Obwohl die politische Lyrik schon mausetot war, hat sie eine große Zukunft. Die Gründe liegen tief im Permafrostboden der Merkelrepublik.

Wann immer auf TWASBO ein Text erscheint, der sich mit Lyrik auseinandersetzt, oder gar ein leibhaftiges Gedicht, sehe ich die Klickzahlen in den Keller rauschen. Dennoch gibt es hier seit vielen Jahren immer wieder lyrische bzw. poetische Veröffentlichungen. Und mit dem Poesie-Album haben sie sogar eine eigene Abteilung im Blog.

Das habe ich nicht absichtsvoll so eingerichtet. Es ist über die Jahre beinahe unterbewusst, ungeplant so gekommen, geradezu antizyklisch zu allen literarischen und medialen Trends sowie zu meinen Versuchen, diese Trends zu bedienen. Und genau das lässt mich aufhorchen. Wieso hat Lyrik offenbar aus einem Eigenleben heraus ihren Platz in meinem Blog erobert?

Laut Duden sind Lyrik und Poesie bedeutungsgleich – als Literaturgattung. Während jedoch Lyrik nur als Textform existiert, greift die Poesie weit in den vor-literarischen Raum aus. Sie ist somit umfassender, metaphysischer und ätherischer als Lyrik; sie liegt sozusagen „in der Luft“. Zum Beispiel kann Poesie als unbenannt wehmütige Stimmung von einem Baum ausgehen, dem jemand dabei zusieht, wie er seine kahlen Äste als Scherenschnitt in eine verschneite Winterlandschaft reckt. Lyrik hingegen strahlt der Baum nicht aus; sie muss erst in Worte, Verse und Rhyhtmen gegossen werden, erfordert also von dem wehmütigen Betrachter zunächst einmal sprachliche Verdauungsarbeit.

Geht es um das produktive Ver-Dichten noch namenloser Stimmungen, „Vibrations“, wie die Blumenkinder von ’68 jene diffus wabernden gesellschaftlichen Schwinungen nannten, dann ist Lyrik der Poesie-Kompressor, der das verdichtete Extrakt, die Quintessenz dessen ausstößt, was in der Luft liegt. Gelingt ihr das auch noch im Spannungsfeld sozialer Konflikte, dann kann sie eminent analytisch und kommentierend, ja agitierend sein. Dann ist sie politische Lyrik.

Politische Lyrik? Wie soll das aussehen? Gereimtes über die Sozialdemokraten („SPD / das tut weh“)? Oder vielmehr Ungereimtes über die Sozialdemokraten („SPD / das hältst du im Kopf nicht aus“), was sich bei dieser Partei ja auch viel mehr anbietet? Für meinen Geschmack gilt es zunächst, politische Lyriker und agitierend aufspielende Politbarden à la Wader oder Wecker streng separiert zu betrachten. Während erstere die Klampfe oder das Klavier für den Sieg der Revolution bearbeiten und dabei auf den „Rhythmus, wo jeder mit muss“ setzen, schlagen Lyriker von Natur aus eher zweiflerische, jedenfalls vieldeutigere und zumeist auch kunstvollere Töne an. Insofern zählt übrigens Biermann für mich ohne jede Frage zum Lyriker-Lager.

Aber um auf die tragisch dahinsiechende SPD zurückzukommen: Warum zum Teufel sollte jemand etwas so Profanes, sprachlich oft so elend Verdruckstes und gedanklich so Deprimierendes wie (Partei-)Politik mit den Mitteln der Dichtkunst verarbeiten wollen?

Bis ungefähr Ende der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hätten auf diese Frage noch relativ viele Menschen Antworten gewusst, die erstaunlich un-zynisch geklungen hätten. Etwa so: „Politische Lyrik ist im Land der Dichter und Denker, als das wir uns ja mit einigem Recht gerne sehen, eine stolze und einflussreiche Strömung der Literatur. Als solche steht sie wiederum in der noch erhabeneren Tradition der Aufklärung, also der intellektuellen Emanzipation der Plebejer und ihres Freiheitskampfes gegen Unterdrückung durch Fürsten, Klerus und Kapital. Gerade die großen politischen Dichter wie Heine, Brecht oder Benn haben als poetische Seimographen die großen kulturellen Kämpfe ihrer Epochen dichterisch auf den Punkt und die Gesellschaft damit deutlich vorangebracht.“

Dann aber, spätestens nach dem Verebben der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss einerseits und dem Ende des SED-Regimes andererseits, lag irgendwann auch die politische Lyrik am Boden.

Vielleicht hatte sich die damalige dichterische Attitüde des „weichen Wassers“, das den Stein schon schleifen werde, einfach totgeritten. Oder sie war zugrundegegangen an den bleiernen Kohl-Jahren, gefolgt von der nicht minder bleiernen Schröder- und vor allem Merkelzeit. Der fast pausenlos über mehr als 35 Jahre niederdrückende Mühlstein des Anti-Intellektualismus und Neoliberalismus hat nahezu alle Poesie erstickt, dem dichterischen Denken die Luft abgeklemmt.

Zweifellos könnte man auch die allgemein sich zuspitzende Bildungsmisere als Grund herbeizitieren. Sie nahm den Menschen die Fähigkeit, Worte für Stimmungen und Seelenzustände zu goutieren oder gar zu finden, die über „geil!“ und „scheiße!“ hinausgehen. Und natürlich hat das Internet seinen Teil beigetragen, mit all der Zerstreuung durch bunte Bildchen und Katzenfilmchen und Anbrüllerei in Asozialen Medien. Irgenwie ist letzteres ja auch Politik, bei der man sogar weder denken noch sich einfühlen noch reflektieren muss. Die politische Lyrik war also am Ende, erledigt, kaputt – und das vermeintlich für immer.

Der fast pausenlos über mehr als 35 Jahre niederdrückende Mühlstein des Anti-Intellektualismus und Neoliberalismus hat nahezu alle Poesie erstickt.

Vor einigen Jahren allerdings, und ich kreise hier für mich ganz besonders die Zeit ab September 2015 ein, begann eine merkwürdige Metamorphose. Zu deren vermutlichen Gründen komme ich gleich noch. Menschen, die nie damit gerechnet hätten, wurden vom offenbar unausrottbaren Lyrik-Virus infiziert, der in den Permafrost-Böden der Merkelrepublik überwintert hatte. Ich selbst war mir lange Zeit gar nicht bewusst, dass ich politische Lyrik bzw. Poesie schreibe. Aber jetzt, wo ich es schwarz auf weiß habe, scheint es mir nicht nur wahr zu sein, sondern auch folgerichtig.

Es ist nämlich so: Ich lese am Samstag in Berlin politische Gedichte vor. Im Rahmen der Endausscheidung beim Wettbewerb Polly 2019, wobei „Polly“ die Abkürzung für – na klar – politische Lyrik ist. Wenn dort am späten Abend alle Töne verklungen sind, geht die Publikums-Jury ans Werk und fällt ihr Urteil.

Über den „Polly“ war ich mehr oder minder zufällig im Netz gestolpert. Das Motto lautete in diesem voraussichtlich letzten Jahr des Wettbewerbs hübsch doppeldeutig: „Auf zum letzten Gefecht!“ Daraufhin durchkämmte ich meine Asservaten, dachte bei drei Gedichten: „Passt!“, und schickte alle drei ein. Nun stehe ich, für mich selbst überraschend, auf einer Shortlist von 15 Dichterinnen und Dichtern, die am 19. Oktober in der Lettrétage am Mehringdamm um die drei ausgelobten Preise wettstreiten sollen. Es gibt bereits eine Publikation, in der man alle Texte der Shortlist nachlesen kann (meine sind dieser, dieser und dieser).

Und das Ding ist: Ich beginne, an die Wiederauferstehung der politischen Poesie zu glauben. Kommen Sie mir da bitte nicht mit Logik, Sachverstand oder „Märkten“. Es ist, und nichts wäre diesem Gegenstand angemessener, nur so ein Gefühl. Das aber aus einigen sehr konkreten Quellen gespeist wird.

Es bricht jetzt in eine Zeit an, in der sich all die mit Mühe unterm Deckel gehaltenen gesellschaftlichen Konflikte und „produktiven Widersprüche“ über jede Schmerzgrenze hinweg zuspitzen. Gerade das Unter-dem-Deckel-Halten, also Verschweigen, Vertuschen, Um-den-Brei-Herumreden und erst recht das Mit-Sprachverboten-Belegen war und ist aber ein äußerst fruchtbarer Nährboden für politische Lyrik.

Wo wir nicht schon begonnen haben, werden wir in den kommenden Jahren lernen, ganz ähnlich wie die Menschen in der ehemaligen DDR „zwischen den Zeilen“ zu lesen. Nämlich das, was in den offiziellen Zeilen aus Gründen politischer Korrektheit und Systemkonformität nicht mehr stehen darf. Seien das nun Zeitungsartikel, Fernsehberichte, Romane oder Reden.

Je mehr die herrschende Elite das Tabuisieren bestimmter Themen und das Penetrieren ihrer eigenen Agenda perfektioniert, je schriller die Mainstream-Medien das Hohelied der Regierungsfrömmigkeit singen, je unverfrorener die lizensierten Meinungsmacher ihre Deutungshoheit auch mit vulgärer Stigmatisierung und Denunziation Andersdenkender durchzudrücken suchen – desto mehr teilt sich die öffentliche Rede in Gebet und Geschrei.

Es existieren damit zwei Ebenen von Prosa: diejenige, die sakrosankt und pasteurisiert durch die Filter der professionellen Wortanstalten gelangt (das Gebet), und diejenige, die sich stattdessen in weitgehend ungefilterten Netz-Foren austobt (das Geschrei). Beide sind zunehmend unverdaulich. Beide sind Begleitboote des postdemokratischen Panzerkreuzers, der bereits durch die heimischen Gewässer zu pflügen beginnt.

Beide indes bereiten eben auch jener subversiven Wortkunst den Boden, die nicht so leicht verortbar und verhaftbar ist. Die im Ungefähren floriert, Zwischentöne einfängt und zu einem semantischen Parfüm destilliert. Die Anrüchiges ruchbar und Unerhörtes hörbar macht, indem sie zum Beispiel die Lücken, wo etwas zu hören sein sollte, laut erklingen lässt. Genau das bewirkt, wo sie besonders gut ist, politische Lyrik. Und diese Fähigkeit wird neue Wertschätzung erhalten, weil kaum noch anderes aufzulesen sein wird, das unzensierte Orientierung verspricht.

Es existieren damit jetzt zwei Ebenen von Prosa: die gefilterte (das Gebet) und die ungefilterte (das Geschrei). Beide sind zunehmend unverdaulich.

Doch kein Vertun: Das Einschleusen verschlüsselter Botschaften in den ansonsten störungsfrei kanalisierten Diskurs wird, wie in allen Krisenzeiten zuvor, von den Dichtern Mut erfordern. Denn es wird kein Mangel herrschen an Versuchen, die widerborstigen Wortabwäger zu dechiffrieren, zu entwaffnen und günstigenfalls nur mundtot zu machen. Alle vor- oder nachdemokratischen Eliten und ihre Handlanger haben es so gehalten. Alle wussten, warum. Es steht viel auf dem Spiel für sie, zu viel, um sich von Dichtern in die Parade fahren zu lassen.

Noch aber adaptiert sich die Lyrik, die den auftauenden Permafrostboden gerade neu durchbrochen hat, erst an die aktuellen klimatischen Bedingungen. Noch ist sie dabei, wieder ernsthaft politisch zu werden – und damit ebenso störend wie produktiv. Was ihr dabei zugute kommt, ist ihre überwiegend kurze Form. Gerade recht für die Generation Twitter, deren Aufmerksamkeitsspanne ansonsten kein politisches Pamphlet mehr verarbeiten könnte.

Dennoch, es ist ein mühsamer Neubeginn. Der Stifter des Polly-Preises, Jörn Sack, hat sich mit den Mitteln seines Wettbewerbs zehn Jahre an der Rekultivierung abgearbeitet. Im aktuellen Zweijahresbuch der politischen Lyrik klagt er: „Zum Schluss komme ich nicht umhin, eine gewisse persönliche Enttäuschung über die geringe Aufmerksamkeit auszudrücken, die ein solcher … Wettbewerb trotz seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung in der Öffentlichkeit, insbesondere den Medien, findet.“

Nun, die klassischen Medien müssen wir aus besagten Gründen wohl tatsächlich abschreiben. Ich bin trotzdem fast sicher, dass Jörn Sack seine Saat noch aufgehen sehen wird. In diesem Sinne: „Auf zum letzten Gefecht!“