Spät, sehr spät, vielleicht zu spät kommt eine Bewegung gegen die Militarisierung und Kriegs-Hysterisierung Deutschlands auf die Beine. Wie in Hamburg traten heute Jugendliche in den „Schulstreik“ gegen die Wehrpflicht. Die brachte das Parlament in Berlin fast gleichzeitig trotzdem auf den Weg – doch das könnte eine Fehlkalkulation gewesen sein.

Erstmals seit langem sind in Deutschland größere Menschenmengen gegen den heillosen Kriegs- und Hochrüstungskurs der Bundespolitik und der EU auf die Straße gegangen. Und es waren nicht die Älteren und Etablierten, denen der Vorweihnachtskonsum nach wie vor wichtiger ist als das Schicksal des Landes, mindestens aber der Generation ihrer Kinder oder Enkel. Es waren schulpflichtige Jugendliche, die heute Vormittag bundesweit in den „Schulstreik gegen die Wehrpflicht“ traten. In Hamburg versammelten sich einige Hundert mit selbstgemalten Schildern und einem Lautsprecherwagen vor dem Hauptbahnhof.

Ein Hauch von 1984 liegt in der Luft. Ältere fühlen sich an jene Zeit gegen Ende des vergangenen Jahrtausends erinnert, als Hunderttausende mit blauweißen Friedenstauben-Fähnchen oder lila Kirchentagshalstüchern gegen die Aufstellung neuer amerikanischer Atomraketen protestiert hatten. Doch woher sollen diese jungen Menschen wissen, wie es 1984 war? Die hier zum Großteil erstmals in ihren jungen Leben demonstrieren und „streiken“, gehören Geburtsjahrgängen bis hinauf ins Jahr 2014 an. Sechstklässler im jüngsten Fall. Viele von ihnen Mädchen, manche divers, einige mit Migrationshintergrund. Aber dann eben doch vielfach bis mehrheitlich ganz persönlich betroffene Jungs mit deutschem Pass, geboren 2008 oder später, die im kommenden März 18 Jahre alt werden. Denn sie müssen als erste Generation seit Jahrzehnten wieder zur Musterung, wie eine Bundestagsmehrheit dann nur einen Wimpernschlag nach dieser Demonstration beschließt.

Dass dieser Beschluss nach sorgfältigen Probeabstimmungen nur noch Formsache sein würde, dämpft die nahezu fröhliche Entschossenheit und Energie der Schüler an diesem Freitagvormittag allerdings nicht spürbar. Klar, es hat auch etwas von einem sozialen Event mit der Gänsehaut der Rebellion – ähnlich wie frühere „Schulstreiks“ im Gefolge der Klima-Aktivistin Greta Thunberg. Doch hier sorgt vor allem die ganz konkrete, private, nähere Zukunft der Teilnehmer für viel kreative Frustration beim Beschriften der Transparente – auf denen auch ein paar solidarische Ältere ihre Lebenserfahrungen einbrachten:

„Meine Mutter meint, die Wehrpflicht gilt nur für Jungs, aber das geht trotzdem nicht!“, entrüstet sich Mika Dehghani von der Winterhuder Reformschule solidarisch hinter dem vorgehaltenen Schild mit der Aufschrift „Nicht unser Kampf, nicht unsere Pflicht“. Die Schülerinnen und Schüler hätten „kein Interesse daran, irgendwelche Kriege zu führen, die Merz anzettelt“. Das finden auch Liam Duah, Jahrgang 2011, und sein ein Jahr jüngerer Freund Paul, die auf ihre Pappe die Parole „Kein Mensch ist Kanonenfutter“ geschrieben haben: „Wir werden von älteren Menschen, die nicht selbst in den Krieg müssten, gezwungen, unser Leben aufs Spiel zu setzen. Das finden wir nicht in Ordnung“, sagt Liam.

Viele der jungen Demonstranten sind es sichtbar nicht gewohnt zu politisieren. Manches Argument geht wenig über „Wir haben keinen Bock…“ hinaus. Andere hingegen haben das gemeinsame Anliegen mit einer schon sehr viel erwachseneren, geradezu flammenden Entschlossenheit zu ihrer Sache gemacht. Vor der Bahnhofskulisse hat sich Jonah Dekarski aufgestellt, Jahrgang 2008. Auf seinem an eine Latte genagelten Schild steht „Ich sterbe nur für das Proletariat“.

Dass es keine Ironie ist, sagt schon sein Gesichtsausdruck. „Das ist ernst gemeint“, bekräftigt er. „Ich werde definitiv nicht für die Reichen im Land sterben!“ Wenn, dann „eher für eine Revolution als für einen unnötigen Krieg“. Noch im Jahr 2017 hätten Russen und Amerikaner beim G20-Gipfel in Hamburg friedlich an einem Tisch zusammen gespeist, und jetzt könnten ihre Regierungen nicht einmal mehr miteinander reden? Das will Liam nicht widerspruchslos hinnehmen. Zusammen mit einem Freund ist der Schüler eines Cuxhavener Gymansiums heute morgen um kurz nach fünf aufgestanden und hat sich in den ersten Zug nach Hamburg gesetzt.

Und auch sie sind plötzlich wieder da: die weißen Tauben auf blauem Grund. Neben den Schwertern, die zu Pflugscharen werden sollten, waren sie in der Friedensbewegung der Achtzigerjahre allgegenwärtig gewesen. Damals, so musste unter anderen der Autor dieses Berichts in den folgenden Jahrzehnten zur Kenntnis nehmen, war die Bewegung nur dank gezielter Finanzierung, Logistik und Ausstattung mit Propagandamitteln aus Moskau und Ostberlin zu einem Massenphänomen geworden. Heute fehlt von russischer Unterstützung jede Spur. Die einzige Kontinuität: Nach wie vor versucht „links“ deutlich engagierter und effizienter das Momentum des Protests zu steuern als deutsche Konservative und Liberale, bei denen die Idee eines Kampfes gegen Militarismus traditionell Blockaden im Kopf auslöst.

Im Hintergrund des „Schulstreiks“ agieren hingegen linke Gewerkschaften wie Verdi und vor allem die Bildungsgewerkschaft GEW, bei der fast alle deutschen Lehrer organisiert sind. Für Außenstehende erstaunlich, denn noch zu Zeiten des letzten Massenprotests gegen staatliche Willkür, während des Corona-Zwangsmaßnahmenregimes, konnte die Staatsmacht fest auf die GEW und deren „Kollektive“ in den Lehrerzimmern bauen: Sie verteufelten die Maßnahmengegner als „rechts“, mobbten impfkritische Schüler und schüchterten Zweifler mit methodischem Gruppendruck ein.

Hier und heute am Hamburger Hauptbahnhof tauchen keine Antifa-Mobs auf, um Übergriffe gegen vermeintliche Nazi-Friedenshetzer zu verüben. Und gerade die GEW setzt sich an die Spitze der Anti-Wehrpflicht-Bewegung, die wie zu erwarten bereits von Aktivisten und Flugblattverteilern der SED-Nachfolgepartei „Die Linke“ umschwänzelt wird. Während die Schulbehörde damit gedroht hatte, „streikende“ Schüler müssten heute mit Nachteilen wie der Nichtanrechnung verpasster Klausuren rechnen, ermunterte die Bildungsgewerkschaft in den Klassenzimmern nachdrücklich zur Teilnahme an den Demonstrationen. Organisierte Lehrerinnen und Lehrer agitierten vorab in Politik oder Gesellschaftskunde dafür und erklärten ein Mitlaufen bei der Demo kurzerhand zum Unterrichtsbestandteil. Verständlich, dass viele Schüler sich auch deswegen nicht zweimal bitten ließen.

Marie, 22, Erziehungswissenschaft-Studentin der Uni HH, ist als Mitglied der Nachwuchsorganisation „Junge GEW“ ebenfalls mit einem Transparent vor Ort. „In diesen Zeiten, in denen ein Krieg die größte Angst junger Menschen ist“, erklärt sie, „geht die Politik der Bundesregierung mit einer Erziehung von Drill und Gehorsam genau in die falsche Richtung.“ Der Bildungsbereich und der soziale Sektor seien seit Jahren extrem unterfinanziert, „aber für die Aufrüstung wird ein ‚Sondervermögen‘ nach dem nächsten geschaffen“. Hier zeigt sich ein Hauptgrund dafür, dass sich die GEW diesmal – zum ersten Mal seit ewigen Zeiten – auch gegen SPD und Grüne stellt: das Geld, das den eigenen Zwecken zugunsten des militärisch-industriellen Komplexes entzogen wird. Es ist ein ebenso stark motivierendes Argument wie die persönliche, körperliche Betroffenheit männlicher deutscher Schüler.

Doch es gibt auch noch andere fast unmittelbar Betroffene: Großeltern. „Nein, meine Enkel kriegt ihr nicht“, steht auf einem Schild, das Monika Koops auf dem Rücken trägt. Sie ist Verdi-Mitglied und dort seit Jahren in einem Arbeitskreis für Friedensarbeit tätig. Der ältere ihrer beiden Enkel ist als einer der ersten Jahrgänge für die neue Zwangsmusterung vorgesehen. Danach droht der Wehrdienst – und vielleicht mehr. „Gerade dieser Generation sind durch Corona schon Jahre ihres Lebens geklaut worden“, klagt Koops. „Und jetzt soll ihr noch mehr Zeit gestohlen werden?“ Außerdem sei die propagandistische Grundlage des Regierungskurses im Ukraine-Konflikt eine ständig wiederholte „Bedrohungslüge“: Niemand, auch Russland nicht, wolle uns angreifen. Doch die Politik könne aus ihrer eigenen Verblendung offenbar nicht mehr aussteigen: Sonst müsste sie sich eingestehen, den „falschen Weg gegangen zu sein“.

Ein älterer Herr, der aus Ostdeutschland stammt, hat sich den jungen Schülern aus Solidarität angeschlossen: „Die NATO ist kein Friedensbündnis. Es wird höchste Zeit, dass die Jugend hier involviert wird. Und wir Älteren werden sie unterstützen!“ Der Unterschied zu den jungen Leuten ist: Während der Senior mit klar reflektiertem politischen Wissen argumentiert, kommt ihre Ablehnung naturgemäß noch eher aus dem Bauch – ohne deswegen weniger gültig zu sein: „Ich finde es schlimm“, sagt einer der Schüler, „zu etwas ausgebildet zu werden, wo ich anderen Menschen Schaden zufüge, die mir nichts getan haben.“ Auf diese kurze Formel lässt sich das Kriegshandwerk durchaus zusammenfassen.

Und wenn der Funke überspringt, der heute von den Premieren-Demonstranten ausgegangen ist, könnte sich der taubstumme Kriegskurs von Merz und Pistorius samt ihrer Spießgesellen bis hin zu den Grünen noch als schwere politische Fehlkalkulation erweisen.