Himmlische Gerechtigkeit existiert nicht, aber jeder Blick durchs Hubble-Teleskop steigert die Ehrfurcht vor einem universellen Masterplan. Und mit der Zeit schließt sich für mich die Lücke, die der menschheitsfixierte Christengott hinterließ.
Eli, Eli, lema sabachtani? Die Frage war, was mich betrifft, immer falsch gestellt. Sie hätte lauten sollen: Warum habe ich dich, Gott, verlassen? Über die Abgründe der Entfremdung und Entfernung hinweg empfange ich mit schwachen Antennen die einzig wahrhaftige, einzig verständliche, einzig akzeptable Antwort: Schweigen.
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Diese Antwort kommt nicht mehr vom Christengott. Sie kommt nun von meinem.
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Mein Gott schweigt nicht strafend oder vieldeutig, sondern teilnahmslos. Verglichen mit ersterem ist letzteres Schweigen Musik.
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Für meinen Gott bedürfte es neuer Pronomen. „Er“ hält nicht länger stand, „es“ – das Göttliche – mag im Ungefähren noch taugen. Im Angesicht Gottes aber zerfällt auch es zu Staub. Gottes Pronomen sind tot. Und das sage ich als Kämpfer gegen die Gendersprache.
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Um aber dem Allumfasser in den Grenzen meiner sprachlichen Mittel nicht die vertraute männliche Würde zu nehmen, bleibt es hier bei „mein Gott“. Ist er es doch, auf den sich mein einfältiges Ich seit jeher bezog, in Liebe und Hass. Das Pronomen nicht, nur alles andere hat sich verändert.
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Was soll nun mein Gott sein? Mein Gott ist, was er verneint.
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Mein Gott richtet nicht, gebietet nicht, verdammt nicht, verstößt nicht, bestraft nicht, liebt nicht, errettet nicht, erhört nicht, erwählt nicht und heilt nicht. Kein tyrannischer Gottesstaat, keine eifernde Religion, keine inquisitorische Kirche lässt sich auf diesen Fels bauen. Keine Gesetzestafeln kann ein Prophet daraus meißeln. Denn wo er den Fels sucht, ist nichts als Weite.
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Mein Gott nährt keine Beamtenkaste des Glaubens. Die korrupten Staatspfaffen fallen durch sein Raster wie alle, deren Kirchensteuern sie bewirtschaften. Und wie ich.
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Die einzige Gnade, die von meinem Gott ausgeht: Er erlöst mich vom unlösbaren Theodizee-Problem. Aber welche Erlösung das ist! Was für ein göttliches Paradoxon zudem: Indem er sich allen Ansprüchen auf Gerechtigkeit entzieht, wird er endlich allen gerecht.
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Mein Gott dealt nicht. Bitten, betteln und beten zwecklos.
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Mein Gott ist im Spiegel mein Scheitan, doch einmütig gleichgültig sind beide gegenüber meinem Werden und Vergehen.
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Mein Gott lässt mich frei. Und lässt mich einsam sein.
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„Gott hat Himmel und Erde geschaffen“ – für mich stimmiger: Mein Gott hat Himmel und Erde zugelassen. So, wie er mich zugelassen hat.
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Konzentrische Kreise: Mein Gott gab den Anstoß, als er das große Rad drehte. Von da an folgten die Sonnen seinem Plan, aber die Quanten auf ihren Mikrobahnen waren zu Unglaublichem frei. Und unsichtbar selbst vor ihrem kaum messbaren Maßstab kreisen wir um uns selbst – ausgestattet mit einem Grad an Freiheit und Irrelevanz, der Galaxien erschüttern könnte, hätten sie nur davon Kenntnis. In diesem mikrosopischen Meer der Bedeutungslosigkeit gehen wir und alle Wesen aller Welten unseren eigenen Plänen nach. Die Ebene unterhalb dessen? Nur noch Entropie.
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Jeder Blick durch das Hubble und das James Webb bringt mich Gottes Masterplan näher. Die Distanz, die er hält, bleibt unterdessen immer dieselbe.
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Gott würfelt nicht? Mag sein, aber meiner lässt die Urgewalten würfeln. Und bis zum Beweis des Gegenteils unterstelle ich ihm Schaulust beim kosmischen Spektakel seit Äonen. Ob es Supernovae waren oder gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion.
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Wie kann es sein, dass mein Gott mich nicht sieht, aber tröstet? Wie mich ein Friedhof in der Corona-Zeit tröstete: indem er mir einen Ruheraum bot vor dem törichten Anspruch der Menschen auf Rettung. Wie anders wäre innerer Frieden möglich? Was sonst machte Freiheit von Hoffnung erträglich?
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Der Vorzug meines gleichgültigen Gottes: Da er mir nichts bieten will und ich ihn nicht fürchten muss, kann ich zu ihm aufsehen in angstfreier Ehrfurcht vor dem, was ist.
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Einem Gott zu danken, der mich nicht sieht, ist eine neue Erfahrung. Zum ersten Mal ist dieser Dank selbstlos, denn nicht auf mein bedürftiges Dasein kann er zielen. Nur auf die Erhabenheit dessen, was mich in alle Richtungen überragt.
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Glück? Mein Gott hat nichts dagegen.
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Und dieser da, taubstumm und achtlos, voyeuristisch und ignorant, soll ein Gott sein?! So zürnen die Glaubenswächter. Eben, rufe ich, ist das nicht großartig?
Das klingt für mich recht pagan – sind doch die paganen („heidnischen“) Götter ähnlich gestimmt: Das Leben findet für sie im Hier und Jetzt statt – keine Heilsversprechen werden gegeben – und wenn du sie in Ruhe lässt, lassen sie dich auch in Ruhe. Insofern herzlich willkommen.
Hätte ich jetzt nicht gedacht, dass ich mit dem einsamsten aller denkbaren Gottesbilder gleich in eine neue Gemeinde assimiliert werde. Jedenfalls danke fürs Willkommen! Bin ich jetzt also Paganist? Das klingt irgendwie kinky. Aber Ihre genannten Eckpunkte sind für mich erst mal ganz in Ordnung so. Ich wüsste bloß tatsächlich nicht, wie ich den von mir skizzierten Gott aus der Ruhe bringen könnte.
Das ist ja das Schöne: Man könnte die heidnischen Götter sicher „ärgern“ – aber sie neigen nicht unbedingt dazu, sich dafür zu rächen. Ich will gar nicht wissen, wie oft ich sie schon erzürnt hätte, würde sie das überhaupt interessieren.
Nein, nein – der Zugang zu den Göttern (man darf sich da auch einen rauspicken, die sind da nicht so eifersüchtig) ist Opt-in, nicht Opt-out. Wer mag, kann sich mit ihnen anfreunden, das beruht dann auf Gegenseitigkeit. Wer nicht, der nicht.
Dann ist das wohl doch eine andere Kirche als meine Nicht-Kirche. Zumal ich mit unübersichtlicher Spezialgötter-Vielfalt schon in Indien meine Probleme hatte. Aber interessant auf jeden Fall!
Ha! Ja, da ist irgendwas zwischen 0 (so machen’s die Buddhisten ja nicht ganz erfolglos) und 1 Göttern sicher sinnvoll: man behält den Überblick. – Mission ist mir fremd, mehr als einladen kann ich nicht. 😉