Es ist eine der vergeblichsten Mühen auf Erden. Je nach Graslänge, Wetter und Grundstücksgröße ist es harte körperliche Arbeit. Es ist das exakte philosophische Gegenteil der Tätigkeit einer Höllenmaschine namens Laubgebläse. Und es macht glücklich.

Du kannst den Blick nicht von Donald Trumps Twitter-Account lösen? Laubkehren! Deine Nachbarn trampeln mit dem schlimmsten Musikgeschmack der Welt auf deinen Nerven herum? Laubkehren! Dein Fußballverein hat im Heimspiel gegen Bayern München 0:4 verloren? Laubkehren! Du bist sicher, dass ein Universum, in dem bereits Minuszinsen existieren, vom nächstbesten supermassiven schwarzen Loch in Antimaterie verwandelt werden wird? Laubkehren!

Laubkehren hilft zuverlässig gegen alles. Merkwürdigerweise nicht sofort. Die ersten Minuten fühlen sich an wie Strafexerzieren auf dem Kasernenhof. Und das sage ich als Kriegsdienstverweigerer. Allein das Spielfeld zu betreten, auf dem sich seit dem letzten Laubkehren vor zwei Wochen, als endlich alles so schön freigelegt und weggeräumt war, wieder ein blickdichter Teppich aus bräunlichen Eichen- und Ahornblättern ausgelegt hat, lässt das Herz sinken.

Warum? Fragst du dich. Warum musst du dir das antun? Es wird doch genau so wieder kommen. Wieder wird da über Nacht, nach Sturm und Regen, hämisch Laub liegen, wo es nicht liegen soll. Du kannst den Lauf der Welt nicht anhalten. Die Natur ist sturer als du, und da hängt noch so viel an den alten Bäumen, tausend Damoklesschwerter in Blätterform. Nur darauf wartend, dein Werk zunichte zu machen, sobald du dieser Arena den Rücken zugewandt hast. Warum?

Aber das solltest du nicht fragen. Es gibt Arbeit, die muss getan werden. Punkt. Sie hat keinen Sinn, keine Wirkung, keinen Nutz- und Mehrwert. Arbeit, die jeden Controller in den Wahnsinn treiben würde. Das ist das Beste an ihr.

Dabei stimmt das gar nicht. Natürlich hat diese Arbeit Sinn. Jede Menge verschiedene Arten von Sinn. Da ist erstens die vernünftige Erklärung: Wenn das Laub da liegenbleibt, fault und pappt es. Der Rasen oder die Wiese bekommt keine Luft, stirbt ab, wird erstickt und erdrückt von dicken, vermodernden Schichten organischer Masse. Und im Frühling ist da kein frisches Gras mehr. Das war die Vernunft.

Jetzt, zweitens, die Ästhetik. Es widerstrebt deinem Ordnungssinn, wenn da all diese Blätter kreuz und quer durcheinanderliegen. Ja, natürlich ist das spießig. Oberspießig sogar. Gartenzwerg-Kategorie-spießig. Und doch. Und doch. Du willst da eine schöne, grüne Fläche – im November.

Das ist nämlich schon die dritte Dimension des Nutzens: Das Grün soll nicht enden, nicht unterbrochen, nicht durchkreuzt werden. Du willst der Natur mit ihrer spätherbstlichen Endzeit-Attitüde ihre Grenzen aufzeigen: Es gibt wohl noch Grün! Flächendeckend Grün! Grün steht für Leben statt Vergänglichkeit. Und dieses Grün werden wir dir jetzt abringen, blöde Natur, Meter für Meter!

Aber der eigentliche Sinn des sinnlosen Laubkehrens kommt erst jetzt. Viertens. Bist du alt genug, um noch Beppo, den Straßenkehrer zu kennen? Aus Michael Endes „Momo“? Beppo steht da seit Jahrzehnten an seiner Straßenecke und kehrt immer dieselbe Ecke Bürgersteig. Nicht, weil da die Menge x an Dreck weggeschafft wird. Sondern weil es ihn zufrieden macht. Es hat mit frei gewählter Einsamkeit zu tun, mit Kontemplation und Stille, mit dem Wegwischen muffiger Erlebnisse und abgestandener Gedanken, mit dem Dabeisein und Zuschauendürfen, wie die Zeit vergeht. Dann aber tauchen die grauen Herren auf, und zack … aber das ist eine andere Geschichte.

Warum Laubkehren aus naturwissenschaftlicher Sicht zufrieden, ja glücklich macht, kann ich nur ahnen. Irgendwas mit Hormonhaushalt, Endorphin-Ausschüttung und so. Ich will das nicht gugeln, um es nicht zu entzaubern. Ich weiß nur: Du gehst mit Rückenschmerzen rein, mit Kopfschmerzen, mit Bauchschmerzen, mit Seelenschmerzen – und du kommst verwandelt raus.

Aber nur und erst, wenn es ganz vollbracht ist. Nicht nur das Zusammenkehren zu schönen, großen, prallen, raschelnden Haufen (das Kleinkind, das du mal warst, ist da durchgerannt und hat die Blätter so hoch aufgewirbelt wie möglich). Nein, dann auch noch das Bücken und wieder Bücken und nochmal Bücken und Mit-vollen-Händen-Reinschaufeln in die Schubkarre. Den Resthaufen wieder zusammenkehren. Noch mal zusammenraffen. Restliche Reste zusammenkehren. Ein letztes Mal bücken und rein damit. Schubkarre mit kühnem Schwung auf dem finalen, großen Gesamthaufen in der hintersten Ecke entleeren. Weg. Es ist alles weg!

Pures Glück.

Doch da! Ein Windstoß! Zwei Eichenblätter segeln wie in Zeitlupe zu Boden. Sanft lassen sie sich auf der großen, grünen Fläche nieder, jedes für sich. Sie haben ja nun freie Platzwahl. Du wendest dich ab. Das hast du jetzt nicht gesehen. Und solltest du es doch gesehen haben, wärest du im Augenblick für kurze Zeit gleichmütig genug. Aber jetzt gehst du besser. Und drehst dich besser nicht mehr um.

Du wirst ja wiederkommen.