Am Abend des Tages, an dem die wehrhafte Demokratie in Berlin aufs Neue gesiegt hat, stelle ich fest, dass auch ich infiziert bin. Ich leide an der rasant um sich greifenden Seuche, gegen die es keinen wirksamen Impfstoff gibt.
Heute Abend bin ich wie dieses Land: ausgelaugt, niedergedrückt, aller Perspektiven ledig. Es ist der Abend des 1. August, an dem Berlins Polizei die photogene Siegessäule pfleglich demonstrantenrein gehalten hat. (Stehen sie zu ihm hier, wie Sie wollen, aber er geht mit seiner Live-Kamera dahin, wo es wehtut, und duckt sich nicht weg. Machen Sie das auch so?) Die Grundrechte, die nun seit 16 Monaten zu großen Teilen ausgesetzt sind, hatten ab dem Moment des maßgeschneiderten Versammlungsverbots keine Chance, sich am heutigen Tag in der Hauptstadt Gehör zu verschaffen. Großmütter wurden im Klammergriff abgeführt, ein junger Familienvater auch, dessen kleiner Sohn orientierungslos hinterherstolperte. Was wird die Justiz dem Vater andichten? Einen neuen Reichstagssturm?
Wer allerdings als Gegendemonstrant auftreten wollte, war herzlich eingeladen, die gefährdeten Bereiche mit antifaschistischer Konservenmusik zu beschallen. Es herrscht auch sonst viel selektive Großmut in Berlins Politik und Exekutive: Die Christopher-Street-Day-Parade, an der dicht an dicht Zehntausende mehr teilgenommen hatten als angemeldet, war erst kürzlich als corona-risikofrei durchgewunken worden. Und in den städtischen Clangebieten zeigen die schlagstockschwingenden Schwarzuniformierten so viel Sensibilität, dort gar nicht erst durch ihr Auftauchen Unfrieden zu stiften.
Wenn das, was ich mit eigenen Augen sehe, was ich aufgrund meiner Alltagserfahrungen wahrnehme, nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen ist mit dem, was ich von offizeller und medialer Seite höre und lese, dann nennt die Psychologie das eine kognitive Dissonanz: Mein Verstand, meine Intuition und die Deutungen der Wirklichkeit, die mir von außen angeboten werden, passen nicht mehr zusammen. Mein Leben in diesem Land ist eine einzige kognitive Dissonanz geworden. Wahrscheinlich ist das Land selbst eine geworden.
Wo beginnen? Bei einer Machtelite, die sich in ihrem Zentrum (vor einer Bundestagswahl gegen die Wählenden) hinter Schilden und Knüppeln verschanzt wie das Regime in Belarus, in der berechtigten Angst, wenn jetzt nicht „hart durchgegriffen“ werde, dann stünden morgen schon doppelt so viele vor der Tür? Beim historisch unerträglichsten aller Kandidaten-Aufgebote für die Kanzlerschaft seit Kriegesende? Bei einer endlich, endlich sich aufs Altenteil bequemenden Regierungschefin, die mehr als anderthalb Jahrzehnte lang mit erratischen Impulshandlungen und planvoller Kulturrevolution fast irreparable Verheerungen übers Land gebracht hat – jenes Land, in dem ich für meine Kinder eine Wette auf Zukunft einging, darunter für meinen 15-jährigen Sohn, der „unter“ ihr geboren wurde und nie etwas anderes gekannt hat als sie?
Demokratie: das aus gutem Grund als Wechselspiel der Macht auf Zeit angelegte kleinste Übel. Es gibt keine Wechsel mehr, Macht ist jetzt unendlich ausgedehnt, und wenn das eine Gesicht doch nach gefühlten oder gar echten Jahrzehnten verschwinden muss, dann übernimmt ein anderes, austauschbares, das dieselben Phrasen im Munde führt und selbst für korrupteste Verantwortungslosigkeit dieselbe Immunität genießt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Blockpartei wird durch Blockpartei ersetzt, Nuancen nur trennen die Programme, die ohnehin das Papier nicht wert sind, auf das man sie druckte. Schattierungen von Schattierungen, dazwischen habe ich die Wahl. Was mehr sein könnte als ein Hauch von Unterschied, wird unterbunden, weggemobbt, unmöglich gemacht oder gleich verboten.
Aber es herrscht ja auch „Pandemie“, jener alles erklärende, alles rechtfertigende, praktischerweise offenbar auch immerwährende Ausnahmezustand. Dessen offensichtliche Unhaltbarkeiten die Politik und Big Pharma immer aufs Neue und mit immer windigeren Angsterzählungen glätten müssen, auf dass die bruchlose Albtraumlandschaft wenigstens für kurze Zeit wiederhergestellt werde. Und ja, zum tausendsten Mal: Es gibt echte Risikogruppen, die vor dem Virus geschützt werden müssen (aber dennoch sterben sie in den Heimen wie die Fliegen an pflegerischer Vernachlässigung und verordneter Einsamkeit). Nun sind aber doch auch schon alle anderen durchgeimpft, die ihre karge Freiheit gerne gegen ein Serum eintauschten – und immer noch kein Körnchen weniger Angst, weniger Zwang und Zwanghaftigkeit, weniger Druck.
Das nenne ich Heimat: dieses Land der Erschöpften, Ausgebrannten, immer Ängstlichen, furchtsam Kinderlosen und nur noch Alternden. Das Land, dessen Status allmählicher Schwindsucht sich beim Blick in die Gesichter der Shoppingmall-Passanten verrät. Hängende oder verkniffene Mundwinkel (wo sie keine Maske gnädig verdeckt), ausweichender oder zu Boden gerichteter Blick, Vorbeihasten ohne Option auf ein Lächeln, weil jeder Optimismus, jede Lebenslust anderswo spielt, nur nicht hier. Und weil ja inzwischen überall ein Denunziant lauern könnte, ein Aufpasser, ein Strafgericht. Bestenfalls bleibt ihnen da noch der kurze Rausch des Konsumglücks, die Tüten mit den Logos in der schlaffen Hand. Sie warten unterdessen ergeben darauf, peu a peu durch etwas anderes ersetzt zu werden. Und jede Entlassung, jedes Outsourcing, jede Todesanzeige bringt sie dem großen Ziel näher.
Kognitive Dissonanz. Alle Alarminstinkte schlagen an. Das Tinnitus-Klingeln im Ohr. In der Magengrube ein Brennen, kalter Schweiß beim Lesen der Zeitung. Oft öffne ich sie möglichst gar nicht mehr, aus nervlichem Selbstschutz. Ich rühre an immer mehr Tagen die Apps auf meinem Smartphone nicht mehr an. Seit Jahren habe ich mir antrainiert, die von mir zwangsfinanzierte Tagesschau und ihre öffentlich-rechtlichen Klone auszublenden. So gründlich, dass ich neulich in einem schwachen Moment des Hinsehens schockiert war, wie sehr ihre Kommentare inzwischen der Aktuellen Kamera und dem Schwarzen Kanal gleichen. Die Vokabeln. Die Tonlagen. Der heilige Ernst unfassbar regierungsfrommer Priesterlitanei. Aber vor allem: das Schweigen. Die Lücken, wo Wahrheit sein sollte. Das Allerschlimmste.
Und doch nur ein Allerschlimmstes unter vielen. Das Wissen, dass die wichtigsten Institutionen, von denen ich umgeben bin, längst die am wenigsten nachhhaltigen sind. Dabei ist „nachhaltig“ doch so ein Lieblingswort der Mächtigen, der „Klimaschützer“ und Welt-Zukunftsretter. In Wahrheit: Finanzsystem, Rentensystem, Bildungssystem, Gesundheitssystem – alles kurz vor der Implosion, und alle ahnen es im Stillen. Neuerdrings drucken sie einfach das Geld im verschärften Akkord dagegen an. Durch die kalte Küche der fröhlich vom aufgeblähten Superstaat geförderten Inflation werden uns damit, da der Sparzins längst nur noch ein Insider-Witz für ältere Banker ist, nun systematisch die letzten Reserven gestohlen. Dein Geld ist nicht weg, nur woanders. Und das Woanders hat Namen und Adressen, die man dir nur aus Datenschutzgründen nicht nennen mag. „Ich gewinne immer, Jack“, sagt Cal zum armen Schlucker auf der sinkenden Titanic.
Oh ja, sie haben Grund, sich zu fürchten in Berlin. Guten Grund, das Blankziehen der Polizeiknüppel schon einmal unter Realbedingungen praktizieren zu lassen, Leuten gegenüber, die nach allgemeiner Beschlusslage nicht ernstzunehmen sind. Und heute Abend haben sie einen Sieg eingefahren. Aber unter Hunderttausenden Dächern leiden an diesem Abend Menschen an Schlaflosigkeit oder schweren Träumen. Das ist kognitive Dissonanz, die neue Volkskrankheit. Das ist die wahre Pandemie, gegen die sie keinen Impfstoff haben.
Heute Abend bin ich wie das Land, diese historisch eigentlich ganz erfolgreiche Zwangsmitgliedschaft von 82 Millionen Menschen im demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik, der derzeit nur noch nicht weiß, ob es schneller geht, wenn er sich selbst abschafft, oder wenn er professionelle Hilfe dabei in Anspruch nimmt. Was mit mir ist? Was ich habe? Eine chronisch-degenerative kognitive Dissonanz, Herr Doktor. Ich bin schwer infiziert. Aber wenn ich C. glauben darf, kommen auch wieder bessere Zeiten. Es ist gut, wenn man nicht allein ist in diesen Tagen, Monaten, Jahren.