Es ist eine Pest unserer Zeit: Kunst, die uns diktieren will, wie wir zu denken und die Welt zu sehen haben. Dass es auch anders geht, zeigt die NordArt in Büdelsdorf – eine Traumlandschaft aktueller Weltkunst, die dem Besucher alle Freiheit der Betrachtung lässt.

Veronika Psotková, Tschechische Republik: Essenz, 2021/2022, Rauminstallation, Rabitzgitter (Publikumspreis 2021)

Ein älterer Herr sitzt auf einem Schemel, den Gehstock zwischen den Knien, und spricht mit träge norddeutsch eingefärbter Zunge, einer Stimme wie ein langer, ruhiger Fluss. So führt uns der in Lübeck geborene Künstler Wolfgang Gramm (70), Chefkurator der Büdelsdorfer NordArt, mittels YouTube in die wohl größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst in Nordeuropa ein. Und wir sollten alle froh und dankbar sein, dass da ausnahmsweise keine hibbeligen Hipsterinnen dozieren, sondern sein dahinplätschernder Sprachfluss uns mit dieser niederdeutschen Gemütsruhe erfüllt, die geeignet ist, die Welt zu heilen.

Denn anno 2022 braucht die Kunstwelt dringend Heilung. Im Jahr der Documenta „fifteen“, als Ergebenheitsadresse an den deutschen Zeitgeist kuratiert von einem exotischen Künstler-Kollektiv, das neben lauer Provokation von der Stange nur einen peinlichen Antisemitismus-Aufruhr produzierte. Im Jahr einer Hamburger Fotografie-Triennale, die vor ideologischer Überfrachtung und Kopflastigkeit vergessen hatte, dass Kunst und Fertigkeit Werte aus eigenem Recht sind. Im Jahr einer vom Kapitalismus zerfressenen Banksy-Werkschau, die es fertigbringt, als serielle Geldpressmaschine in drei Ausstellungsstädten zugleich ihre „unautorisierte“ Impertinenz zu präsentieren. Oh nein, der Kunst geht es gar nicht gut.

Da ist Gramm, alte weiße Mann und NordArt-Veteran, eine Wohltat. Bodenständig. Kein politischer Prediger. Und keineswegs von gestern. Er und seine Co-Kuratoren, allen voran Inga Aru, spinnen vom beschaulichen Büdelsdorf in Schleswig-Holstein aus Fäden in alle Kunst-Welt, verfolgen aktuelle Trends und Entwicklungen über Grenzen hinweg, wissen, wer wichtig ist und wird. Vor allen Dingen haben Gramm & Co. ein untrügliches Gefühl dafür, wer etwas kann. Kunst kommt von Sie wissen schon, das kann man der jungen Generation von Ausstellungs-„Machenden“ nicht oft genug entgegenhalten.

Sylwester Ambroziak, Polen, aus der Serie „The Innocence“, 2021, Silikon, Acrylmasse und Epoxidharz

Der Primat der Könner- und Kennerschaft führt in Büdelsdorf zu Kriterien der Ausstellungswürdigkeit, die identitätspolitische Kulturkämpfer verstören dürften. Auf der NordArt, erklärt der Kurator Gramm mit seinem spröden Charme, gilt nur eine Losung: „Hier sollte man lächelnd oder lachend herausgehen.“ Das ist ist nun wirklich Provokation: Am Ende soll Kunst gar keine harte Arbeit sein, zumindest für den Betrachter? Aber wir sind doch in Deutschland! Wer, Herr Gramm, ist eigentlich Ihre Zielgruppe? „Na – alle!“, kommt die entwaffnend schlichte Antwort. Was? Der Pöbel ebenso wie die Elite? Die Guten wie die Bösen? Unerhört! Wollen Sie denn gar nicht die Gesellschaft spalten?

Ochirbold Ayurzana, Mongolei: Der Mensch ist kein Überfluss der Erde, 2015, Stahldraht (NordArt Preis 2019)

Kein Missverständnis: Kunst ist auch für die Macher der NordArt nicht gleich Harmonie und Blümchenwiese. Natürlich darf sie auch hier zornig sein. Sie muss es sogar bisweilen, hat sie doch sonst keinen Sinn für die Wirklichkeit. Natürlich soll und darf Kunst kein heißes Eisen liegenlassen, keine Krise unkommentiert, keinen Stein ungeworfen. Doch täte sie es auf eine Weise, die nur eine Antwort auf die Frage zulässt, die sie stellt, nur eine Lesart, dann hätte sie schon verloren. Denn dann hätte sie sich in Propaganda verwandelt, in Agitation. Dann hätte sie ihre Kunst-Fertigkeit, ihren Mehrwert der Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit, zugunsten von Lautstärke und Deutungshoheit aufgegeben.

Michal Gabriel, Tschechien: Tänzer 1–3, 2007-2009, Polyesterharz

Das passiert auf der NordArt nicht. Sie ist das Gegengift zum destruktiven Feldzug der Kulturkämpfer. Da die Kunst hier nicht in die Falle des Agitprop tappt, bleibt sie ihrem originären Existenzzweck der Kunstfertigkeit treu. Und letzten Endes darf Kunst hier eben auch das sein: Ruhe. Meditation. Nicht-Antworten. Nicht-Fragen. Nicht-Kämpfen. Die Feier der Schönheit oder des Lebens selbst ist in einem Gemälde und einer Skulptur ebenso legitim wie das Aufbegehren.

Das Großartige an Büdelsdorf aber ist: Man lässt uns hier frei. In Ruhe. Wir dürfen noch alleine denken. Oder eben gar nicht denken, wenn wir nicht wollen. Wir dürfen umherwandern und staunend entdecken. Kunst, vor allem zeitgenössische, ist ja eigentlich etwas sehr Einfaches: Es berührt einen, oder es berührt einen nicht. Alles Wissen ist da nur sekundär. Kunst spricht zu uns auf anderen Kanälen. So wie eine von Virtuosen gespielte große Kirchenorgel nicht zwangsläufig über das Gehör auf unsere Stimmung einwirkt, sondern über das Zwerchfell, über die Schwingungen und feinste Veränderungen des Luftdrucks im Raum, so kommunizieren bildende Künstler über die Materialien und Farben, über die Standorte ihrer Werke und deren Wechselwirkungen mit uns, und nicht über Pamphlete oder Parolen.

Liu Ruowang, China: Mr. Pinocchio, 2019-2022, Cortenstahl, 36 lebensgroße Figuren

Es ist auffällig, wie wenig Text man in Büdelsdorf zur Kenntnis nehmen muss. Es gibt dezente QR-Codes an den Objekten, die man bei Bedarf mit dem Handy scannen kann, um Näheres zu erfahren. Aber das war es dann auch. Keine Manifeste, keine Dogmen, keine ellenlangen Elaborate über politische oder andere „Haltungen“. Das wäre auch schon angesichts der schieren Masse von rund 1.000 Werken aus der Produktion von etwa 250 Künstlern aussichtslos. Aber es fehlt eben auch grundsätzlich dieser unbedingte Wille zur Belehrung und Volksaufklärung, der neuerdings so viele Ausstellungen vergällt. Gegendert, mit invasivem Doppelpunkt, wird leider auch auf der NordArt-Webseite, wenn auch nicht konsequent. Die Künstler haben sich diese Sprach-Gewalt antun lassen, aber schon die Kuratoren gibt es nur als genererisches Maskulinum.

Ansonsten ist von (um-)erzieherischer Penetranz und blindwütigem Social Engineerung nichts zu spüren. Das macht es einfacher, die wenigen politischen Weichenstellungen der NordArt mit unbefangener Neugier zu akzeptieren. Dieses Jahr ist Polen das Gastland der Schau, und Gott sei Dank werden trotz Ukraine-Krieg auch mit aller Selbstverständlichkeit Werke russischer Künstler gezeigt. Eine anrührende Sonderausstellung in der Wagen-Remise zeigt aktuelle mongolische Kunst – faszinierende Symbiosen jahrtausendealter Formen mit perfekt assimilierten Einflüssen der Moderne.

(links): Ali Zabeti, Iran: Aus der Serie „Dead Earth“, 2021, Öl auf Leinwand
(
rechts:) David Moješčík: Levitation III, 2009, Polyester, Glasfaser, Stahl, Acryl und Ölfarbe

Aus Anlass von „50 Jahren deutsch-chinesischer Diplomatie“ wird auch chinesische Kunst der Gegenwart in den Blick gerückt. Okay, wenn es denn der Völkerverständigung dient. Ich muss zugeben, dass ich nicht glücklich war, als ich mit dem ersten dieser Exponate ausgerechnet als Leihgabe für eine Hamburger City-Einkaufstraße konfrontiert wurde: Liu Ruowangs Affenwesen erschienen mir in ihrem dortigen Exil als bestellte Staatskunst-Propagandisten der rotgrünen Zurück-auf-die-Bäume-Doktrin. Die Büdelsdorfer Installation des Künstlers hingegen, „Mr. Pinocchio“ (siehe Foto), lässt sich auch wie ein ironischer Kommentar zum verlogenen Konsum-Glücksversprechen der chinesischen Diktatur lesen. Vielleicht nur meine Interpretation, vielleicht reichte der Mut des Künstlers dazu nicht und er spießte nur wohlfeil den blinden Materialismus des Westens auf, aber das ist eben das Gute: Die Antwort bleibt offen.

Vielleicht liegt diese gelassene Offenheit auch am ehrwürdigen Alter des Ausstellungsortes, der schon viel Aufstieg und Niedergang gesehen hat, viel Feuer, viel Rauch und viel Asche. Seit 1999 findet die NordArt im und um das „Kunstwerk Carlshütte“ herum statt, eine ehemalige Eisengießerei. Der Kaufmann Marcus Hartwig Holler hatte die Carlshütte im Jahr 1827 hochziehen lassen, in Zeiten sich öffnender Handelswege und neuer Erzfunde. Bis 1909 stieg die Belegschaft auf 1.100 an. Erst 1974 kam mit der Stahlkrise die erste Insolvenz, 1997 die endgültige Schließung. Noch heute zeugt im Skulpturenpark der Ausstellung eine kleine Brücke aus Eisenguss von 1834 davon, dass hier anderthalb Jahrhunderte lang Gebrauchswerte für die Ewigkeit geschaffen wurden.

Sukhburen Narankhuu, Mongolei: Khuch dotor orshin, 2021, Keramik

In der Carlshütte selbst ist die alte Industrie-Architektur in einen enorm produktiven Dialog mit den modernen Exponaten eingetreten. Eine verzauberte Landschaft aus rostigen Rohren und tonnenschweren Stahlträgern, zu deren Inszenierung kluge Lichtsetzer ihren Teil beigetragen haben. Für Wolfgang Gramm ist die NordArt denn auch ein Ort der optischen Ausschweifung: „Wir können hier durch die Träume dieser Welt wandern.“ Die Kunstwerke sind für ihn Ausdruck all dessen, „was man sich weltweit denken kann, was man träumt. Und so ist diese ganze Ausstellung wie ein Traum. Da entsteht natürlich auch eine Art Film für den Betrachter, der dann möglichst auch ein positives Ende findet.“

Was der Besucher nach vielen – und immer noch zu wenigen – Stunden auf der NordArt bestätigen kann. Aufwachen aus diesem Traum muss man hierzulande früh genug.

Angelika Haak, Deutschland: Exposed by the Mask, 2022, Drei-Kanal-Videoinstallation

NordArt, 24782 Büdelsdorf, 4. Juni – 9. Oktober 2022;
Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags (inkl. Feiertage), 11–19 Uhr, montags geschlossen;
Tageskarte: 18,50 Euro, ermäßigte Tageskarte: 16 Euro, Kinder bis 6 Jahre freier Eintritt, Schüler und Studenten 6,50 Euro, diverse Familienkarten und weitere Vergünstigungen
(Angaben ohne Gewähr; weitere Informationen beim Veranstalter)


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