wie die Stimme sich vollumfänglich in ein Gefäß für Dichtung verwandelt. Das ist kein Aufsagen, kein Vortrag mehr, das ist eine Verkündigung. Grandios. Schamlos. So, meine Damen und Herren, klingt ein Dichter, der es ernst meint. Auch mit dem Trinken.

Das Gedicht, es ist sein bekanntestes, hat zahllose Künstler zu eigenen Interpretationen inspiriert. Warum eigentlich? Weil jeder mal sterben muss? Wegen dieses merkwürdigen Rhythmus’, wo jeder mit muss? (Das Versmaß ist übrigens eine “Villanelle”, zu deutsch “Bauernmädchen”. Ist wohl zuerst in italienischen Volksweisen des 16. Jahrhunderts verwendet worden; mit diesem Halbwissen können Sie jetzt auf der nächsten Poeten-Party vor Groupies und Musen angeben.)

Hoch die Tassen, der Sensenmann kommt!

Ich glaube, die fast hypnotische Wirkung dieser Zeilen rührt auch von ihrer Rätselhaftigkeit her, die sich vermutlich nicht einmal Walisern im Suff völlig preisgibt. Ohne jetzt in eine volkshochschulmäßige Textanalyse zu verfallen: Das ist kein Englisch, wie es Engländer sprechen. Wendungen wie “the last wave by” oder “they grieved it on its way” sind Neuprägungen von enigmatischer Schönheit. Dem strengen Reimschema geschuldet, und doch alles andere als Notlösungen.

Und dann ist da diese aufbrausende Energie, dieses Anwüten gegen das Unausweichliche: Wenn du schon ins Dunkel gehen musst, dann mit einem Knall, nicht mit einem Winseln! Denn die weisesten Männer verstehen kurz vor Toresschluss: Natürlich haben wir in all unserer Klugheit am Ende nichts vorzuweisen, das letzte Hemd hat keine Taschen. Aber deshalb klein beigeben? Bloß weil der Sensenmann uns holt? Niemals! Hoch die Tassen!

Wer auf einem dünnen Drahtseil lebt, den spricht so etwas an. “Do not go gentle” hat unzählige Künstler, Musiker, Filmemacher zu neuen Formen des Gedichtvortrags inspiriert. Eine der originellsten ist diese hier von Pedro Alves da Vega (Text ab 1.31.):

Den englischen Wortlaut des gesamten Gedichts, den ich aus Copyright-Gründen besser nicht in Schriftform wiedergebe, finden Sie mit freundlicher Genehmigung des Verlags zum Nachlesen hier.

Es sollte mittlerweile klar geworden sein: Ich finde “Do not go gentle” gut. Quatsch, ich bin hingerissen von diesem Gedicht. Das Problem ist: Ich kenne nur zwei deutsche Übertragungen (wortwörtlich übersetzen kann man so etwas nicht, man muss es möglichst sinn- und klangwahrend nachschöpfen), die man im Internet finden kann. Und die sind beide … nun ja … unbefriedigend. Was überwiegend daran liegt, dass das Deutsche mehr Silben benötigt als das Englische, um dasselbe auszusagen.

Das hat mir keine Ruhe gelassen, und so habe ich die Sommerferien für meine eigene Übertragung ins Deutsche genutzt. Wie gesagt: Komplett wortwörtlich 1:1 kopieren lässt sich das nicht, will man nicht das Versmaß sprengen. Und das will ich nicht, denn es ist das Fundament und das Gerüst des Ganzen. Lieber feile ich an möglichst nah verwandten Sprachbildern, die auf eine deutsche Art und Weise walisisch sein könnten.

Das Ergebnis lesen Sie hier.

Dylan Thomas: Gleite nicht sanft in diese gute Nacht

Deutsch von Oliver Driesen

Gleite nicht sanft in diese gute Nacht
Im Alter brenne, wüte wie noch nie!
Zorn! Zorn dem, der das Licht verlöschen macht!
 
Zwar wissen Weise, letztlich: Dunkel lacht
weil ihre Rede glanzlos blieb, doch sie
gleiten nicht sanft in diese gute Nacht.

Und Gute, schon zerschellt, heulen: wie sacht
ihr Wrack gefahr'n wär bis zur Havarie.
Zorn! Zorn dem, der das Licht verlöschen macht!

Wilde, die selbst der Sonne Sturz vollbracht
glaubten und zu spät sah'n: sie schafften's nie,
gleiten nicht sanft in diese gute Nacht.

Erhabene, vorm Ende, seh'n in greller Pracht
kometengleich der Blindheit Poesie.
Zorn! Zorn dem, der das Licht verlöschen macht!

Und du, mein Vater, elend hingeschlacht',
verfluche, segne mich schweißheiß! Ich schrie:
Gleite nicht sanft in diese gute Nacht!
Zorn! Zorn dem, der das Licht verlöschen macht!