Um es gleich hier schon klipp und klar zu sagen: Es heißt die Titanenwurz, nicht der Titanenwurz. Der Pflanzenname hat nämlich sprachlich dieselbe Wurzel wie, ähem, „die Wurzel“, aber das ist eine rein akademische Spitzfindigkeit. Für die Masse ist es „der Wurz“. Und die Masse liebt ihn, ihren „Wurz“. So, wie sie auch ihren Gorbi und ihre Loki und überhaupt jeden, den sie nur bei einem knuddeligen Schlumpfnamen nennen kann, ohne Prüfung und Rücksicht auf Verluste ins Herz schließt.

Auch und gerade wenn er / sie / es hässlich ist wie die Nacht und stinkt wie der Leibhaftige, bzw. eben wie „der Wurz“, das allerneueste, allerhippeste Hamburger Sommer-Ding. Die Blume, die in dieser Stadt zum ersten Mal seit 1928 blühte. Da wollten sie alle hin. Und schon wieder also muss ich über ein Hamburger Gartenbau-Event bloggen – allerdings diesmal ein erfreulich kostenloses. Und eines mit nicht unbeträchtlichem Absurditäten-Charme, das muss ich zugeben.

Ort des Volksvergnügens und Ausnahmezustands: das Tropen-Gewächshaus im Stadtpark Planten un Blomen. Da steht also unter Glas der ursprünglich etwa 1,40 Meter hohe Auswuchs einer tropischen Knolle, wie sie etwa in den Regenwäldern Sumatras gedeiht und auch gern mal doppelt so groß wird. Aus Sumatra übrigens war auch jenes Exemplar gekommen, das im Jahr 1928 im „Warmhaus“ des Botanischen Gartens erblühte und schon damals die örtliche Presse zu dem erstaunten Ausruf verführte: „Auf den ersten Blick erscheint es unfasslich, dass dieser gewaltige Klumpen eine einzige Pflanzenknolle darstellt.“

Gut, dass man die Wilden Zwanziger schrieb und noch nicht Adolfs Tausendjähriges Reich der Prüderie. Denn alsbald schob sich aus dem Klumpen ein spitzes, vorwitzig steifes Pimmelchen in den Gewächshaushimmel. Aber selbst diese Erektion Eskalation war noch nichts gegen den wohligen Schauer, als die Titanenwurz ein einzelnes, vielädrig-fleischiges Blütenblatt entwickelte, das sich schließlich für eine Nacht wie ein ledriger Fächer entfaltete. Aufschrei der Presse: „Die Blüte war (…) von durchdringendem Aasgeruch, der durch die Glaswände des Gewächshauses bis zum Dammtorbahnhof hin zu spüren war.“ So die Zeitung vor 85 Jahren.

Von da bis zum Jahr des Herrn 2013 haben durchaus schon in vielen deutschen Städten Titanenwurze geblüht – so in Stuttgart, in Berlin, Bonn und Kiel. Doch wo auch immer: Stets war der hässlichen Pflanze jener olfaktorische Triumph gewiss, der die Besucher zu Brechreiz und Begeisterungsstürmen hinreißt, eigentlich aber bestimmten Insekten zwecks Bestäubung vorgaukeln soll, sie hätten den Logenplatz auf einem toten Tier erwischt.

Aus Stummfilmzeiten kommend, evolutionierte „der Wurz“ über die Jahre und Jahrzehnte zum stinkenden Sternchen des Internetzeitalters. Video killed the radio star, doch niemand schlug medial die Muffelblume aus dem Feld. Nur ausgerechnet Hamburg musste ein Menschenalter lang bis zur nächsten Show warten – Weltkrieg zwo, Währungsreform, Mauerbau und Wiedervereinigung, Elfter September und Lehman Brothers flossen erst noch die Elbe hinunter.

Deshalb hatte es sich nun das in der Hansestadt staatstragende NDR-Fernsehen nicht nehmen lassen, einen Licht-Spot wie für Ilja Richter in der guten alten TV-„Disco“ und eine Webcam im Warmhaus zu installieren, die eine Woche lang alle paar Sekunden ein aktuelles Bild vom Wurz und seinen Freunden ins Internet überspielte. Die Freunde, also die Ekeltouristen, waren sich dabei mehrheitlich überhaupt nicht bewusst, dass sie im Web-TV zu sehen waren, wie sie ihm huldigten, dem Wurz, in freudig-erregter Erwartung. Nase im Wind und Kamera im Anschlag. Gleich, gleich wird er stinken! Doch der Wurz ließ sich Zeit.

Und dann, gestern Nacht, ging plötzlich alles ganz schnell. Zu schnell. Ab etwa 23.30 Uhr stand „der Wurz“ für kurze Zeit in voller, fauliger Blüte – nach einem der heißesten Tage des Jahres. Eigens öffente das Gewächshaus heute morgen schon um 7 Uhr seine Pforten für die Menschenmassen. Und alle, alle kamen. Und es war ein Ekel, ein berauschtes Nasezuhalten, ein Anbeten und Staunen in Hamburg.

Ich gebe zu: Auch ich war dabei. Leider konnte ich mich und meine Familie erst etwa vier Stunden nach dem frühmorgendlichen Startschuss zu diesem sonntäglichen Fahrrad-Ausflug bewegen: „Auf! Auf! Zur Stinkeblume!“ Und da war es zu spät. Nur noch äußerst dezenter Aasgeruch hing bei unserer Ankunft in der Luft, keineswegs bis zum Dammtorbahnhof reichend. Das Pimmelchen war derweil in sich zusammengesackt – geradezu „kollabiert“, wie ein erschütterter Herr vor Ort berichtete.

Jene, die das Glück gehabt hatten, schon ganz früh dagewesen zu sein, raunten den Nachzüglern zu: „Um sieben war es unerträglich!“ – neidische Blicke trafen diese Augen- und Nasenzeugen. Ein junger Mann mit Smartphone, um die verborgene Web-Kamera wissend, telefonierte aus dem Gedränge mit seiner daheim vor dem Notebook sitzenden Freundin: „Ich bin jetzt beim Wurz, kannst du mich sehen?“ Rückte hin, rückte her, mit den eigenen Augen stets das Kamera-Auge suchend und doch nicht findend.

Ein etwas älterer Herr, der wohl schon viel gesehen hatte in seinem Leben, sagte beim Anblick des verbliebenen Pflanzenwracks eher enttäuscht zu seiner Begleiterin: „Sieht aus wie ein Putzlappen“. Und meiner zehnjährigen Tochter war es vorbehalten, dem merkwürdigen Gewächs wie auch dem Medienereignis seinen präzisen, wenn auch nicht wissenschaftlichen Namen zu verleihen: Titanenfurz. Der Titanenfurz.