Da draußen gibt es Einnahmequellen, die wir im 21. Jahrhundert nicht mehr auf der Rechnung hatten. Aber sie sprudeln trotzdem immer weiter. TWASBO besucht längst totgesagte Märkte, die vermutlich ewig leben.
Ein Zirkus ist in der Stadt. Die Stadt ist groß, der Zirkus ist klein. Sehr klein. Und so sieht er auch aus: handgestrickt, handgemalt, handgelebt. Hier sind die Akrobaten noch die Clowns und die Hundedompteure und die Kassierer in einem. Drei Tage Gastspiel auf der Wiese im unbekannten Park im unbedeutenden Stadtteil. Dann Abbau, Umzug, nächste Wiese. Und keine noch so kleine Chance auf Fernsehkameras.
Wer soll davon leben können? Wer soll hieraus eine Existenz ableiten, mit Konsum, Kindererziehung, Rentenanspruch? Natürlich niemand. Und doch: Die Zirkusmenschen, durchweg schwarzhaarig, haben Kinder. Die Kinder tollen im Park herum, nehmen gleich mal das Zicklein mit, während das Dromedar an seiner Kette bleibt und Gras mümmelt, üben Fahrrad fahren. Die hier mitmachen, wirken nicht unglücklich. Die Älteren sitzen auf Plastikstühlen in der Sonne, um 15 Uhr wird die Premierenvorstellung sein. Das selbstgemalte Preisschild am Kassenhäuschen sagt: Kinder 10 Euro, Erwachsene 12 Euro. Holladiewaldfee!
Die Preise sind jedenfalls nicht von gestern. Vielleicht werden zur Premiere 80 zahlende Gäste kommen, davon 50 Kinder. Das würde 860 Euro Bruttoeinnahme bringen – davon abzuziehen sind Strom, Platzmiete, Wasseranschluss, Steuern und Gebühren, der Diesel für die Transporter, das Futter für die Tiere …
Aber irgendwo da unter dieser 4,50 Meter hohen Zirkuskuppel verbirgt sich etwas – der Grund, weshalb dieses Geschäftsmodell für manchen immer noch aufgeht wie anno 1950: Faszination Zirkusluft. Egal wie klein, egal wie aus der Zeit gefallen. Als ich meinen Sohn heute zum Kindergarten bringe, kommt ihm sein Freund schon entgegen und brüllt statt einer Begrüßung: “Ich geh heut in den Zirkus, Zirkus, Zirkus!” Und fühlt sich wie Bolle. So sieht die Attraktivität des Geschäftsmodells aus Kindersicht aus.
Es ist nicht totzukriegen. Wir haben den 15. April 2011, ein Datum, das mir vorgekommen wäre wie ein Hauch von Ewigkeit, als ich zirka 1979 zum ersten Mal Star Wars im Kino sah. In Star Wars kam kein Zirkus Martinelly vor. Aber die Welt hat sich weiter und weiter gedreht. Wir haben die Sternenkrieger überholt, den 11. September 2001 und den Tsunami überlebt und sind mit Warp-Antrieb auf dem Weg zurück in eine Zukunft aus lauter glücklichen Murmeltiertagen.
Hals- und Beinbruch, kleiner Zirkus!
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Diesen Artikel habe ich ungefähr genauso lieb wie Wanderzirkusse und alle ihre seltsamen Geschwister im Geiste. Ich würde gern viel mehr davon lesen. Die (1) im Titel sieht vielversprechend aus.