Ich sitze am alten Schreibtisch meiner erwachsen gewordenen Tochter, die nun nicht mehr bei uns wohnt, und blicke auf die wegdämmernde Straße hinaus. Die Linden stehen nach endlosem Hamburger Wintergrau in frischem Grün, das selbst im Restlicht noch leuchtet. Durch das geschlossene Fenster dringen Vogelstimmen. Abendfrieden nennt man das wohl. Ich nenne es ein Potemkinsches Dorf.

Morgen beginnt mein siebenundfünfzigstes Lebensjahr. Was wünscht du dir zum Geburtstag? Weltfrieden, sage ich wie jedes Jahr. Dieses Mal ist es mein Ernst. Aber wie jedes Jahr werde ich ihn nicht bekommen. Mein Kopf, mein armer Kopf. Wie schaltet man diesen Kopf nur ab, der schon beim Aufwachen randaliert, ebenso wie beim Nichteinschlafenkönnen.

Wie fremd mir das alles geworden ist. Wie sehr alle Zeichen auf Abbruch stehen. Man entlässt seine Kinder in die Weite der Welt mit dem Wenigen, das man ihnen mitgeben konnte – und sie landen in diesem Land, in dieser Gesellschaft, in diesem System. Geht, geht weg von hier. Weit fort, so weit wie möglich. Hier gibt es nichts mehr für euch. Ihr seid stark und werdet das Glück anderswo finden. Aber das hier? Das ist nicht, was ich für euch wollte.

Ach oder nein, bitte bleibt, bleibt doch hier! In der Nähe vielleicht. Oder nicht unerreichbar zumindest, wenn ich mir noch etwas wünschen darf. Es muss doch möglich sein, dem Treibsand noch etwas Halt abzutrotzen. Nichts bereuen, nichts preisgeben, nicht einmal diesen trügerischen Flecken Festland. Seelenfrieden gibt es nur im Kampf. Es bleibt ein Kern zu beschützen, bis zu dem sie nicht vordringen dürfen. Auch nicht im siebenundfünfzigsten Jahr.


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