Die lichtlose Jahreszeit steht uns wieder ins Haus, dank Blackouts diesmal wohl auch wortwörtlich. In der Finsternis werfen alle unsere Dämonen doppelt so lange Schatten. Doch ein Lichtblick bleibt dem, der sich mit der endlosen deutschen Nacht zu arrangieren vermag.
Abend will es wieder werden … heute noch um halb sechs, bei Nieselregen schon um zehn vor fünf, demnächst hier im Norden um zwanzig nach drei. Und dann kommt sie – die Dunkelheit. Deutscher Herbst und Winter: Wir stehen auf in der Dunkelheit, wir kehren von der Arbeit heim in der Dunkelheit, und wenn der Frühling vor der Tür steht, ist es immer noch dunkel. Es ist diese zusammengematschte Verbundjahreszeit, die nun kommt: diese fünf Monate Schmuddelwetter, Eisregen, Schneegriesel und Glatteis, dazwischen ein lauwarm verwehtes Abtauen, aber alles in Düsternis. Was nun kommt, ist die Zeit, in der dieses Volk ganz bei sich selbst ist. Und das verheißt leider zumeist nichts Gutes.
Das Deutsche hat nicht umsonst 42 Begriffe für das Dunkel. („42“ ist hier eine nicht-empirische Zahl, eine gefühlte Wahrheit. Es können auch 16 sein; es sind auf jeden Fall auffällig viele Varianten und Schattierungen.) Düster, finster, stockdunkel, tiefschwarz, kohlrabenschwarz, nichtdiehandvoraugenschwarz, sondereinsatzkommandoschwarz, antifaschwarz. Mag sein, jenseits des Polarkreises kennen sie noch mehr Wörter dafür, so wie bekanntlich für Schnee. Diese nun wie jedes Jahr anbrechende Zeit scheint dennoch wie keine andere die deutsche Seele zu umklammern.
Viele unserer nationalen Dramen und Tragödien haben sich historisch in diesen lichtlosen Monaten abgespielt, zwischen November und dem späten März, wenn endlich die Tag-Nacht-Gleiche wieder erreicht wurde und wir alle langsam aufzuatmen wagten. Der 9. November gleich viermal: 1918 die erzwungene Abdankung Kaiser Wilhelms II., Auftakt zum Ende von Erstem Weltkrieg und Kaiserreich; 1923 der gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch; 1938 die „Reichspogromnacht“ (und nicht der Reichspogromtag); dafür 1989 der überraschend glückselige Mauerfall, als die Jupiterlampen der Fernsehteams aus aller Welt gleißende Kunstlichter über die Menschen auf der nächtlichen Mauerkrone zucken ließen. Aber auch Hitlers Antritt als Reichskanzler, 30. Januar 1933. Die Niederlage von Stalingrad, 2. Februar 1943, als Kriegswende in winterlicher Finsternis. Natürlich die klaustrophobischsten Corona-Phasen.
Diese auffällige Häufung erzeugt eine Resonanz in mir. Ich bin ja nicht nur Journalist, sondern auch Autor fiktiver Geschichten. Des Nachts führt mich die Phantasie, die dazu notwendig ist, am Nasenring durch die Arena. Wir Erzähler leben in einer merkwürdigen Symbiose mit der Finsternis: Sie zehrt uns auf, sie fesselt uns schlaflos an die Tastatur, sie lässt alle unsere Dämonen doppelt so lange Schatten werfen. Aber sie flüstert uns auch die tiefsten Erkenntnisse und die treffendsten Bilder ein. Vor 15 Jahren schrieb ich über das Schreiben: „Seit Jahrtausenden sitzen wir um die Lagerfeuer in den kalten Nächten und erzählen einander Geschichten. Sie handeln alle von der Dunkelheit, die dort beginnt, wo der flackernde Lichtkreis des Feuers endet. (…) Hier beginnt die Qual, einen Fuß vor den anderen zu setzen. In dem Moment, wo deine Geschichte den Lichtschein des Feuers verlässt und ins Dunkle hinübergeht, dorthin, wo nur noch deine Worte ein Licht entzünden können für die, die mit dir gehen sollen. In dem Moment beginnt Traum oder Albtraum des Erzählens, des Schreibens.“
Damals war ich mir sicher, dass es gelingen werde, die Dunkelheit in Schach zu halten: „Geht niemand hinaus und kommt niemand zurück, um Nährstoff zu sammeln und heimzubringen, erlischt das Lagerfeuer, und alles Erzählen hat ein schreckliches Ende durch dunkles und kaltes Verstummen. Doch dies ist bislang niemals, nicht in all den Tausenden von Jahren, endgültig geschehen. Mindestens einer oder eine war immer übrig, um seine Geschichte zu erzählen. Und mindestens einer oder eine, um zuzuhören. Zwei Menschen, die das Feuer erhalten haben, bevor wieder andere hinzukamen und den Kreis erweiterten. Das war das Minimum, das immer galt – in Kriegen, in Nöten, in Eiszeiten und Zeiten des Wahnsinns.“
Aber in der beginnenden Dunkelzeit des deutschen Herbstes 2022 schwingt diesmal etwas besondes Bedrohliches mit: Umnachtung. Sie ist das schlimmste Dunkel: wenn sich die Auflösung der Tages-Ordnung und der Veitstanz fremder Mächte mit ideologischer Verblendung paart; wenn das Irresein alle erfasst, wenn eine Führungsriege dem Wegbrechen des Vertrauten nichts entgegenzusetzen hat als nackte Angst. Es ist die Situation, in der dieses Land sich nun befindet. Ohne Not hat es den Ast abgesägt, auf dem es bequem saß, hat es sich auf lächerlichen Nebenkriegsschauplätzen aufgerieben; nun plötzlich Panik vor Augen, aber keine Perspektive mehr. Eine politische Kaste ohne Durchblick, die nicht einmal mehr auf Sicht fahren kann, denn in den Raunächten zeichnen sich keine Lösungen mehr ab, nur noch Probleme. In dieser Lage Politik zu machen, muss zwangsläufig zu katastrophalen Fehlentscheidungen führen.
Die Baerbocks, die Habecks, die Lauterbachs agieren in dieser hausgemachten Finsternis wie die Bewohner von José Saramagos „Stadt der Blinden“: Die Finsternis, die sie in Form eines hoch ansteckenden Erblindungs-Virus ergriffen hat, bringt die dunkelsten Seiten in ihrem Inneren zum Schwingen. Es ist, als ob wir – wie im Roman die Frau des Arztes, die letzte noch Sehfähige – unseren Umnachteten dabei zuschauen, wie sie sich blindlings durch die leerstehende Irrenanstalt tasten, in die man alle vom Verlust des Augenlichts Betroffenen eingesperrt hat, um der Seuche Herr zu werden. „Durch die wenigen Fenster, die zum Innenhof hinausgingen“, schreibt Saramago, „fiel ein letztes gräuliches, sterbendes Licht herein, das schnell schwächer wurde und schon in dem schwarzen tiefen Brunnen der bevorstehenden Nacht versank.“
Was diese Nacht dann brachte, vor Augenzeugen verborgen durch die dreifache Finsternis der Tageszeit, der fensterlosen Anstaltsmauern und der Blindheit, war im Roman unaussprechliche Verrohung, der Zusammenbruch aller Kultur. Ein minimaler Lichtblick: In diesem Sodom und Gomorrha, in der Stadt der Blinden, sind die Opfer wenigstens „vor der deprimierenden Melancholie geschützt“, die das Hereinbrechen der Nacht oft in ihnen auslöste, als sie noch sehen konnten. Aber das liegt nur daran, dass im Endkampf jeder gegen jeden keine Zeit mehr ist für Depression. So mag es uns dann auch gehen, wenn im winterlichen Blackout das dünne Mäntelchen der Zivilisation zerreißt, die schlimmsten Schurken aus den Anstalten entweichen und die an den Laternen Aufgeknüpften das Begleichen alter Rechnungen anzeigen.
Was ist nun das Wesen der Dunkelheit, dass sie uns so verheerend umpolen kann? Was macht sie so halluzinogen? Was verleiht ihr die schwarze Magie, aus Spießbürgern Massenmörder und aus netten Onkeln KZ-Wächter zu machen? Wir kleinen Menschenwürmer werden das Dunkel, das mit dem Teufel selbst assoziiert wird, wohl nie durchschauen. Das haben wir mit einem übermütigen Urahnen gemein. Im 38. Kapitel des Buches Hiob konfrontiert Gott den Menschen auf brutale Weise mit dessen Hybris und Bedeutungslosigkeit im großen kosmischen Ringen zwischen Licht und Dunkel. Blitze zucken, Stürme brausen, und „aus dem Wetter“ heraus donnert Gott Hiob entgegen: „Wo warst du, da ich die Erde gründete? Sage an, bist du so klug! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie eine Richtschnur gezogen hat? (…) Wer hat das Meer mit Türen verschlossen, da es herausbrach wie aus Mutterleib, da ich’s mit Wolken kleidete und in Dunkel einwickelte wie in Windeln (…) Welches ist der Weg, da das Licht wohnt, und welches ist der Finsternis Stätte, dass du mögest ergründen seine Grenze und merken den Pfad zu seinem Hause?“
Ja, da wird der Maulheld Hiob kleinlaut. Er kann in der Tat nicht erklären, wo das Licht wohnt, wo das Dunkel seinen Ursprung hat. Und selbst heutige Astrophysiker mussten die alte Vorstellung korrigieren, dass das Universum einst mit einem grellen Blitz am Nullpunkt begann: Die Explosion des Urknalls spielte sich, nach allem, was wir mittlerweile wissen, vielmehr in vollkommener Finsternis ab. Gesichert scheint, dass das gesamte erste Zeitalter des von jetzt auf gleich unermesslich großen Universums in Schwärze gehüllt war. Denn die Sterne, sie wurden erst nach Hundert Jahrmillionen gezündet. Erst musste das häufigste aller Elemente, Wasserstoff, geboren, verwirbelt und zu nuklearen Brennöfen verdichtet werden. Daraufhin erst konnte der Schöpfung ein Licht aufgehen. Und es wurde hell in Gottes Lampenladen.
Ebenso, wie sie ursprünglich einmal gezündet wurden, scheinen die Lichter des Universums nach eng begrenzter Lebensdauer wieder in einem Meer aus Dunkelheit verlöschen zu müssen. Das zumindest ist die Hypothese, der die meisten Kosmologen heute zustimmen: Das Zeitalter des Sternenlichts wird eine Fußnote in der nahezu unendlichen Geschichte des Kosmos blieben. Schwarze Löcher, dieser Ausbund an Dunkelheit, werden das Erbe der Sonnen antreten – und selbst sie werden zu nichts zerfallen, in völliger und fortdauernder Finsternis. Was Sternenforscher sich mühsam mit Hightech-Observatorien und mathematischen Gleichungen erschließen mussten, hat der englische Dichter Lord Byron schon im Jahr 1816 imaginiert, als er das Poem „Darkness“ schrieb:
The waves were dead; the tides were in their grave,
The Moon, their Mistress, had expired before;
The winds were wither’d in the stagnant air,
And the clouds perish’d; darkness had no need
Of aid from them—she was the Universe.
Für mich ein weiterer Beweis, dass die Poesie als dritte unter den Antennen menschlicher Wahrnehmung von Wirklichkeit ebenso unerlässlich ist wie faktenbasierte Reportage und fiktive Erzählung; ein Dreiklang, der zum Konzept dieses Magazins geführt hat. Und einem neunköpfigen Unwesen wie der Dunkelheit kann letztlich vielleicht sogar nur Poesie beikommen – ist Dunkelheit doch ebenso wie sie reines Gefühl, auf sich selbst zurückgeworfenes Sein.
Die möglicherweise prägnanteste „Verdichtung“ von Dunkelheit stammt jedoch aus einem populären Kinderbuch. Ich verrate hier nicht seinen Namen oder den seines Autors, nur, dass sich die Szene mit den folgenden Versen ebenfalls in fast auswegloser Dunkelheit abspielt. Was sehr angemessen ist, da dieses Rätselgedicht die Finsternis selbst chiffriert. Die deutsche literarische Übersetzung ist an dieser Stelle schwach, umständlich und der Vorlage untreu, daher gebe ich hier das englische Original wieder:
It cannot be seen, cannot be felt,
Cannot be heard, cannot be smelt.
It lies behind stars and under hills,
And empty holes it fills.
It comes first and follows after
Ends life, kills laughter.
Man könnte es bei diesem schaurig nüchternen Steckbrief bewenden lassen – wenn da nicht noch die andere Seite der Dunkelheit wäre: das tröstend Einhüllende, das Bergende, das es den Häschern und Bütteln schwer macht, uns zu finden. Die Dunkelheit war stets der Freund der Schwerenöter, der Lichtscheuen, der Gottlosen und der Bohème. Wer sie nicht fürchtet, sondern sich ihr anvertraut, kann erstaunliche Erfahrungen machen. Auch C. hat das erlebt. Als sie ein Mädchen war, vielleicht zwölf Jahre alt, war sie mit anderen Reitschülern und ihrem Lehrer in einem tiefen Bergwald unterwegs. Die Reitpartie wurde aufgehalten, der Zeitplan geriet aus den Fugen. Als man sich endlich wieder aufmachte, um ins Ferienlager zurückzukehren, brach schon die Dunkelheit herein. Es war eine mondlose Nacht, und C. sah wie der Rest der Gruppe nicht mehr die Hand vor Augen.
Der Reitlehrer jedoch blieb ruhig und riet ihr, sich ganz auf das Pferd zu verlassen. Es sehe besser und finde schon den Weg. Das tat C. notgedrungen, eine andere Wahl gab es nicht. Die folgenden Stunden verbrachte sie eng an das große, warme Tier geschmiegt, das im Dunkel zu traben begann und einmal sogar galoppierte. Es setzte keinen Schritt falsch in dieser Nacht im Gebirgswald. C. war von Finsternis eingehüllt, bis die Lichter der Herberge in Sicht kamen. Diese Nacht lehrte sie für immer, dass auch die tiefste Dunkelheit navigierbar ist. Und das müssen wir alle nun wohl ebenfalls lernen.
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