Theater in den Zeiten von Corona: Ein Dostojewski-Abend im Horner „Zimmer“ weckt Erinnerungen an das Körpergefühl des alten kulturellen Lebens – und macht die Wunden des Social Distancing umso spürbarer.

Zwölf Plätze. Zwölf Zuschauer statt 40. Das ist Theater in den Zeiten von Corona. Jedenfalls im Hamburger „Zimmer“, das schon vom Namen her und in normalen Zeiten nur ein sehr begrenztes Publikum aufnehmen kann.

Jetzt aber, mit penibel abgezirkelten Sicherheitsabständen zwischen den Stühlen, mit strategisch platzierten Desinfektionsmittelspendern, mit individuell in Hygienepapier eingewickelten Weingläsern an der Selbstbedienungsbar, mit Maskenpflicht bis zum Erlöschen der Zimmerbeleuchtung (weil die Viren dann die Orientierung verlieren) – jetzt ist alles noch mal anders in diesem Horner Hort der Kompaktkultur.

Und das ist der faszinierende Nebeneffekt meines ersten Theaterabends seit Ausbruch der Seuche: Hier, in diesem Kämmerchen, wo eh schon keine Grenze existiert zwischen Bühne und Bestuhlung, zwischen den Atemwolken der sich in Hitze spielenden Mimen und dem gelegentlichen Husten eines Zuschaues, hier ist jetzt endgültig alles Theater. Corona-Theater. Und wir spielen alle mit. Hier geht heute ein Stück viral.

Es fängt schon damit an, dass wir den Laden nicht betreten dürfen. Irgendeine aktuelle Ordnungsmachtverfügung will es so, dass erst 15 Minuten vor Beginn der Vorstellung die schmale Pforte geöffnet wird. Und auch das nur nach einer ausführlichen, auf dem abendlich düsteren Bürgersteig vorgetragenen Unterweisung in Sozialetikette: Bitte desinfizieren Sie sich. Bitte identifizieren Sie sich. Bitte atmen Sie nach Möglichkeit nicht. Bitte beeilen Sie sich. Bitte maskieren Sie sich. (Jeder Mensch ein Künstler: Ohne Maske kommt selbst der Zuschauer nicht mehr ins Theater.) Haben Sie noch Fragen?

Ja: Wann ist Corona vorbei?

Dann aber sind wir doch drin in diesem schwarzen Loch von Zimmerchen, über dessen Sogwirkung ich bei anderer Gelegenheit schon geschrieben habe. Haben uns brav beeilt mit der Getränkeauswahl, dabei die Luft angehalten, die Mund-Nasen-Bedeckung zurechtgezuppelt, die Meldezettel ordnungsgemäß ausgefüllt und die Meldekugelschreiber gleich mit in den Schlitz der stark nach Wahlurne (Trump oder Biden?) aussehenden Meldeutensilienbox geschoben.

Jetzt dürften wir eigentlich in passiver Konsumentenhaltung erstarren, wir haben schließlich dafür bezahlt. Aber wie gesagt: Corona macht uns alle zu Amöben, und in dieser Versuchsanordnung haben wir noch eine Rolle zu spielen.

Alle Szenenfotos: Bela Hoche

Das Licht geht aus, die Masken fallen. Jedenfalls meine. Ich bin bei Dunkelheit nicht ansteckbar und auch nicht ansteckend. Doch, man kann so etwas beschließen. Wenn man sich sehr konzentriert, funktioniert es auch. Was gibt es eigentlich heute Abend? Ach, schau an: Dostojewski. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir ganz egal gewesen. Ich wollte nur raus. Ein Einzeller, der aus seiner Einzelzelle ausbricht: Flucht vor Fernseher und Computer und der Endlosschleifensendung „Es wird alles noch viel schlimmer!“ (Das Hamstern geht wieder los, haben Sie schon gehört, beim Lidl kein Toilettenpapier!)

Stattdessen nichts wie rein ins richtige Leben, egal wie eingeschränkt, nur bitte aus Fleisch und Blut, direkt, unmittelbar, Auge in Auge, Atemzug um Atemzug. Einmal noch vor dem nächsten, dem längst eingeläuteten Lockdown. Gerne auch mit Dostojewski als Vorwand. Obwohl, diese alten Russen, ich weiß ja nicht, die schwafeln gerne und kommen nicht auf den Punkt, die hatten einfach zu viel Zeit damals und sonst von allem zu wenig. Aber warten wir mal ab. Geben wir Fjodor eine Chance. Bespielt mich! Lasst mich träumen! Mich vergessen! Das immerhin muss ja auch das Lebensgefühl des ollen Romanciers gewesen sein.

Und geträumt wird von der ersten Silbe an. Sandra Kiefer und Lars Ceglecki tasten sich in das rätselhafte Bühnenbild von Heike Böttcher hinein, die auch für die schrecklichen Onesies oder Strampler veranwortlich ist, in denen das Schauspielerpaar auftreten muss. Wo sind wir hier? In einem Schwimmbad? Einem Schlachthof? Einer psychiatrischen Klinik? Diese abwaschbaren Kacheln in Türkis, sie schreien: Anonymität. Sterilität. Verlorenheit. Sie schreien Corona.

Dostojewskis Novelle „Weiße Nächte“ berichtet laut Untertitel „aus den Memoiren eines Träumers“. Im kaltgrellen Sommernachtsleuchten von Sankt Petersburg kommen sich lieblose Verwirrte näher, verlieben sich, verlieren sich wieder. Berühren aber tun hier nur Worte. Gesten hingegen, diese menschlichsten aller Regungen, vermittelt die Regie von Jona Manow dadurch, dass sie berichtet, rezitiert, geradezu aufgesagt werden: „Sie streckte ihre Hand nach mir aus.“ Das muss genügen. Im kalten Licht der Wirklichkeit sehen wir Sandra Kiefer tatsächlich nur ein Kissen umklammern, die Grundausrüstung aller Träumenden.

Und das mit anzusehen schmerzt in dieser Zeit, in dieser Welt, mehr als vermutet. Diese künstlich gehaltene Distanz zwischen den beiden. Diese niemals, bis zum Schluss nicht, überbrückbare Barriere. Nur Elementarteilchen existieren an jenem „lost place“, den die Kulisse darstellen soll. Wir aber, das Publikum, das nur ein einziger Schritt von diesem Ort der Verlorenheit trennt, wir dienen den beiden Schauspielern als Spiegel. Wenn sie uns anblinzeln aus dem grell ausgeleuchteten Viereck heraus und wir blinzeln aus dem Halbdunkel zurück, dann synchronisieren wir für Sekunden den Traum von menschlicher Berührung.

Das ist unsere Rolle als Publikum, nicht nur heute Abend, aber heute besonders: Komplizen einer zeitlosen Sehnsucht zu sein. Wir, das verwegene Dutzend auf den zwölf verbliebenen Stühlen, und die beiden dort vorn, wir wollen heute noch mal Mensch sein, bevor wieder die Axt fällt und die Dunkelheit der neuen Weltordnung uns alle verschlingt. Aber Dostojewski, der sich in russischen Kältegraden eingerichtet hat, hält nur den Traum davon für möglich.

Und doch macht auch dieser Abend die eigene und kollektive Existenz wieder etwas wärmer, wie immer im „Zimmer“. Da ist für 90 Minuten die Möglichkeit im Spiel, dass wir alle wieder zueinander finden könnten. Wenn auch nur zu zwölft. Wenn auch nur mit Worten. Wenn auch nur geträumt.