Sommerfrische in Sankt Peter-Ording. Und plötzlich ist Deutschland noch einmal ganz bei sich. Warum sortiert sich das im Urlaub so, entgegen allen Völkerwanderungsströmen?

Keine Kopftücher. Keine „Burkinis“, keine die weibliche Körperform verdeckenden Gewänder. Keine Gruppen arabischer junger Männer. Keine Türken, keine Kurden, keine rumänischen oder bulgarischen Tagelöhner. Keine Bettler vom Balkan. Keine dunkle Hautfarbe – außer tiefengebräunten schwäbischen Rentnern, die nach Zweitwohnsitz auf Mallorca aussehen.

Das Nordseebad Sankt Peter-Ording im Juli 2017. Überall Deutsche – am Strand, in den Restaurants, in den Geschäften. Selbst das Personal, das die Tourismusmaschine am Laufen hält, ist fast ausschließlich „indigen“: dem Anschein nach ohne Migrationshintergrund über Landes- und Kulturgrenzen hinweg, jedenfalls während der zurückliegenden Jahrzehnte.

Das fällt ins Auge, wenn man aus Hamburg kommt. Und ich berichte es ohne Wertung, nur mit Erstaunen, wie sehr es ins Auge fällt. Wie sehr ich mich schon daran gewöhnt hatte, dass Deutschland heute eigentlich anders aussieht. Sich anders anhört, anders anfühlt.

Schlechtes Wetter, gute Luft: St. Peter-Ording

Aber hier ist Nordseestrand, Urlaubsland. Das temporäre Paradies, das Refugium, das wir Deutschen uns schaffen für jene Wochen im Jahr, in denen alles „perfekt“ zu sein hat. Wir Deutschen, die wir Statistiken zufolge aus Angst vor der zunehmend gewalttätigen Außenwelt oder aus Abscheu vor radikaler Ideologisierung unseren Urlaub wieder deutlich öfter im „eigenen Land“ verbringen. USA und Türkei sind out, Sankt Peter-Ording ist in.

Hier sind wir also, jedenfalls eine repräsentative Anzahl von uns. Zeit für Beobachtungen. Und für den Abgleich mit der Erinnerung daran, wie das mal war: wir Deutschen, weitgehend unter uns.

Wir Männer tragen, einem deutschen Naturgesetz folgend, bei jedem Wetter und unter allen Umständen Shorts.

Wir sind immer noch ganz schön viele. Wir sind überall. Die nervig-lauten Nachbarn im Ferienapartment: Rheinländer. Die Sandburgnachbarn: sonnenverbrannte Schwaben, siehe oben. Die Kitesurfer in den aufgepeitschten Wellen: Hessen. Die Radwanderer hinterm Deich: aus Thüringen.

Dialekte aus „allen deutschen Gauen“, hätte man früher gesagt, als das noch ein argloses Statement war. Und unsere teutonischen Eigenarten, sie sind auch noch alle da. Siebzehn Jahr‘, blondes Haar, trallala.

Wir Männer tragen am Urlaubsort, einem deutschen Naturgesetz folgend, bei jedem Wetter und in jedem Alter Shorts, denn wir haben Freizeit und sind lässig-sportiv.

Regnet es länger als fünf Stunden am Stück, laufen wir deutsche Urlauber mit Gesichtern herum, die stumm nach fähigen Rechtsantwälten schreien, obwohl wir genau dieses Küstenwetter vom letzten Mal kennen. Und vom Mal davor.

Regnet es länger als sieben Stunden, kann uns nur noch die Shoppingmeile Trost spenden, in die sich jede Nordesee-Kleinstadt-Hauptstraße verwandelt hat. Dann werden wir Bonusmeilensammler zu Schnäppchenjägern, die im 21. Jahrhundert immerhin das Fremdwort „Sale“ gelernt haben.

Natürlich zanken wir auch, sofern wir als Paare/Familien auftreten. Einer heult immer. Und mindestens ein anderer schmollt.

Wir bauen immer noch unsere altbewährten Sandburgen, wir Hamburger, Duisburger, Freiburger. Wir schaffen uns „Privatsphäre“ am Strand und bewachen sie mit Zähnen und Klauen. Die Deutschen schützen ihre Grenzen nicht? Wir sind immer noch das Volk, das die alarmroten „Reseviert“-Badetücher erfunden hat!

Überhaupt: Reservierungen. Darin bleiben wir unangefochtene Weltmeister. Planen wir im Urlaub einen Gang in den Biergarten, reservieren wir schon im Reisebüro die entsprechenden Bänke, und zwar für 16.45 Uhr. Und wenn es dazu eine All-inclusive-Option gibt, buchen wir die mit.

Natürlich zanken wir auch wie in meinen Kindertagen, sofern wir als Paare/Familien auftreten. Einer heult immer. Und mindestens ein anderer schmollt. Bis wir uns wieder vertragen, im milden Licht eines nordfriesischen Sonnenuntergangs, bei einer schlechten Flasche Wein. Denn wir können nicht anders, wir deutschen Romantiker.

Wir versuchen sogar tapfer, im Urlaub nicht zu rasen oder zu drängeln – als Ausweis einer gelassen-souveränen Lebensart, wie sie uns deutsche Menschen von Welt heutzutage auszeichnet. Es sei denn natürlich, jemand will uns unsere Reservierung oder unser Schnäppchen wegschnappen, und währenddessen regnet es gerade. Dafür haben wir nicht bezahlt bzw. ich war aber zuerst da bzw. Unverschämtheit bzw. du mich auch!

Radfahrer werden hier auf die Rechtslage aufmerksam gemacht

Aber meistens sind wir ganz nett, wir Urlaubsdeutschen. Wir Strandpiraten-Volksgemeinschaft. Manchmal kommen wir sogar ins Gespräch miteinander, so von Stuttgarter zu Kölnerin. Wir schauen ja alle Tatort, darüber kann man trefflich tratschen. Wir lesen aber auch immer noch so viel im Strandkorb, wenn auch kaum noch die BILD in Papierform.

Wir sind begeisterte Hundehalter oder Extremspotler oder Fettleibige oder Nacktbader, auf jeden Fall begeistert. Bier bleibt unser Nationalgetränk, und die Diskussionen über die einzig richtige Marke sind seit 1975 einem amtlichen Endergebnis noch kein Stück nähergekommen.

Apropos 1975. Wir waren ja in meiner Kinderzeit in den Sommerferien vom Allgäu bis zu den Nordseeinseln als Deutsche nicht deswegen weitgehend unter uns, weil wir keine Ausländer unter uns gewollt hätten. Sondern weil die Ausländer gar nicht auf die absurde Idee kamen, uns zu besuchen.

Sie hatten doch im Zweifel daheim alles viel schöner: das Wetter, den Strand, das Essen, den Wein, die Berge, die Luft. Wozu ins kalte, regnerische und im Winter nicht einmal schneesichere Deutschland reisen, wo man zudem eine Sprache pflegte, die schon allein als Ausschlusskriterium für fremde Ohren und Zungen hinreichte?

Sie hatten ja im Zweifel daheim alles viel schöner: das Wetter, den Strand, das Essen, den Wein.

Wohnwagen-Holländer, Dänen und ein paar versprengte Schweizer, wenige Engländer, später auch mal der ein oder andere Spanier – das waren die Exoten in unseren Breiten, als ich noch Schulferien hatte. Die anderen kamen auch gar nicht wie die ewig romantischen Deutschen auf die Idee, im Nieselregen zwanghaft drittklassige Berge im Harz zu bewandern, um im Mythos von den Brockenhexen zu schwelgen.

Nie wären sie auf den Spuren Fontanes ergriffen durch den Streusand der Mark Brandenburg geschlurft. Oder hätten sich im Nebel der Lüneburger Heide an windschiefen Schafställen begeistert, die vielleicht von Caspar David Friedrich hätten gemalt worden sein können.

Diese merkwürdigen Deutschen, die meisten von ihnen Ungläubige vor dem Herrn, dennoch dauerhaft unter dem Bann stehend, barocke bayerische Dorfkirchlein mit Zwiebeltürmen besichtigen zu müssen und den Dom zu Worms sowieso.

Nach diesen Vorlieben im einen oder Abneigungen im anderen Lager sortiert sich das multikulturelle Deutschand von heute immer noch wie zu Adenauers Zeiten. In den Ferien teilt sich der Mahlstrom der großen Völkerwanderung, der dieses Land ergriffen hat, wie von Zauberhand in separate Ströme und Tümpel.

Keine Araber bei meiner letzten Brockenwanderung. Keine Kosovo-Albaner mit eigener Sandburg am Strand. Kein rumänisches Beachvolleyballteam auf Sylt. Deutschtürken besuchen in den Sommerferien lieber die Verwandtschaft in Anatolien. Syrern im Asylverfahren fehlen Mittel, Rechte und vermutlich Interesse. Franzosen fehlt der Glaube an unsere Kochkünste, Italienern die Geduld für unsere Sprache. Und alle schreckt unser Wetter.

In den Ferien teilt sich der Mahlstrom der großen Völkerwanderung wie von Zauberhand in separate Ströme und Tümpel.

So bleiben wir unter uns als Urlauber an Deutschlands Küste, für ein paar außergewöhnliche Wochen der historisch-kulturellen Kongruenz, der Übereinstimmung von Erinnerung und Erleben. Bis wir dann unsere Koffer packen in Sankt Peter-Ording, in Wyk auf Föhr, in Boltenhagen und Binz. Bis wir unsere Audis und Tourans und BMWs beladen.

Und heimkehren nach Alltagsland.

Wir können auch sportlich.