Als wir uns noch Briefe schickten, wurde „Du“ großgeschrieben und „ich“ klein. Jetzt wird die prallvolle Schublade aufgeräumt.

Da ist diese Schublade, die seit langem aus allen Nähten platzte. Heute war sie fällig: aussortieren, wegwerfen die Briefe und Karten aus mindestens vier Jahrzehnten. Die guten ins Töpfchen, die schlechten … nein, so geht es nicht. Auch die schlechten erzählen mir etwas über mein Leben, auch die könnten eines Tages beim Wiederlesen zum ersten Mal Sinn ergeben. Also wie das sortieren? Ins Kröpfchen die Routinen: Weihnachten, Geburtstage, Urlaubsgrüße. Die Namen, die ich vergessen habe: Wer war Markus? Wer Ines? Und warum haben wir uns lange Briefe geschrieben? Die Einladungen, die Wegbeschreibungen: wegbeschrieben, weg. Die Geburten, die Hochzeiten – aber nicht die Todesfälle, die nicht. Die von uns gingen, die wir verloren haben, die sollen bleiben. Wie wir liebten, wie wir litten, das alles soll bleiben.

Wir wussten gar nicht, wie groß unsere Wortwelt war, wie geistreich wir waren. Setzten uns in den Postzug mit Netzkarte und fuhren los, Fahrtwind aus dem offenen Abteilfenster im Haar. Buchten einen Gedankenflug, kamen an, fuhren im klapprigen Taxi oder im Bus mit fehlender Frontscheibe ins Backpacker Hostel. Schrieben postlagernd, poste restante. Bekamen im Ernstfall Telegramme, jedes Wort einzeln berechnet. Saßen zuhause und warteten auf Post, also auf einen Briefträger, der an den Briefkästen rappelte. Auch Luftpostbriefe darin, par avion, immer zu kräftige Anschläge oder Kugelschreiberstriche auf einem Hauch von Papier stanzten und fetzten Löcher in die Vokale.

„Heidelberg, den 4.4.88“

„Bad Hersfeld, 19.7.97“

„Irgendwo in der Atacama-Wüste, 12. Dezember 1998“

Winzige Buchstaben, engst beschriebene Zeilen fast ohne Abstand; dann, am Ende des vorgesehenen Platzes auf dem Papier angekommen, noch eine allerletzte Zeile trotzig und atemlos um den ganzen, erst halben Text gewickelt; schließlich, in der Sackgasse ohne den letzten Ausweg, nur noch ein Initial statt eines Namens nach den Grüßen. Maximale Ausnutzung der Freiheit, eine Botschaft an einen Menschen zu richten. So, als ob wir geahnt hätten, dass die kommenden Zeiten der multimedialen Omnipräsenz uns nicht grenzenlos, sondern sprachlos zurücklassen würden. Die Stimmen vor dem Verstummen, der Redestrom vor dem Vesiegen, der Wörtersee vor dem Vertrocknen.

Was trieb uns auseinander? Die langsame Plattentektonik der Zeit, von einzelnen Beben interpunktiert. Und erst am Ende der Timeline, auf den letzten Zentimetern zum Heute, das dauernde, zunehmend ratternde Rüttelsieb, das jede Feder entgleisen lässt, alle Linienführung durchkreuzt, nicht mehr Ruhe geben will. Es ist wie das Schreiben auf Pergament im fahrenden Zug, während er kreischend und stampfend die Weichen und Schwellen und Kurven nimmt. Die Filzstiftspitze schlägt aus wie ein Seismograf, der das kommende Weltende registriert. Resigniert stecke ich die Kappe auf den Federhalter, unfähig, auch nur noch eine Zeile mit Herzenstinte zu schreiben. Die Finger haben nach all den Jahrzehnten verlernt, was die Grundschule lehrte. Die Handschrift nun wieder die eines Kindes, lange vor dem Zittern der Vergreisung.

Aber damals konnten wir schreiben. Von den tausend Schmerzen der Liebe und dem einen der Nichtliebe. Von der Nähe, von der Ferne, und den Hin- und Rückwegen durch die Nacht. Vom Beisammensein, vom Getrenntsein. Von der Welt, die so offen lag, als sei das gewöhnlich. Vom Losfahren ohne Gepäck, vom Dasein ohne Geld, von der Wiederkehr ohne Herz. „Du“ wurde großgeschrieben, „ich“ klein. Und wie viele Dus ich kannte! Wie leicht mir das fiel, selbst mir, anzuknüpfen. Und wie oft ich das las: Mit mir könne man reden. Während ich manches, nur das nicht lesen wollte. Dennoch konnte ich es. Und so erzählte man mir Geschichten.

Jeder Buchstabe einzig, keiner wiederholte sich jemals exakt. Unikate, Letter an Letter. Ich lernte, die vielen Schriften zu lesen. Reimte mir Ungereimtes zusammen. Füllte Lücken im Kopf, wo Buchstaben verschwammen und ineinanderflossen. Wir waren ja schneller beim Schreiben als beim Denken, was will man erwarten? Jede Schrift eine Botschaft, nein ein Dutzend. Was alles zwischen den Zeilen stand. Was nicht gesagt werden brauchte. Was besser nie gesagt worden wäre. Jeder Brief eine Bombe.

„Kaum ist man angekommen, schon muss man wieder weiter.“

„Oh je, längst wollte ich Dir schon ein Kärtchen geschrieben haben.“

„Für Euch werden es spannende Wochen werden.“

„Was machen Deine Bombay-Stories?“

„Am 16. Juli bekommen wir die Schlüssel von unserem neuen Haus.“

By the time this card reaches you, your birthday would’ve come and gone.“

„Mich hat Dein Brief, ehrlich gesagt, sehr betroffen gemacht.“

„Ich habe Simone und Theo getroffen und Sydney ist eine der schönsten Städte, die ich bisher gesehen habe.“

„Drei Tage und Nächte war ich auf der Intensivstation.“

„Nach den vielen üblen Dingen, die mir widerfahren sind und von denen ich Dir schon erzählt habe …“

„Deine hübsche Karte stand eine ganze Zeitlang auf meinem Schreibtisch.“

„Ich soll Euch sagen, sie vermisst Euch sehr.“

Wo seid ihr denn alle? Ihr Briefgeister meines Lebens. Der Satellitenschwarm, der mit mir durch das Vakuum zog, auf anderen Umlaufbahnen, aber doch sichtbar und Leuchtsignale versprühend. Nun ist Funkstille. Ein ums andere Signal fiel aus, manches noch kurz wieder aufgeflammt, dann doch für immer verloschen. Aber das Schreiben wurde nicht weniger: überall das Klicken von Kunststoff jetzt, Tastaturgetaste, Emojis statt Gefühle. Die letzten Briefe: alles Rechnungen.

Und sind wir nicht heimlich erleichtert darüber? Was, schließlich, bliebe uns jetzt noch zu antworten, postwendend.

„Ich umarme Dich und küsse Dich!“