Wo ich wohne, gibt es keinen Sperrmüll mehr, sondern nur noch Geschenke. Aus vermodernden Fahrradwracks wird im Lauf der Jahre Kompost für die finale Begrünung des Wohngebiets – eine Fallstudie der Verkehrtplanung.
Alles begann vor Jahren damit, dass die rotgrüngütige Hansestadt Hamburg die Bürgersteige unserer Wohnstraße mit Hunderten von eleganten Metallbügeln verbügelte. Eine Trainingsstrecke für olympische Hürdenläufer? Nein, es ging um was anderes. Unsere Straße ist zwar dem Namen nach ein Weg, aber doch immerhin fast anderthalb schnurgerade Kilometer lang. Und weil der längste Teil davon eine rotgrüne “Fahrradstraße” werden sollte, bekämpfte Rotgrün mit dem üblichen religiösem Eifer fanatischer Sektierer alle nur denkbaren Parkmöglichkeiten für Autos. Klar: Fahrrad gut, Auto böse.
Weil das aber nicht unbedingt Wählerstimmen von motorisierten Anwohnern mit Parkbedürfnis bringt, kamen die Bügel. Keine Auto-Verhinderungsbügel, nicht doch, wer sagt denn so was, sondern Fahrradabstell-Ermöglichungsbügel. Einfach so, als Geschenk vom Amt. Entlang unseres Wegs wohnen an die tausend Menschen, die brauchten also ganz viele davon. Nicht. Schließlich haben sie Hinterhöfe, Innenhöfe, Garagen, Fahrradkeller, Balkone und Wohnungsflure. Alles besser, als ihre kostbaren Zweiräder schön vorn an den Straßenrand ins Schaufenster zu stellen. Möglichst noch über Nacht.
Also bleiben die meisten Bügel konsequent ungenutzt. Denn über Nacht oder gern auch am hellichten Tag passiert – mindestens – dies:
Aber die Anwohner unseres Wegs sind ja nicht blöd. Die wissen natürlich, dass die Bürgersteige von der florierenden Fahrrad-Entsorgungsindustrie intensiv bewirtschaftet werden. Und wenn man nun selbst einen alten Drahtesel zu entsorgen hat, weil man auf ein nagelneues und mit Argusaugen bewachtes E-Bike umgestiegen ist, dann stellt man ihn abends an den Bügel. Nicht einfach so, sondern mit einem Schloss versehen. Angekettet. Nur dann ist sichergestellt, dass die Mitarbeiter der Entsorgungsindustrie das Fahrrad auch als mitnehmenswert ansehen. Denn wer sein Fahrrad mit einem Schloss schützt, der will schließlich nicht, dass es mitgenommen wird. Das ist sozialistische Dialektik.
Allerdings herrscht trotz laufend neu importierter Fachkräfte auch in der Fahrrad-Entsorgungsindustrie Fachkräftemangel. Sie kommen einfach nicht hinterher, die Armen. Und so hat sich an den Bügeln entlang unseres Wegs eine stattliche Anzahl von Fahrradleichen angesammelt. Das ist schon keine Leichenschau mehr, das ist ein Leichenstau:
Sperrmüll war gestern, heute gibt es Geschenke. Sozialismus eben. Sie kennen bestimmt diese offenen Pappkartons in Hauseingängen und auf Gehwegen, wo neuerdings immer “Bitte mitnehmen!” dransteht. Da ist dann irgend ein defekter Rotz drin, eine verkeimte Mikrowelle, ein blinder Flachbildschirm, dazu jede Menge undefinierbarer Abfall. Und die edlen Spender sind ganz berauscht von ihrer eigenen Großzügigkeit, weil sie die Welt kostenlos an ihren Reichtümern teilhaben lassen.
Also warum nicht zu der großen nachbarschaftlichen Bescherung noch das ein oder andere Goldstück beitragen? Einen schönen Wandspiegel zum Beispiel. Da kommen unsere Straßenbäume mal aus ganz neuer Perspektive zur Geltung:
Wenn schon überall Leichen herumliegen, dann macht der Style auch für Zweiräder Schule, in denen eigentlich noch (elektrisches) Leben ist:
Das hier gehörte seinem letzten Nutzer nicht, also dachte der sich: Scheiß drauf, ich brauch’s ja nicht mehr. Wenn ich es an Ort und Stelle fallenlasse, ist es weg aus meinem Blickfeld. Früher, in der DDR, hätte man das als Volkseigentum bezeichnet. Heute, wo das Volk verboten ist, ist es komplizierter, aber im Grunde das beste aus beiden Welten: Sozialistische Gleichgültigkeit trifft kapitalistische Wegwerfgesellschaft. Das tritt sich fest, da wird Kompost draus, das ist gut für Mutter Erde.
Apropos Kompost und Muttererde:
Na, haben Sie in unserem naturnahen Suchbild die Fahrradleiche gefunden? Eine ökologische Idylle, in der Fahrzeug und Grünzeug zu einem großen grünen Glücksgebüsch zusammengewachsen sind, das tödliches CO2 und den Feinstaub der teuflischen Verbrenner aus der Luft filtert. Aber ohne Dauerabstellplatz am Bügel wäre das Langzeitprojekt nicht geglückt. Danke, Senat, danke! Überhaupt macht dank Fahrradleichendünger die Renaturierung unseres Weges große Fortschritte:
Völlig unbekannte, noch nie beschriebene Flechten und Moose haben sich am Fahrbahnrand angesiedelt. So geht Umwelt- und Klimaschutz, so geht ökologische Vielfalt! Und auch zukünftige Archäologen werden in den Ruinen des Grünen Reiches die eine oder andere faszinierende Entdeckung machen. Damit ist allen gedient, Lurchen ebenso wie … sonst eigentlich niemandem. Aber in unserer Demokratie gehen auch Lurche wählen. Und ich weiß auch schon, welche Farbe.