Ilka liebt Hendrik, aber Hendrik verschließt seine Gefühle vor Ilka. Ihre Liebe steht vor einer Zerreißprobe. Nichts davon kommt in Stanislaw Lems Roman „Fiasko“ vor – außer in meinem persönlichen Exemplar. Das hat sich durch Zufall in eine melancholische Liebeserklärung an die Liebe verwandelt. An das Schreiben aus Hoffnung. Und an das Buch aus Papier.

Ich gehöre zu jenen feinfühligen Menschen, die es als unangenehm und unangemessen empfinden, plötzlich und ohne guten Grund in die Schlachtfelder einer fremden Liebesbeziehung hineingezogen zu werden, von der sie ansonsten nicht betroffen sind und die sie deshalb absolut nichts angeht.

Andererseits bin ich neugierig.

Deshalb lese ich Bücher. Auch altmodische, solche aus Papier. Mit Buchdeckel und lose umgelegtem Schutzumschlag, dem perfekten Versteck für Überraschungen. Zum Beispiel für verborgene Botschaften.

Stanislaw Lems 1986 erschienenen Science-Fiction-Roman „Fiasko“ habe ich antiquarisch im Internet bestellt, weil ich mich für kaum etwas so sehr begeistern kann wie für Astronomie, Astrophysik und Weltraumfahrt. Und der Roman spielt nun mal auf dem Saturn-Mond Titan, der in der Realität von damals zwar längst entdeckt, aber noch vollkommen unerforscht war.

Heute hingegen, seit die NASA-Sonde „Cassini“ im Jahr 2004 ein Forschungsmodul auf dem Titan abgesetzt hat, wissen die Forscher Faszinierendes über diesen einzigen Mond im Sonnensystem mit einer dichten Atmosphäre zu berichten: Er hat Flüsse, Seen und Meere aufzuweisen – wenn auch nicht aus Wasser, sondern aus Methan, das dort bei einer Oberflächentemperatur von minus 180 Grad Celsius in flüssiger Form vorkommt. Es regnet Methan auf dem Titan.

Ich weiß damit mehr, als der Erzähler 1986 wissen konnte. Eine interessante Perspektive für die nachträgliche Lektüre dieser Vision einer längst überholten Zukunft.

Aber ach, trotz aller Quantensprünge der Forschung ist der Mensch bis heute immer noch nicht über den Planeten Erde hinausgewachsen. Wir acht Milliarden Zweibeiner müssen es wie alle anderen seit Adam und Eva immer noch auf dieser einen, kleinen Felskugel aushalten, die mit Milliarden anderen Sonnen und Planeten durch unsere Milchstraße kreiselt wie die Debütanten durch die Wiener Staatsoper. Vier Milliarden Männer, vier Milliarden Frauen. Vier Milliarden potenzielle Paare, die sich in wechselnden Kreisen drehen.

„Ja, man darf das lesen, beschließe ich nach zwei Millisekunden des Grübelns. Denn es nicht zu tun, würde übermenschliche Kräfte erfordern.“

Eines davon sind Ilka und Hendrik (Namen diskret geändert). Um ihre Beziehung steht es nicht zum Besten. Deshalb schreibt Ilka ihrem Hendrik am 30. Oktober 1990 einen Brief. Einen richtigen, sorgenvollen, handschriftlichen Liebesbrief. Jüngere Leser mögen verstehen: Es war gegen Ende des Zeitalters vor Handys, Smartphones, Internet und Emails. Ein unliniertes Blatt, auf Vorder- und Rückseite mit dünner Tinte eng beschrieben. Jede Zeile erzählt vom Ringen um diese Liebe.

Der Brief rutscht aus der Lasche zwischen Bucheinband und Klappentext, als ich „Fiasko“ aus dem braunen Postumschlag ziehe und zum ersten Mal aufschlage. Hendrik, offenbar ein Science-Fiction-Fan, hat ihn dort abgelegt, womöglich versteckt. In einem Buch namens „Fiasko“. Der Mann hat schwarzen Humor.

Ich kenne sie beide nicht, Ilka und Hendrik. Aber ich lerne sie kennen, noch bevor ich den Roman und seine Figuren kennenlerne. Ilkas Brief rutscht mir geradezu in die Hand, als ich das gerade aus der Postbox gezogene Buch im Garten zum ersten Mal aufschlage.

Darf man so etwas lesen? Ich meine, es gibt ein Briefgeheimnis, und dass es verjährt wäre nach einem Vierteljahrhundert, davon steht meines Wissens nichts im Gesetz.

Ja, man darf das lesen, beschließe ich nach zwei Millisekunden des Grübelns. Ein Artefakt der Zeitgeschichte darf man lesen. Denn es nicht zu tun, würde übermenschliche Kräfte erfordern. Kann niemand verlangen. Schadet ja auch keinem, niemand wird enttarnt, über niemanden ein Urteil gesprochen. Das wäre also geklärt. Puh. Aber was steht denn da nun?

Ilkas Handschrift ist zierlich, aber präzise. Eine geübte Von-Hand-Schreiberin. Ihre Diktion ist makellos, ihre Rechtschreibung sicher. Wie gesagt: Das Jahr ist 1990, Schulbildung noch weit verbreitet, zumindest unter Belesenen. Und das ist Ilka zweifellos; ihr Hendrik, der Freund von Weltraumabenteuern, vermutlich auch.

„Lieber Hendrik,
unsere momentane Kommunikation besteht ja leider größtenteils aus Schweigen…“

Oh, ich kenne solche Briefe. Ich weiß intuitiv, wie sie weitergehen, welchen Ton sie anschlagen, welche Lösungen sie andeuten, welche Hoffnungen und Drohungen zugleich sie heraufbeschwören.

Ich bin dort gewesen, an diesem Ort des Schweigens. Wir Zweibeiner auf dem Planeten Erde sind so unterschiedlich nicht. Die eine Hälfte zumindest.

„Für mich bedeutet Partnerschaft aber gemeinsam durch dick und dünn zu gehen, Höhen und Tiefen miteinander zu teilen, auch in schwierigen Zeiten zueinander zu stehen…“

Es ist so überaus klar, dass dies die Zeilen einer Frau sind, auf der Suche nach Resonanz, während er, der Mann, sich abkapselt, Distanz sucht, mürrisch schweigt, keine Worte findet. Die Rollen sind so klar verteilt, die Würfel scheinen gefallen. Hier geht nicht mehr viel. Wir alle ahnen es.

„Los, Hendrik, will ich rufen. Jetzt bist du dran! Rette eure Liebe! Und leg ihren Brief nicht einfach in einer Akte ab, auf der ‚Fiasko‘ steht.“

„Sind die Zeiten schon vorbei, wo wir jeden Tag miteinander telephoniert haben, wo wir uns abends im Bett ganz fest aneinander gekuschelt haben, ohne uns gleich jedes Mal zu lieben, oder wo wir uns Zettelchen geschrieben haben mit einigen netten Worten und ‚Ich liebe Dich‘?“

Genau so sieht es aus. Schon vorbei. Schon wieder vorbei. Was sollte ihn bekehren, ihn seine Sprache wiederfinden lassen? Wie sollte er plötzlich unentdeckte Dimensionen der Nähe finden oder Zugang zu seinen Gefühlen? Da war nie viel, da kann nun nicht auf einmal mehr sein. Bloß durch einen Brief, von Hand geschrieben auf weißem Papier.

Los, Hendrik, will ich rufen. Jetzt bist du dran! Rette eure Liebe! Schreib zurück, schreibe besser, eloquenter, engagierter, charmanter, als du es je für möglich gehalten hast! Gewinne sie zurück mit unvermittelter Offenheit, zeige ihr den neuen Hendrik ohne Maske. Oder wenigstens den alten Zettel-Hendrik. Und leg ihren Brief nicht einfach in einer Akte ab, auf der „Fiasko“ steht.

Ein Fiasko, das ist ein klägliches Ende.

„Ich gebe Dir hiermit einen ganz lieben Kuss. Deine Ilka“

Doch weit da draußen, auf dem Titan, vermischen sich Tristesse und Utopie, fließen Ströme tiefgekühlter Tränen aus Methan in frostige Meere der Gleichgültigkeit.

Warum nur werde ich so melancholisch und so desillusioniert zugleich, wenn ich einen solchen Brief unerwartet und ungebeten zu lesen bekomme? Weil ich nicht gewappnet war mit Phrasen guten Willens, eingeübten Durchhalteparolen und Rationalisierungen? Weil der traurige Realismus dieses Dokuments in einem Werk der Fiktion mich überrumpelt hat?

Nun frage ich mich bloß noch, ob auch einer meiner Briefe in irgendwelchen Büchern in irgendwelchen Antiquariaten lagert. Wartend auf den eher unwahrscheinlichen Fall, dass genau dieser Stapel altertümlich bedruckter Seiten Papier noch einmal den Besitzer wechselt. Woraufhin irgendjemand solch ein Buch samt verborgenem Beifang aus dem Kasten zieht, in irgendeinem Garten das Couvert öffnet, das Buch aufschlägt, stutzt, liest …

Ausschließen kann ich nichts. Ich wünsche meinen Zeilen aber zumindest einen respektablen Roman als Zwischenlager.

Und dass er hoffentlich nicht „Fiasko“ heißt.