Ein unscheinbarer Angestellter schreibt privat ein brisantes Blog: Unter dem Tarnnamen David Davidoff enthüllt er die menschlichen Abgründe hinter den Hochglanz-Kulissen seines Arbeitgebers. Doch eines Tages wird seine Verachtung für die Chefs und Kollegen auf eine dramatische Probe gestellt.

Für „M.S.“

David Davidoff wusste, was der Buchhalter auf dem Herrenklo tat. Nicht, dass er es wissen wollte, ganz und gar nicht. Solches Wissen lief ihm einfach zu. Es war eine Gabe, oder vielmehr ein Fluch. Immer zur rechten Zeit am falschen Ort, so was in der Art. Davidoff hockte halt zufällig in der Nachbarkabine, zum dritten Mal an diesem Tag. Satte zwölf Minuten Lebenszeit, die er vom Arbeitgeber auf diese unverdächtige Weise zurückeroberte: Tür verriegelt, hingesetzt, Smartphone raus und das Ballerspiel trainiert. Egoshooter. Er war auf Level 8 angekommen, Sniper-Status. Den galt es zu verteidigen, ohne Ton und ohne Triumphgeschrei natürlich. Er war ja nicht blöd. Er kannte die erste Regel des Haifischbeckens: sich nie angreifbar machen, wenn man hier mitschwimmen wollte. Wer sich angreifbar machte, wurde gefressen. Mit einem verbindlichen Lächeln, aber gefressen.

Der Buchhalter war nach ihm gekommen. Der Mann war fett und verschwitzt, und Davidoff hatte ihn gleich am Körpergeruch erkannt. Oder, vielleicht noch eine Sekunde eher, an den Ächz- und Grunzgeräuschen, die der Mann bei jeder noch so kleinen Bewegung von sich gab. Der Sesselfurzer. Davidoff hasste den Buchhalter. Er hasste jeden und jede hier.

Das Haifischbecken. Ein typischer Berliner Neubau-Bürowürfel Nähe Potsdamer Platz, keimfrei, steril, vollkommen in seiner Verwechselbarkeit mit anderen neu in die Gegend geklotzten Bürowürfeln. Auf diesen Fluren war jeder seines Nächsten Feind. Verlogen das kollegiale Getue, scheißfreundlich die Intrigen, eiskalt die Exekutionen. Hätte ihm damals in den Neunzigern, als Davidoff noch als Punk und Schnorrer in der stinkenden Passage am Nolli gehockt hatte, jemand geweissagt, er würde nur acht Jahre später hier sitzen, in Schlips und Maßanzug, auf dem automatisch mit Patschuliduft bestäubten Haifischbeckenscheißhaus – er hätte ihn nur angeblökt: „Ey Alter, verfatzda! Kapitalistenknecht, icke? Kuck dich ma selbst an, Pleppo!“

Aber genau so war es. Sie hatten ihn eingestellt, weil sie ihn „tough“ fanden und „streetsmart“, beeindruckt von seiner nicht zu übersehenden Intelligenz, seinem analytischem Verstand und seinem bauernschlauen Verhandlungsgeschick. Ihm seinerseits hatte dieses Jobangebot nach seinen wilden Jahren einen Weg eröffnet, nie wieder Dreck fressen zu müssen. Jetzt, wo das Kind heranwuchs, dessen Mutter abhanden gekommen war. Jetzt, wo er Verantwortung für einen kleinen Menschen trug und wider Erwarten sogar Gefallen daran gefunden hatte. Am Kind.

Mit handgenähten ungarischen Schuhen an den Füßen und im Boss-Zweireiher fädelte Davidoff seither Deals ein, während das Kind in der Kita war. Wenn es Probleme mit renommierten Kunden gab, die schnell und souverän gelöst werden mussten, dann war Davidoff der Mann für den Termin. Wer hätte das ahnen können? Der Anarcho und die neoliberale Wirtschaftsorganisation, sie hatten eine Ehe im Himmel geschlossen. Er, der mittellose Bräutigam und sie, die durch und durch korrupte Braut, die eine für Berliner Verhältnisse üppige Mitgift zahlte. Jeden Monat aufs Neue. Nur leider: Er hasste die Braut trotzdem aus tiefstem Herzen.

Weshalb er auch den Buchhalter hasste. Den fetten Sack, der sich jetzt geräuschvoll und dem Vernehmen nach unter nicht geringen Schmerzen nur einen Meter entfernt von Davidoff entleerte. Aah, das Schlimmste schien vorüber. Doch was war das? Diese Geräusche jetzt? Er würde doch nicht … oh nein. Oh doch! Das Schmerzgeächze wurdenvon einem anschwellenden Stöhnen abgelöst, begleitet von einem rhythmischen Geklapper und Geschrabbel, das die Klobrille unter ihrer sich vor- und zurückschiebenden Last erzeugte. Der Buchhalter war jetzt enthemmt. Ganz bei sich. Ganz im Elysium.

Wie auch immer er das hinkriegte. Für Koks war der Mann zu blöd. Keine Connections, keine Cojones. Koks war Sache der Performer, der Executives, nicht der fünften Garde. Nein, Davidoff tippte auf YouPorn. Was es auch war, es zerschoss ihm offensichtlich die letzten Hirn-Synapsen. Walross-Onanie zum Mithören für alle! Ohne wenigstens zuvor gecheckt zu haben, dass die Schlösser der übrigen Kabinen „weiß“ statt „rot“ signalisierten. Ein tödlicher Fehler im oh-so-wohlanständigen Haifischbecken. Die Welt würde erfahren, wie es hinter diesen Kulissen wirklich zuging. Die ganze Wahrheit. Einmal mehr.

„Walross-Onanie zum Mithören für alle“, tippte Davidoff als Headline. Der PC-Monitor tauchte ihn in sein bläuliches Licht. Maisonettewohnung in begehrter Lage, Prenzlauer Berg. Nebenan schlief das Kind, es war nach Mitternacht. Die Stunde der Wahrheit, seit vielen Monaten. Doch die Wahrheit war eine sensible Pflanze. Sie bedurfte des schützenden Schattens der Anonymität. David Davidoffs Blog, in dem das „Haifischbecken“ die populärste Rubrik war, schrieb ein Niemand. Im realen Haifischbecken gab es keinen David Davidoff, dort mochte er Koslowski heißen oder Kramer oder ganz anders. Nur im Netz gab es ihn. Jedoch kein Impressum, keine Anschrift, nichts als eine anonyme Mail-Adresse bei GMX. In den Texten keine verwertbaren Hinweise auf seine Identität oder die seines Arbeitgebers. Letzteres schon gar nicht. Nicht mal Näheres über das Feld, in dem seine Organisation ihren beträchtlichen Einfluss ausübte.

Da draußen warteten hunderte, tausende Leser online auf die neuesten Indiskretionen von der Arbeitsfront. In der Bloggerszene hatte sich Davidoff längst einen Namen gemacht: der Mann, der dem Kapitalismus die Maske vom Gesicht riss. Er tat es stellvertretend für sie, für all die Misshandelten, die Unterdrückten in den Konzernen und den Verwaltungen, die davon träumten, aufmüpfig zu werden. Die es aber niemals wagen würden.

Mit tödlichem Witz, treffsicheren Pointen, akribischen Analysen all der Schwächen, der Dumpfheit, der Abgründe hinter Bürotüren nahm Davidoff Rache, Nacht für Nacht. Rache dafür, dass die Haifische im Becken ihn, den Punk, zu einem der ihren gemacht hatten. Einen, der funktionierte, sich anpasste, all den Müll schluckte, all die leeren Rituale mitmachte, sich für den Profit anderer verbog und seine Würde jeden Morgen beim Pförtner abgab. Dafür aber auch ein fettes Schmerzensgeld kassierte, Monat für Monat. Und sich erst spätabends brav nach Hause trollte.

Keine Gnade! Kein Pardon! Er filetierte mit scharfem Schwert die eitlen Entscheider, die Psychopathen und die Streberinnen, die Dummschwätzer und die Blender. Doch dazu musste er ebenso namenlos bleiben wie sie. Jeder Hinweis auf den Schauplatz oder die handelnden Personen hätte sofort mehr als hinreichende Gründefür eine fristlose Kündigung geliefert. Verleumdung. Untreue. Vertragsbruch. Und Schlimmeres. Es war ein dünnes Eis, auf dem sich Davidoff bewegte. Genau das, was er konnte.

„Der Buchhalter“, tippte er ins bläuliche Licht, „das ist der Typ, mit dem schon als Kind keiner spielen wollte. Der sich später immer allein an der Wand herumdrückte, wenn die anderen in der Raucherecke zusammenstanden. Der Buchhalter ist der, der dir mit seinen Bewilligungsrichtlinien und Excel-Tabellen den letzten Rest Leben aus den Adern saugt, um deinem toten Körper dann die Haut abzuziehen und zu Durchschlagpapier zu verarbeiten.“

Dann aber folgte die Schilderung der gestrigen Vorgänge in der Nachbarkabine, und plötzlich schwang beinahe so etwas wie Anerkennung für das fleischgewordene Elend mit. Denn die Stunde der Wahrheit machte den Buchhalter fast schon menschlich. Im Rahmen der Möglichkeiten des Haifischbeckens.

Der Buchhalter-Beitrag brachte David Davidoff 26 Likes und 13 hämisch amüsierte Kommentare ein. Ein durchschnittlicher Wert. Das Stück neulich über die neue Auszubildende, die ihre Möpse als Gegengewicht zur umfassenden Ahnungslosigkeit ihrer Generation einzusetzen suchte, hatte die doppelte Ausbeute erbracht. Und der Spitzenreiter der Charts für dieses Jahr war immer noch Davidoffs Report darüber, wie sich sein zweithöchster Vorgesetzter beim Teambuilding-Event in einer sauteuren, aber unerträglich geschmacklosen Mitte-Bar hatte gehen lassen.

Davidoff gab nichts auf die Kommentare seiner Fan-Schlümpfe. Von irgendwelchen Idioten, nur weil sie ihm Honig ums Maul schmierten, ließ er sich nicht kaufen. Viel wichtiger war ihm gewesen, ihnen im Blog den gesellschaftspolitischen Kontext vor Augen zu führen: Typen wie sein Chef und Organisationen wie sein Arbeitgeber hatten in ihrem hirntoten Geld- und Machtstreben dafür gesorgt, dass ein Berliner Kiez nach dem anderen „gentrifiziert“ wurde. Alte, Punks und Mittellose raus; Neubauwohnungen, Bioläden und Schnickschnack-Galerien für Besserverdienende rein. Das Schweinesystem verbreitete seine Metastasen wie ein Krebsgeschwür.

Wenn er zwischen zwei Haifisch-Terminen die Zeit fand, reihte sich Davidoff in alter Verbundenheit sogar bei den Protestierern ein, die gegen die grassierende Epidemie auf die Straße gingen. Nur im Haifischbecken gehörte er mit Leib und Seele dem Kapital. Hier aber, unter freiem Himmel, wollte er Position beziehen. Haltung zeigen. Dass er es umständehalber in Bürouniform tat, ging selbst bei den härtesten Hasskappen-Hoodies aus dem schwarzen Block als Ironie durch: Lief da eben ein Pinguin mit. Die Sturmmaske mit dem Augenschlitz machte ihn ja trotzdem zu einem der ihren. Er warf allerdings nur Farbbeutel, nie Steine. Das machte einen Unterschied, fand Davidoff.

Doch ob Stein oder Farbe: Das System gewann immer. Es holte ihn von der Straße und aus dem Internet zurück, sog ihn auf, schluckte und verdaute ihn an jedem verdammtem Arbeitstag. Das Haifischbecken saß am längeren Hebel. Er war nicht länger wirklich jung und brauchte doch das Geld. Für sich selbst, aber auch für das Kind. Und an diesem Montagmorgen musste das Kind mit ins Becken. Der Horror. Der Super-GAU. Kita bestreikt, alle potenziellen Babysitter unabkömmlich. Berlin von seiner sozial kältesten Seite: mit Kind ins Büro. Das dafür so geeignet war wie die Hölle zur Aufbewahrung von Limetten-Parfaits. Das auf seinen Fluren leibhaftige Kinder höchstens im Oh-wie-ist-das-süß-Alter unter einem Jahr tolerierte.

Diese Schmach! Die Aussicht, an den Assistentinnen und Teamleiterinnen vorbei zumüssen, ihr Mitgefühl simulierendes Eiszapfenlächeln, ihre Tuschelkommentare einzusammeln: Schaut mal, ein Vater mit Kleinkind im Schlepp, was ist da wohl schiefgegangen? Was treibt denn die Kindsmutter bloß? Davidoff warf ein paar sorgfältig kombinierte Pillen ein, bevor er das Kind in seinem Autositz auf der Rückbank festzurrte.

Der Gipfel der Demütigung war, den Nachwuchs bei der Fledermaus abstellen zu müssen. Die Fledermaus war im Haifischbecken die Frauenbeauftragte. Ihr Tiername stammte – über die ähnliche Physiognomie hinaus – daher, dass sie eine selbst für die Haie unangreifbare Flughöhe oberhalb des Wasserspiegels behauptete. Sie zwang Davidoff, seine Texte, Reports und Memos zu gendern. Sie hatte den wöchentlichen „Gleichstellungs-Jour-Fixe“ eingeführt, mit Teilnahmepflicht. Sie war der Fluchtpunkt für seine Praktikantinnen, sobald sie sich durch geringfügigste Kompetenzanforderungen diskriminiert fühlten. Zum Dank hatte die Fledermaus seit Jahren eine Hauptrolle in David Davidoffs Blogs. Aber hier musste er die Faust in der Tasche ballen. Haifischbecken-Skills! Während er, Kind an der Hand, locker-flockig an die Tür zur Gleichstellungshölle klopfte, setzte Davidoff sein Killerlächeln auf.

Geschafft! Friedlich auf dem Touchscreen eines Tablets malend, saß das Kind am Tisch gegenüber der Fledermaus, die garantiert nur darauf gewartet hatte, einen ganzen Tag lang ihr überlegenes Bespaßungstalent demonstrieren zu können. Aber auch sie war nicht blöd: Zur Tarnung hatte sie was von „Aufgaben, die dadurch liegenbleiben“ und vom „Thematisieren beim nächsten Jour Fixe“ gezetert. Davidoff indes, zwei Büros und doch Welten entfernt, hatte heute seinen Schreibtisch für sich, abgeschirmt durch das dazwischenliegende Reich und die fettige Körpermasse des Buchhalters. Seit fast zwei Stunden schon hatte er sich ungestört dem Pressespiegel und dem einen oder anderen Tinder-Kontakt auf seinem Handy widmen können.

Da tat es nebenan einen dumpfen Schlag.

Etwas Schweres war umgestürzt. Gefolgt von einem Aufschrei. Gefolgt von Poltern und weiterem Geschrei. Nebenan – das Buchhalter-Büro! Ein unbestimmt böse Ahnung ließ Davidoff das Blut in den Adern gefrieren. Drei Sekunden später war er an der Tür des Fettmolchs und riss sie auf.

Der durchgesessene Drehstuhl mit den klobigen Armstützen lag auf der Seite. Eine zersprungene Kaffeetasse daneben. Ihr verspritzter Inhalt sickerte in den Nadelfilzboden. Mit einer Gesichtsfarbe, die Davidoff selbst an diesem menschlichen Wrack noch nie gesehen hatte, hing der Buchhalter halb auf der Fensterbank, halb aus dem weit offen stehenden Fensterflügel. Achter Stock, unverbaubarer Blick über Reichstag und Spreebogen. Es war einer der wenigen Vorzüge der Unmenschen-Architektur des Haifischbeckens. Am fleischigen Arm des Buchhalters, der nach draußen baumelte, hing offenbar etwas. Etwas, das er mit verkrampften Fettfingern umklammerte. Davidoff sah nur einen Schuh. Einen Kinderschuh. Seine Knie gaben nach.

„Rein!… Ziehn!“, keuchte der Buchhalter nur. Davidoff sprang vor und hängte sich mit all seinem Gewicht an die erstbeste Körperfettwulst, die er zu fassen bekam. Zugleich stemmte er seinen Fuß auf Heizungshöhe gegen die Wand. Der Buchhalter stöhnte, nutzte aber den so verlängerten Hebel, um seinen Oberkörper samt Arm ins Zimmer zu wuchten. Den Arm und das, was daran hing. Schuh, Strumpf, Hosenbein. Kind. Schreiendes Kind.

„Bist du wahnsinnig! Wahnsinn … du kleines … dummes … hab ich dich … halt ich dich … halt dich ganz fest“, stammelte der Dicke, halb auf dem Nadelfilz zusammengesackt, halb an die Fensterbank gelehnt. Er blutete aus einer Fleischwunde am Unterarm. Erst jetzt ließ er los, und das Kind sprang Davidoff auf den Arm.

„Das muss, das muss durch die, die Verbindungstür von nebenan gekommen sein“, brabbelteder Buchhalter ins Leere. „Ich sitz da auf dem Stuhl, zur Wand gedreht, weil ich was im Wandschrank such. Kuck ich zum Fenster, weil es plötzlich zieht – sitzt da das Kind auf der Fensterbank! Und ich seh, wie’s ein Bein nach draußenschwingt …“ Dann brach er in Tränen aus.

Es war nach Mitternacht. In der Maisonettewohnung in Prenzlauer Berg leuchtete der Computerbildschirm bläulich. Nebenan schlief das Kind. Die Stunde der Wahrheit. Der Cursor stand im leeren Feld für die Headline; Davidoff starrte lange auf das rhythmische Blinken. Dann begannen seine Finger, die Tastatur zu bearbeiten.

Als sie wenig später David Davidoffs Blog anklickten, um einmal mehr die ganze Wahrheitüber das spätkapitalistische Schweinesystem zu erfahren, fanden seine Fans den neuen Beitrag vor: „Berliner Verkehr – von suizidalen Radfahrern, Irren am Steuer und Hundescheiße auf dem Bürgersteig.“

Berichte aus dem Bürgerkrieg auf den Hauptstadtstraßen waren die zweitpopulärste Rubrik in Davidoffs Blog. Das Kind, fand er, ging niemanden etwas an.


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