In der Erregungsmaschinerie von Twitter bis Face book gibt es derzeit – kurz vor der Europawahl – kaum ein Wort, das einen solchen Alarm auszulösen vermöchte wie „Populismus“. Wer andere politische Konzepte oder Parteien des Populismus bezichtigt, hat damit auch im Kulturbetrieb und im gesamten Establishment ansatzlos gewonnen: Er stellt sich nicht nur den Populisten entgegen, sondern zugleich sich selbst ins richtige Lager.
Es ist das Lager der Vernunft, des Maßhaltens, der wohltemperiert-demokratischen Lebensart. Vielmehr: So könnte es sein, wenn nicht die Widersprüchlichkeiten so eklatant wären.
Der Populismus-Alarm funktioniert nach dem bewährten Schema: Argumente und Fakten sind Schall und Rauch, aber wenn dieser Rauch sich gelichtet hat, wird schon etwas kleben bleiben am Gegner. Vor dem Hintergrund der Flüchtlings-, Migrations- und allgemeinen Politikkrise scheint die Populismus-Granate mittlerweile eine ebenso zuverlässige Totschlagwaffe zu sein wie die begründungsfreie Nazikeule.
Der Populismus-Alarm funktioniert nach dem bewährten Schema: Es wird schon etwas kleben bleiben am Gegner.
Damit so etwas möglich ist, ohne dass das Schlüsselwort noch hinterfragt oder am jeweils in Rede stehenden Einzelfall abgewogen wird, müssen schon besondere gesellschaftliche Verhältnisse herrschen. Es ist ebenso aufschlussreich wie deprimierend, sich diese Verhältnisse näher anzuschauen und die Verwendung des Wortes Populismus daran zu messen.
Dabei auch gleich Leser zu verlieren, ist nicht nur eine Gefahr, sondern garantiert: Wer über ein geschlossenes Weltbild verfügt, dessen moralische Reinheit hoch über dem „kruden Bauchgefühl“ des Pöbels thront, hat vermutlich spätestens hier aufgehört zu lesen. Für die anderen lohnt sich ein wilder Ritt durch die Entwicklungsgeschichte des Begriffs.
„Pöbel“ stammt nicht zufällig aus derselben Wurzel wie „Populismus“, nämlich abwertend von Populus, dem lateinischen Begriff für das (einfache) Volk. Noch so ein furchtbares Wort: „Volk“. In Kreisen, die sich selbst für überaus fortschrittlich halten, ist damit untrennbar der rückschrittliche Reflex „völkisch“ verbunden. Wer also „Volk“ sagt, redet in ihren Ohren bereits „völkisch“ daher, ergo rechtsradikal oder – in „Spiegel“-Diktion – dunkeldeutsch. Denen, die keine Wurzeln mehr haben wollen und keine Bindung an eine gewachsene Gemeinschaft mehr kennen, gilt das „Volk“ als einer der Begriffe, die aus der Sprache zu tilgen sind. Natürlich sind die Nazis schuld.
Allerdings wurde das „Volk“ merkwürdigerweise immer verpönter, je länger die Hitlerdiktatur zurücklag. Kurz nach Kriegsende war man da noch recht arglos. Ernst Reuter, einer der letzten Großen Alten Männer der Sozialdemokratie, sähe seinen Appell „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“ aus dem Jahr 1948 heute, im Klima von 2019, einer aggressiven Befragung ausgesetzt: Ob er, bitte schön, die jeweils mitzudenkenden ethnischen und kulturellen Minderheiten diskriminieren wolle. Ob die Sich-selbst-Definierenden seiner Meinung nach nicht auf diese Stadt schauen dürften. Ob er im Ernst an so etwas Rückständiges wie „Völker“ glaube.
Oder Helmut Schmidt, der allerletzte Große Alte Mann der Sozialdemokratie: Noch im Jahr 1977 schleuderte er den RAF-Mördern per Fernsehbotschaft den Abscheu der bundesdeutschen Gesellschaft entgegen: „Gegen den Terrorismus steht der Wille des gesamten Volkes!“ Heute würde er damit vermutlich des „billigen Populismus“ beschuldigt: als Aufpeitscher des Volkszorns, als Agitator, vor allem aber als Ausgrenzer – von Minderheiten, Geflüchteten, Autonomen, anders Gegenderten sowie Inhabern der elitären Erziehungslizenz.
Heute würde Helmut Schmidt vermutlich des Populismus beschuldigt: als Aufpeitscher des Volkszorns.
Ja, vor 42 Jahren gab es das noch: das große Ganze, Volk genannt. Der Populus hatte eine „Leitkultur“, eine geographisch und ethnisch geprägte Mehrheits-Sozialisation (er hat sie bis heute). Man konnte als politisch Verantwortlicher davon ausgehen, in wesentlichen Fragen zu denken und fühlen wie dieses Kollektiv, ihm daher nach dem Mund sprechen zu dürfen und dafür auch noch Anerkennung zu ernten. Natürlich regte sich dann immer auch Widerspruch, natürlich wollten manche sich nicht vereinnahmen lassen. Auch diese Menschen kamen zu Wort.
Aber die Welt brach nicht zusammen, weil jemand gewagt hatte, für das deutsche Volk zu sprechen. Und somit ein Problem auf einen kraftvollen Nenner zu bringen, das daraufhin – mit allen Fehlerrisiken – ebenso entschlossen angepackt werden konnte. Heute dagegen? Aus Angst vor „Populismus“ wird verschwiegen, verleugnet, verdrängt. Lieber nichts tun, als vor dem Anti-Volksgerichtshof öffentlich am Pranger zu stehen. Denn dessen Urteil erfolgt ohne Anhörung.
Und es ist eine bittere Ironie, dass diesem Weg des geringsten Widerstands die Angst der Antipopulisten vor dem Zorn einer empört aufschreienden Masse zugrunde liegt. Früher hätte man ihn Volkszorn genannt. Heute ist es der Shitstorm gut organisierter Minderheiten, gerne mit selbst verliehenem Unantastbarkeits-Status.
Nun prangen zwar im Giebel des Berliner Reichstagsgebäudes noch immer riesengroß die Worte DEM DEUTSCHEN VOLKE. Eine schwer zu tilgende Erinnerung daran, wem die darin ein- und ausgehenden Politiker auch des heutigen Bundestages gemäß Nachkriegsverfassung verantwortlich sind, von wem sie finanziert werden und wen sie bei existenziellen Entscheidungen vorab zu befragen hätten. Aber es waren andere Zeiten, als dies 1916 in Stein gemeißelt wurde.
Damals entstand in Deutschland gerade erst unter Schmerzen der revolutionäre Gedanke der Volkssouveränität. Der für die Inschrift vorgesehene Platz blieb denn auch mehr als 20 Jahre leer, bis eine „Reichstagsausschmückungskommission“ dem Widmungsvorschlag des Architekten Paul Wallot endlich ihren Segen gab. Der Berliner Lokal-Anzeiger hatte sie anfänglich als „naiv, beinahe komisch“ verspottet.
Der für die Inschrift im Reichstags-Giebel vorgesehene Platz blieb mehr als 20 Jahre leer.
Längst spricht die deutsche Politik, um das böse Giebel-Wort zu vermeiden, lieber verquält von „Bevölkerung“. Doch das Wort sperrt sich gegen seinen politisch korrekten Missbrauch. Beschreibt es doch eigentlich einen Vorgang statt einer Personengruppe: die Landnahme oder Ausbreitung von Menschen; nicht hingegen die Gesamtheit derjenigen, die sich bereits ausgebreitet und in einem Staat organisiert haben. Dessen ungeachtet: Die „Bevölkerung der Bundesrepublik“ soll das unangenehme Volk zumindest sprachlich ersetzen.
Das beherzigen neben politischen und wirtschaftlichen Wortführern auch die Medienmacher, die mit beiden in einer gemeinsamen Glücksblase namens „Elite“ dahinzutreiben glauben. Hier liegt schon der Schlüssel zum Problem. Denn nur in einem gesellschaftlichen Klima, in dem nahezu alle üblicherweise publizierten oder publizierenden Meinungsträger sich derselben diffusen Oberklasse zurechnen, ist so etwas möglich: dass diese Gruppe es für ihre ureigene Aufgabe hält, die restliche „Bevölkerung“ zum richtigen Denken zu erziehen und vor „Populismus“ zu beschützen. Vordenker zu sein gilt ihnen als Adelstitel.
Für diesen Antipopulismus fiele es nicht schwer, vergleichbar polemische Schimpfnamen zu finden: betreutes Denken, Nanny-Staat, gelenkte Demokratie. Doch es geht nicht um Kampfbegriffe, sondern um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die sie bewirken. Wer als Politiker nicht mehr „Volk“ denkt, obwohl er für das Volk, aus dem er stammt und das ihn gewählt hat, Verantwortung trägt, der sagt sich auch vom Souverän los, dem er Rechenschaft schuldig ist. Der ist bar jeder Kontrolle, jeder Bindung ledig. Wenn auf dieser Deckungslücke das Europa von morgen gebaut werden soll, dann wird es ein Phantom sein: geschichtslos, gesichtslos und nicht zu fassen.
Die üblichen Argumente gegen „Populismus“ sind: Das Volk ist dumm, triebhaft, verführbar und fordert immer gleich stumpf die Todesstrafe. Aber stimmt das? Es kommt, wie immer, darauf an: wer fragt, wie er fragt, ob und welche Alternativen er vorgibt, ob er zuvor eine informierte Debatte zulässt – oder ob er nur Antworten induziert, die er hören will. Gerade letzteres ist die Crux vieler Meinungsumfragen: Sie sind hochgradig manipulativ und legen dem Volk nach Gusto ihrer Auftraggeber die Statements in den Mund. Diese Auftraggeber nämlich sind ihrerseits Vertreter von (oft getarnten) Partikularinteressen.
Hingegen ist, was nun als Populismus verschrien wird, meist schlicht die Strategie, in erster Linie Politik für die zu erwartende Mehrheit zu machen statt für wort- oder anders gewaltige Minderheiten. Denn Demokratie ist per Definition genau das: die Suche nach Mehrheiten, nicht nach Privilegien für kleine und vielfach offen antagonistische Gruppen. Solche Mehrheiten sind in vielen Fragen immer noch strukturell und kulturell geprägt. Auch in Deutschland gibt es eine solche, im Vergleich zu den lautstarken Minderheiten leicht überhörbare Mehrheitsstruktur. Das Grundgesetz nennt diese Struktur das Deutsche Volk. Mit großem D.
Glauben Sie nicht? Lesen Sie nach: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Artikel 1, Absatz 2 Grundgesetz – gültig und absolut mehrheitsfähig bis heute. Man kann gut sein und trotzdem ein Volk, viele wissen das gar nicht mehr.
Und das Lustigste: Das Volk, das sind auch jene, die inzwischen alles und jeden als Nazi verdächtigen. Ob sie wollen oder nicht. Man kann dafür eine Checkliste abarbeiten: Haben Sie die Staatsangehörigkeit „D“? Haben Sie die deutsche Sprache mit der Muttermilch aufgesogen? Sind sie Teil einer über Generationen hinweg etablierten, großräumigen Siedlungsgemeinschaft? Sind Sie auf der Autobahn nicht im Linksverkehr unterwegs, aber jeden Winter im Billigflieger nach Malle? Hallo, kulturell geprägtes Volksmitglied!
Wer also Politik aus dem Volk, für das Volk, mit dessen mehrheitlicher Zustimmung macht, ist zunächst einmal: Demokrat. Und er ist mit hoher Wahrscheinlichkeit: populär. Letzteres ist die etablierte politische Klasse bekanntlich immer weniger. Eine populäre Regierung aber soll es nach dem Willen der „Populismus!“-Rufer nicht mehr geben dürfen. Denn dann sind die – teilweise extrem unverdienten – Privilegien von Minderheiten in Gefahr, auf die Waage der Mehrheit zu geraten.
Es gibt auf dieser Welt Parteien, Präsidenten und Regierungschefs, die das Populäre übertreiben. Es gibt den Missbrauch von geborgter Mehrheitsmacht zum Niederhalten anderer Gruppen. Es gibt Korruption, die sich hinter einem aufgesetzten Patriotismus versteckt. Viel, sehr viel häufiger aber ist das, was jetzt als Populismus im Keim erstickt werden soll, die Erfüllung des demokratischen Grundanspruchs: die Erfolgsstrategie des Hörens auf eine kulturell geprägte Mehrheit.
Wer Politik aus dem Volk, für das Volk, mit dessen mehrheitlicher Zustimmung macht, ist zunächst einmal: Demokrat. Und er ist mit hoher Wahrscheinlichkeit: populär.
Doch diese Strategie ist in Deutschland derart aus der Mode gekommen, dass selbst Helmut Kohl, der letzte noch um strukturelle Mehrheiten im Volk bemühte CDU-Kanzler, rückblickend ein Populist genannt zu werden droht. Und seine CDU – anders als die entkernte Union Merkels, in der unter dem Einfluss von Partikularinteressen und auch gern mal grundgesetzwidrig „durchregiert“ wird – wäre demnach eine populistische Partei gewesen. Jene CDU, die nach Merkels Antritt Abgang abertausende Mitglieder politisch heimatlos machte.
Das bewusst schwammige Label des Populismus passt dann auch schon gleich ebensogut zu Willy Brandts Sehnsuchtssatz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“: eine Kultur der freien Rede und Gegenrede im Namen der jeweils angestrebten Mehrheit, aber eingewoben in den kulturellen Kontext und in die Zukunftshoffnungen einer erwachsen gewordenen Gesellschaft. Ein solcher demokratischer Diskurs verdichtet sich zuletzt zur bestmöglichen Realpolitik für einen möglichst umfassend bedienten Souverän. Nur eben nicht für extreme Randgruppen innerhalb dieses Souveräns.
Doch Brandt, der vorletzte Große Alte Mann der Sozialdemokratie, konnte nicht ahnen, wie sehr sein Land und sein halber Kontinent sich entgrenzen, entfremden und entmajorisieren würde. Im halben Jahrhundert seit Brandts Wagnis haben die bundesdeutschen Parteien und insbesondere die ehemalige Volkspartei (!) SPD deshalb langsam, zuletzt aber im gestreckten Galopp verinnerlicht, dass „Populist“ ist, wer sich auf seine mehrheitlichen Wurzeln besinnt. Dass hingegen gewinnt, wer alle Wurzeln kappt und alle Bodenhaftung aufgibt.
Dieser vermeintliche Triumph über den „Populismus“ ist ein Pyrrhussieg, erkauft um den Preis der Geschichtsvergessenheit, der Zombifizierung als Partei und vor allem des Politikversagens. Für nachhaltige politische Entwürfe gilt: Sie speisen sich aus den Hoffnungen der Mitte der Gesellschaft, des Volkes. Sie entwachsen einem gut verwurzelten Geflecht namens Mehrheitsfähigkeit.
Wer diesen Nährboden missachtet, zieht erst jene Art Populisten heran, die zu bekämpfen er vorgibt.
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