Fast genau zwei Jahre. So lange ist es her, dass der kleine EDEKA-Supermarkt der türkischen Familie Ünüvar schräg gegenüber meiner Wohnung überraschend dichtmachte. Auch damals war es kurz vor Weihnachten, als unsere Nachbarschaft, vor allem die Legion der alten Leute mit ihren Rollatoren, mit einem Schlag ihren vertrauten Nahversorgungsstützpunkt verlor. Einen Standort, der schon zwei Generationen vor uns diente: als Filiale der längst Historie gewordenen Hamburger Genossenschaft PRODUKTION.
Seither habe ich in diesem Blog immer wieder mal über das vermeintliche Ende dieses Gebäudes berichtet. Doch der alte, zweistöckige Flachbau in seiner weißen, fast mediterranen Leichtigkeit und Eleganz, mit üppiger Dachterrasse, Dekorstreifen in Mittelmeer-Türkis und der Grandezza dieses gewendelten, vollverglasten Treppenhauses; der architektonische Lichtblick, der sich so wohltuend vom roten Backstein-Einerlei ringsum abhob – er wollte sich einfach nicht zum Sterben niederlegen.
Natürlich trug er zunehmend Zeichen des Verfalls, Graffiti und eingeschlagene Scheiben verunzierten das Gesamtbild. Doch dann passierte immer wieder erst lange gar nichts, und dann plötzlich etwas völlig Unerwartetes: Ob er für den Filmkrimi „Banklady“ (Kinostart: 27 März 2014) in eine Bad Segeberger Sparkassenfiliale aus dem Jahr 1968 verwandelt wurde und plötzlich ein Hauch von Hollywood samt Platzpatronengeballer durchs trübe Viertel wehte; ob die Hammer ihren alten Laden als Kiez-Kulturzentrum für eine Woche zurückeroberten und darin ein munteres „Hammtrara“ entfachten – immer ging es noch ein paar Schrittchen weiter mit der lebenden Leiche des Ünüvar.
Bis zu diesem Mittwoch, als der Bagger anrückte.
Das musste natürlich so kommen. Sie nennen es Fortschritt. Schon lange hatte es zunächst Gerüchte gegeben, dann Gerüste. Und Bauzäune. Und Dixiklos. Und schließlich offizielle Werbebanden: Hier entstehen ab Herbst 2013 überteuerte Eigentumswohnungen für bis zu einer halben Million Euro mit Blick auf die allerletzte Saufkneipe (nein, in Wahrheit stand es da anders, irgendwas mit „Hammer Lage“). Aber ätsch, der Herbst ist vergangen, und es ist immer noch kein neuer Wohnwürfel im Bau. Ein letzter Punktsieg für den Ünüvar, den verdammt zähen. Nur ewig konnte er das nicht durchhalten. Am Ende war ihm die Gicht durch die offen stehenden Glastüren so in die alten Knochen gefahren, dass er nur noch angetippt werden musste, um endlich in den Tod zu stürzen … wirklich?
Nein. Denn der Ünüvar, er kämpfte weiter. Gegen eine unbesiegbare, destruktive Übermacht. Es stellte sich heraus, dass eine Menge an Baustahl-Armierungen, Stahltüren und Eisengittern in ihm steckten, denn schließlich musste er schon als Supermarkt wehrhaft gegen Einbrecher sein. Es gab sogar einen kleinen Panzerschrank im Keller, aus dessen finalem Inhalt (ein paar Rabattmarkenheftchen und anderer wertloser Kaufmannskram) ich den offiziellen Ünüvar-Stempel mit Holzknauf geerbt habe.
Ja, da musste der 1000-PS-Bagger ganz schön zerren am alten Ünüvar. Man kann ja gar nicht anders, als an den guten alten Tyrannosaurus Rex zu denken, der sich Filetstücke aus seinem Gegenüber, dem gutmütigen Brontosaurus reißt. Allerdings muss dieses Filet schon leicht gemüffelt haben, denn aus dem aufgerissenen Ünüvar wirbelten trotz eifrigen Bespritzens mit dem Wasserschlauch immer wieder feuchte Mörtelstaubwölkchen auf, jener typische Alte-Leute-Kellergeruch, der von ungeheizten, unbelebten Gemäuern ausgeht.
Man sieht hier auch, wie unfair das Reduzieren dieses Gebäudes auf eine Verkaufsstelle war: Es gab hier Wohnungen, geräumige, lichte Wohnungen. Und eine psychiatrische Arztpraxis, so ist es ja nicht, hier war durchaus auch akademischer Geist zuhause. In perfekter Hausgemeinschaft mit dem Einzelhandelsgewerbe. Eines Tages waren alle diese Menschen weg, geräuschlos, über Nacht. Wohin? Man weiß es nicht. Nur die Arztpraxis hat ihre neue Adresse am Bauzaun hinterlassen.
Doch, es gehört schon einiges Können dazu, sogar Kunst, mit so einem Abrissbagger so elegant umzugehen wie dieser Facharbeiter. Im besten Fall wirkt es wie ein Tanz, er und die nicht zu bremsende Fressmaschine im schwingenden, mehrdimensionalen Gleichtakt. Simultan dreht sich das, hebt und senkt es sich, zieht und zerrt, schwenkt und robbt sich noch einen Meter tiefer in das Fleisch des todgeweihten Wesens hinein. Der Tyrannosaurus Rex – übrigens mit wandelbarer Kauleiste, mal Reißzähne, mal Spitzzange – gehorcht seinem Reiter aufs Wort und grunzt vergnügt.
Würde er einen großen Fehler machen, dann schützte den Baggerführer sein extra verstärkter Metallkäfig und die zusätzliche Stahlplatte als Kabinendach. Doch er macht keine Fehler. Er trägt vorsichtig ab, Stück für Stück, nichts Tragendes, bevor nicht das darauf Lastende abgeräumt ist. Bewundernswertes Zerstörungswerk. Keine zackig aufragende Seitenwand hat auch nur die Chance, unkontrolliert einzustürzen, bevor er seine stählerne Hand anlegt.
Stück für Stück, Scherbe für Scherbe bricht dem Ünüvar zackig aus der Krone. Aber er lässt sie sich auch nur Stück für Stück herausbrechen. Wenn der Bagger ein besonders schweres Betonteil aus der Ladendecke bricht und es zerbröselnd zu Boden donnert, dann bebt selbst auf dem Bürgersteig noch die Erde. Dann beulen sich die großen Frontscheiben des früheren Schaufensters, wo vor Weihnachten immer die billigen Plastikchristbäumchen auf der Fensterbank standen, nach außen unter der Druckwelle.
Aber noch halten sie, noch geht zumindest nach vorn weg nichts zu Bruch. One face to the customer! Dem Kunden gegenüber mit einer Stimme sprechen, Verbindlichkeit ausstrahlen, gute Miene zum bösen Spiel machen, das hat der alte Ünüvar immer noch drauf. Und gottseidank, auch nebenan fällt keine Scheibe aus den Alurahmen des verglasten Wendeltreppenhauses. Noch ist es nicht an der Reihe. Noch nicht. Noch nicht.
Es ist Winter, ganz kurz vor der längsten Nacht des Jahres. Die Dunkelheit kommt, bei Nieselregenwetter, gegen 15 Uhr 30. Doch auch danach geht das Ringen um die Kapitulation des Ünüvar weiter. Drei grelle Scheinwerfer hat der Bagger, die Rückbaufirma – das ist politisch korrektes Deutsch für Abrissunternehmen – hat als Slogan: „Geht nicht, gibt’s nicht.“ Und das beweist sie auch: Finsternis? Nicht mit uns!
Vom schwingenden, wippenden, zerrenden Baggerflutlicht werden bizarr tanzende Schatten an die Wände des Verkaufsraums geworfen, als die Mordsmaschine von hinten, wo mal das Lager war, in den durch Säulen gestützten Verkaufsraum eindringt. Ungefähr da, wo über den schon lange Blasen schlagenden Putz das Poster geklebt war: „Hier wird täglich frisch für Sie gebacken.“ Es erinnert an „The Shining“, wenn Jack Nicholson mit dem irren Schlachtruf „Here’s Johnny“ und einer scharfen Axt durch die Hintertür gebrochen kommt. Note to Mr. Kubrick: In dieser Beleuchtung wäre die Szene noch eindrucksvoller gewesen.
Aber die Männer, die hier ihren Job tun, wirken gar nicht wie Psychopathen, warum auch. Sympathisch sogar. Gelassen, aber bei der Sache. Systematisch vorgehend und den Überblick wahrend im Chaos, das sie minütlich zu vergrößern scheinen. Tun sie aber gar nicht: Zwischendurch wird vom erstaunlichen feinfühligen Baggergreifarm immer mal wieder aufgeräumt, verbogenes Metall herausgefischt, umgeschichtet, weggeschafft. Das Schlachtfeld wird zum Recyclinghof. Und außerdem schaffen sie sich so ihre neue Geschäftsgrundlage, die Arbeiter: Nur auf glattgebügeltem Schutt kann der Bagger sicher weiter vordringen.
Jetzt werden in den offenen Eingeweiden des Hauses Details sichtbar, die nie für fremde Augen bestimmt waren. Heizkörpergerippe, Badezimmerkacheln, Sechzigerjahre-Dekor. Wo mal die Wohnungen waren, im ersten Stock, haben sich offenbar noch kurz vor dem Abbruch Sprayer Zutritt verschafft. Sie mussten dazu ja auch nur einen lächerlichen Bauzaun überwinden, dann standen alle Türen offen. An eine Wohnzimmerwand hat jemand „Peanuts“ gesprüht. Warum tut einer das? Sind die niedlichen, arglosen Cartoon-Kinder von Charles M. Schulz gemeint? Oder die abfälligen Bemerkungen eines Deutsche-Bank-Chefs über das Geld kleiner Leute?
Und dann steht da noch, an der anderen Wand, wo vielleicht mal ein Esstisch stand: „Invaders must die!“ Kann das wirklich funktionieren? Kann ein Fluch von hier aus auf die Abbruchunternehmer und Immobilienwucherer dieser Welt niedergehen? Muss Baggerfahrer Willibald nun sterben? In den ägyptischen Pyramiden haben Bannflüche in Hieroglyphen Schlimmes angerichtet, wie Grabräuber erfahren mussten.
Der Bagger geht auch über diese Fragen hinweg, Tyrannosaurus Rex hat es nicht so mit semantischen Diskursen. Zurück bleiben Trümmer, die schon deswegen nicht an die nahe liegenden alliierten Bomberangriffe auf Hamm erinnern („Es sah aus wie im Krieg!“), weil sie ebenfalls mit Graffiti besprüht worden waren, bevor sie sich von einer Hausfassade in Hausfassadenbrocken verwandelten. Street Art, nunmehr dekonstruktiviert. Merkwürdiger Weise ist es mit ihnen wie mit einem Hologramm: Vom Inhalt geht durchs Zerbröseln nichts verloren. Es war schon vorher keine Botschaft da, außer vielleicht: Moribundi te salutant. Wir, die Todgeweihten, grüßen dich. In Geheimschrift.
Zurück bleibt, für heute, ein beachtlicher Haufen gratigen, verbogenen Metallschutts in der Dezemberdunkelheit. Und eine Nachricht vom alten Haus. Keine weiße Flagge, sondern störrische Standhaftigkeit: Die Schaufensterfront, wo die rot-weiß gestreifte Markise noch im Sommer beim „Hammtrara“ für italienische Gefühle sorgte, sie steht immer noch. Dem Treppenhaus fehlt keine Wendel und keine Scheibe, während ihm der Hinterleib wie ein Furunkel geöffnet wurde. Mit einem Messer im Rücken geh’n wir noch lange nicht nach Haus. Das Haus, dieses Haus, es möchte mit den Füßen voran aus demselben getragen werden.
Und wer weiß: Vielleicht hält es eine allerletzte Pointe bereit. Denn wenn der Bagger hier durch ist, wenn alles eingeebnet ist bis Oberkante Kellerdecke, dann geht es erstmal nicht mehr weiter mit dem „Rückbau“. Dann muss erst der Kampfmittelräumdienst kommen, denn Hamm, wie gesagt, war im Weltkrieg bevorzugtes Bombenabwurfgebiet. Heute liegt es deshalb in der roten Zone: kein Neubau ohne Abklären der Blindgänger-Situation.
Wenn dann was piept bei der Begehung mit Metalldetektoren – dann erhält diese Serie eine weitere Folge. Oder der Herr TWASBO eine neue Wohnung.
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[…] über die Zähne der Gentrification in Hamburg-Hamm. Eine weitere Folge der bekannten Ünüvar-Saga. Wenn Sie die ersten Folgen nicht kenne, ruhig nachlesen, das ist sehr […]