Einem verschämt verschwiegenen Phänomen auf der Spur: Über die Haptik, das schnelle Glück, den Eigensinn und die Schlichtheit der menschlichen Natur. Mit zahlreichen farbigen und äußerst plastischen Abbildungen.
Nein! Vergessen Sie’s gleich wieder. Ist doch klar, woher dieser Text seine möglicherweise aufblitzende Witzischkeit bezieht. Und warum Sie den angeklickt haben. Alte britische Journalistenweisheit: Rubbeln an Körperteilen in the headline sells copy! Aber das hier ist ein Kulturmagazin, und deshalb wenden wir uns bei der Erörterung der Frage, warum so viele Menschen an Körperteilen rubbeln (nicht unbedingt an den eigenen, nicht mal an fremden, sondern an nachgemachten), jetzt als erstes dem „Rufer“ zu:
Der Rufer steht in Lauenburg an der Elbe. Ja, was ruft er denn? Oh Mann, Sie springen wirklich über jedes Stöckchen, das man Ihnen hinhält, oder? Schreibt einer „Rubbeln“, denken Sie: Yesssss, ich klick das! Schreibt er „Rufer“, quaken Sie im Chor: „Ja, was ruft er denn?“. Statt einfach mal Ihren Geist zu leeren und offene Fragen im Raum stehen zu lassen, wenn es um Kunst geht. Oder um Klima oder Lauterbach oder um überhaupt irgendwas, das kein unmittelbares Gequake erfordert.
Strafe muss sein, Sie Quakfrosch. Hier, das hat der Bildhauer Karlheinz Goedke 1956 oder so auf den Sockel seiner Statue geschrieben: „Ein Schiffer, dessen Kahn hier vor Anker liegt und auf Fracht aus dem Stecknitzkanal wartet, ruft zu einem vorbeifahrenden Elbschiff hinüber. Einen morgendlichen Gruß? Einen derben Spaß? Einen wichtigen Hinweis?“
Selbst der Künstler lässt es also offen. Weil es egal ist. Völlig egal. Denken Sie sich schon wieder was, wenn es unbedingt sein muss. Wie wär’s mit „Rubbel meinen dicken Daumen!“? Das wäre immerhin realistisch. Dieser Rufer nimmt nämlich eine merkwürdige Körperhaltung ein, die offenbar viele als Einladung begreifen. („Begreifen“, verstehen Sie?) Die linke Hand, die Rufhand, ist noch ganz normal vor dem Mund am Handgelenk abgewinkelt, um als akustische Leitplanke den Schall zu verstärken und die Reichweite zu erhöhen. Aber die rechte … also von hinten betrachtet klemmt der Bronzemann sich diese Hand vom Hüftknochen ausgehend dergestalt vor den Unterbauch, dass man meinen könnte, aber Sie sollen ja gar nichts meinen.
Von vorne betrachtet ist natürlich alles ganz anders, denn wir schreiben wie gesagt das Jahr 1956, mitten in der Adenauer-Ära, und da wird nun mal nichts anderes abgewinkelt als der nackte Daumen.
Was soll das? Keine Ahnung. Vielleicht so eine zünftige Macht-Geste. Die Macht an der Elbe bin ich. Power-Pointing in der Ära vor Powerpoint. Männlichkeit ohne das Männerding. So ähnlich, wie wenn jemand die Daumen unter beide Hosenträger klemmt, nur mit einer Hand. Jedenfalls: Der steht da jetzt dauerhaft ab, der Daumen. Seit über 60 Jahren. Und genauso lange rubbeln die Leute. Was das wieder soll? Siehe oben. Auf der Webseite der „wunderschönen Stadt am Wasser“ (Lauenburger City-Marketing, gez. der Praktikant) steht der Hinweis: „Auf jeden Fall darf beim Besuch der Altstadt von Lauenburg ein Abstecher an den Rufer nicht fehlen, bringt doch das Berühren des blank polierten Daumens viel Glück.“
Damit aber wird die Sache zur Henne-oder-Ei-Frage: Womit ging das Ganze los? Wenn nur der blankgerubbelte Dauersteändermen viel Glück bringt, warum hat dann der Erste gerubbelt, als der noch nicht blank vom Rubbeln war? Hm? Na? Hat sich da jemand gedacht: Och, gucke, ein erigierter Daumen! Stumpf und matt zwar, aber kann man ja mal dran rubbeln, vielleicht passiert was? Und dann fand der auf dem Nachhauseweg eine Goldmünze und brachte beim nächsten Mal seinen Schwager mit: „Rubbel du auch mal, mir hat’s geholfen“, und als später dann das Enkelkind gerubbelt hatte (nein, nein, das ist nicht gut an dieser Stelle, sagen wir also: als selbst der Pfarrer Piepenbrinck heimlich nachts gerubbelt hatte), da brach der Mond durch die Wolken und ein einzelner Strahl silbernen Lichts fiel auf das Gerubbelte und es schimmerte unter dem Daumennagel ein ganz klein wenig Blankes auf, und das Schicksal nahm seinen Lauf.
So mag es gewesen sein. Menschen sind haptische Wesen. Was sie nicht anfassen können, begreifen sie nicht. („Begreifen“, verstehen Sie?) Weshalb ja das Buch auf Holzbasis auch nicht ausstirbt, trotz e-Reader. Die Menschen müssen die Buchstaben anfassen können, sonst stellt sich kein Gedanke ein. Und in diesem zwanghaften Angrabbeln machen sie nicht mal vor Frauen halt:
Die Zitronenjette ist eine Hamburgensie wie der Wasserträger („Hummel, Hummel“) oder der Jung mit dem Tüdelband, nur in weiblich und in echt. Henriette Johanne Marie Müller, uneheliche Tochter der Leopoldine Müller, war aufgrund von armutsbedingten Mangelerscheinungen nur 1,32 Meter groß und verkaufte in der Hamburger Innenstadt Zitronen. In den Kneipen St. Paulis wurde sie zur Alkoholikerin und starb 1916 als Insassin einer „Irrenanstalt“. Immerhin wurde über sie schon zu Lebzeiten ein Theaterstück geschrieben, was wenige von sich behaupten können.
Auch ihr hat man außerdem noch eine Bronzestatue gewidmet, gleich beim Michel um die Ecke. Auch an dieser Statue gibt es eine Inschrift, die ihr der Bildhauer Hansjörg Wagner 1986 mitgegeben hat: „Dien Leben wer suur as de Zitroonen, sall sick dat Erinnern an di lohnen? Dien Schiksol wiest op all de Lüüd, for de dat Glück het gor keen Tiet.“ (Auf Hochdeutsch: „Dein Leben war sauer wie die Zitronen, soll sich das Erinnern an dich lohnen? Dein Schicksal weist auf all die Leut‘, für die das Glück hat gar keine Zeit.“)
Aber diese Zeilen geben wieder einmal keinen Aufschluss darüber, warum auch an der Zitronenjette gerubbelt wird. Bei ihr ist der linke Zeigefinger der blankpolierte. Hamburg.de hegt die originelle Vermutung: „Zitronenjettes vorgestreckte Hand ist im Laufe der Jahre blankpoliert worden, denn sie anzufassen soll Glück bringen.“ Dieses dämliche Glück schon wieder. Können die Leute nicht ohne auskommen? Oder sich ein Rubbellos kaufen? Es ist doch, bei Mondlicht betrachtet, ziemlich geschmacklos, ausgerechnet an einer der unglücklichsten Frauengestalten der Hamburger Geschichte zu rubbeln mit dem Ziel, dadurch persönlich bereichert zu werden. Andererseits ist es ehrlich. Als Ausdruck von blankem („blankem“, verstehen Sie?) Egoismus, wie er nun mal unserem kapitalistischen System immanent ist: Alte, mach mich reich und geh sterben!
Wo wir aber nun schon mal herausgefunden haben, dass der homo neoliberalis rubbelt, um ohne Anstrengung glücklich zu werden, können wir auch noch auf die letzte Eskalationsstufe zu sprechen kommen: das Rubbeln an Heiligen.
Dieser hier, den ich leider etwas unscharf in einer Kirche in Lissabon fotografiert habe, ist St. Expeditus. Sieht nicht nur aus wie ein römischer Zenturio, sondern war auch einer. Er hat sich dann, ganz gegen den damaligen Zeitgeist, zum Christentum bekannt – und zwar der Legende nach schnell entschlossen, „noch heute“. Deshalb trägt das Kreuz in seiner Hand oft die Inschrift „Hodie“, was Latein ist und „heute“ bedeutet. Kein Wunder (oder eben natürlich doch eines), dass Expeditus der Heilige ist, den man besonders in südlichen Ländern anruft, wenn man ganz dringend und tagesaktuell Hilfe benötigt. Das englische Verb „expedite“ bedeutet nicht zufällig auf Deutsch „beschleunigen“. Die vielen kleinen Dankes-Plaketten im Bildhintergrund scheinen die Wirksamkeit zu bestätigen.
Aber man ruft eben nicht nur, man befummelt auch. Wer etwas näher rangeht, bemerkt das blankgescheuerte Knie unter seinem kurzen Röckchen. Expeditus steht nämlich auf einem ziemlich hohen Sockel, und da kommen die Gläubigen mit ihrem Rubbelbedürfnis nur bis zum Knie. Also schon wieder: Hier rubbeln und sich schnelles Glück im Unglück sichern! Die Metaphysik des Angrabbelns wäre sicher mal eine theologische Doktorarbeit wert, weil man bisher ja immer dachte, das hätte unter Priestern und Messdienern eher weltliche Gründe. Aus dem Ökumenischen Heiligenlexikon lerne ich übrigens gerade, dass dieses Expeditusrubbeln sogar ein interreligiöser Brauch geworden ist: „Den Hindus auf Réunion gilt Expeditus als Inkarnation ihres Gottes Vishnu, muslimische Inder auf der Insel verehren die Expedit-Schreine wie Sufi-Schreine in ihrer Heimat.“
Gerubbelt wird halt überall auf der Welt – an Losen, Daumen, Zeigefingern, Knien und lsjfdsdsjkslsdf. Immer aber um des eigenen Vorteils willen. So ist der Mensch. Wenn Sie weitere Rubbelbilder beisteuern können, aber natürlich nur von sehr unbelebten Standbildern bzw. Statuen, dann seien Sie mein Gast in diesem Magazin!
Nachträge:
Nicht fehlen dürfen natürlich Daumen und Fußspitze des Till Eulenspiegel aus Mölln in Schleswig-Holstein:
Leser/in „M“ steuert noch ein glänzendes – wenn auch animalisches – Körperteil aus Sydney bei:
In Amsterdam reicht Rembrandts „Nachtwache“ gleich die ganze, blanke Hand zum Rubbeln:
Leser Frank bringt die Bremer Stadtmusikanten ins Spiel (Nur beide Eselvorderbeine bringen Glück!):
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Ein weiteres norddeutsches Beispiel: Bremer Stadtmusikanten
„Habt ihr die Bremer Stadtmusikanten gefunden, werden euch die blanken Vorderbeine des Esels auffallen. Der Grund dafür: Es soll Glück bringen, die Beine zu umfassen. Wenn ihr also schon mal da seid, solltet ihr die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, euch beim Esel etwas zu wünschen oder einfach eine Portion Glück mitzunehmen. Aber Vorsicht! Wer nur ein Bein umfasst, wird sofort als Bremen-Laie enttarnt. Denn dann, so sagt man hierzulande, gibt ein Esel dem anderen die Hand.“
https://www.bremen.de/tourismus/sehenswuerdigkeiten/bremer-stadtmusikanten
In Sydney gibt es ein Wildschwein mit blank polierter Schnauze – das angeblich Glück bringt. Kann man nur sagen: „Schwein gehabt“.
Viele Grüße!