Mysterium im Domkloster zu Ratzeburg: Sind die mit Kohle gekritzelten Einträge an den Wänden eines Kreuzgangs Botschaften aus kommenden Tagen?
Die Inschrift erscheint, wenn wir lange genug warten, am 22.7. ’29. Jemand namens K. T. aus „Nürnberg in Bayern“ wird sie hinterlassen. Nur Geduld, denn immerhin sind es noch gut acht Jahre bis zu diesem Tag. Aber hier wird es geschrieben stehen, mit schwarzem Graphit auf das Mauerwerk gekritzelt, an einem Fenstersims im Kreuzgang des Prämonstratenser-Klosters, das sich an den im 12. Jahrhundert begründeten Dom zu Ratzeburg schmiegt.
Und diese Mitteilung aus der Zukunft wird bei weitem nicht die einzige bleiben. Alle Fensterfluchten des langgestreckten Gewölbes werden dicht an dicht mit solchen Namenszügen und Datierungen bedeckt werden. Alle im gleichen schwarzem Graphit, so als ob es in Zukunft nur noch Kohlestifte geben wird.
Es muss ein metaphysisches Kraftfeld sein, das all das zeitversetzte Geschreibsel an diesem geweihten Ort zusammenführt. Denn was am meisten irritiert: Die Einträge kommen aus immer ferneren Tagen – und sind doch alle schon jetzt, in diesem Moment, hier zu sehen.
Bis W. Strauß aus Hagenow im Landkreis Ludwigslust-Parchim hier am 3.7. ’32 signieren wird, müssen noch drei Jahre mehr vergehen als bei der Notiz von K. T. Und fast noch ein weiteres, bevor W. Weltzlen am 12.6. ’34 seinen oder ihren Namen hinterlässt. Dreizehn Jahre voraus. Ob wir dann noch am Leben sind? Ob es noch Menschen gibt, die diese sterbende Sprache entziffern können?
Schon gut, natürlich war bis hierher alles Quatsch. Natürlich stammen diese Graffiti aus einer vergangenen Zeit. Nahe an hundert Jahre ist sie her. Es müssen damals durch das Kloster ganze Schulklassen geführt worden sein, und anders, als wir Heutigen uns das vorstellen, waren wohl auch diese Schülergruppen nicht durchweg preußisch diszipliniert oder standen unter streng militärischer Aufsicht. Denn erstaunlich viele „Pennäler“ konnten beim Bildungsgang durch diese heiligen Hallen unbemerkt kritzeln, während Studienräte oder Geistliche dozierend vorneweg marschierten.
Merkwürdig aber, dass diese anarchische Mode dann nach wenigen Jahren geendet haben soll. Nur aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts sind hier Spuren erhalten. Davor, danach: alles ungeschehen – oder verwischt, übermalt, ausgelöscht und vergessen.
Was bedeuten diese Botschaften aus einer Zeit zwischen vorgestern und übermorgen? Zunächst einmal, dass Menschen sich immer und überall verewigen müssen, oder zumindest ihre Zeitweil wie ein Revier markieren. Es gibt Höhlenzeichnungen aus den Jahrtausenden vor Erfindung der Schrift. Graffiti im von Vulkanasche erstickten Pompeji. In die Borke uralter Eichen geritzte Initialen, die beim Wachstum des Baumes allmählich nach oben gewandert sind. Bis heute erhaltene Einträge siegreicher sowjetischer Soldaten in den zerschossenen Mauern des Berliner Reichstags.
Aber alle, in jeder Epoche, sagen im Grunde dasselbe: Ich war hier, an genau diesem Tag. Ich hatte Luft in meinen Lungen. Es hat mich wirklich gegeben, und ich habe große Dinge vollbracht. Oder vollbrächte sie, wenn man mir Gelegenheit gäbe. Da man es aber meist nicht tut, muss ich mich auf diesen Namenszug beschränken, und auf das Datum dazu.
Niemand von denen, die sich hier an Ratzeburger Klostermauern handschriftlich kurzfassten beim Datieren, dachte für einen Moment an Verwechslungsgefahr, was die fehlenden beiden Ziffern für das Jahrhundert betrifft. So weit kalkulieren Menschen spontan nicht voraus. Alles, was ihr kleines Leben überdauert, interessiert sie wenig. Es liegt daran, dass wir kein Sinnesorgan dafür haben, was die Zukunft bereithält.
Das heißt, ganz wenige haben es vielleicht doch. Einer der Schriftzüge hier an den Klostermauern umfasst mehr als nur Name und Datum. Er stammt aus dem Jahr ’31, und da steht zusätzlich auch noch ein kohlrabenschwarzes Hakenkreuz. Gezeichnet etwa zwei Jahre, bevor das ganze Elend amtlich wurde, von dem wir heute immer noch zehren. Die Bewegung hatte bekanntlich schon damals eine schnell wachsende Menge von Anhängern. Hier, sollte man meinen, war wohl einer davon unterwegs. Indes ist an diesem Hakenkreuz etwas anders: Es ist mit einem roten Kreis eingefasst und mit einem schrägen roten Balken durchgestrichen, Antifa-Style.
Mich würde es wundern, wenn es diese Symbolik damals schon gegeben hätte. Außerdem, siehe oben: ausnahmsweise mal kein schwarzes Graphit. Ich nehme also an, dass die Hellsichtigkeit des durchkreuzten Nazi-Abzeichens von 1931 doch eher aus der Kategorie „Hinterher ist man klüger“ stammt. Ein späterer Kritzler hat das Werk eines früheren Kraklers zeitgemäß ergänzt.
Wie auch immer: an die Wandbeschrifter aller Zeitalter von dieser Stelle ein Gruß. Aus einer diversen Gegenwart an verschiedene Vergangenheiten und Zukünfte: Hallo, ich lebe! Und auch ich war hier, an einem Tag in der Zeit.
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