Wolfgang Herrndorf lebt öffentlich auf sein Ende zu – und bringt seine Leser dabei immer wieder in verfahrene bis hochnotpeinliche Situationen.

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Der Berliner Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ist auf die Zielgerade eingebogen. Das ist ohne Zweifel ein geschmackloser Satz angesichts des Umstands, dass sein Leben mehr als drei Jahre nach der Diagnose eines unheilbaren Hirntumors laut ärztlicher Einschätzung wahrscheinlich in den nächsten Monaten zu Ende geht. Schließlich hat Herrndorf, 48 Jahre alt, dieses Rennen gegen einen unbesiegbaren Gegner nicht freiwillig angetreten und seine Zielmarke nicht selbst gesetzt.

Und dennoch drängt sich dieser Eingangssatz bei fortdauernder Lektüre seines introspektiven Blogs Arbeit und Struktur auf. Warum das so ist und was das über Lesererwartungen, über Voyeurismus und Exhibitionismus im Internetzeitalter aussagt, darüber grüble ich seit beinahe ebenso langer Zeit, wie Herrndorf sein eigenartig bewegendes Netztagebuch schreibt – nämlich seit eben jener ausweglosen Diagnose, die ihn traf.

Im Blog, das ursprünglich nur seinen engen Vertrauten offen stehen sollte und das er dann doch auch für ihm völlig Unbekannte wie mich öffentlich stellte, setzt sich der Autor der Erfolgsromane „Tschick“ und „Sand“ alle paar Tage aufs Neue mit seiner Krankengeschichte und der Aussicht auf den baldigen Tod auseinander – schonungslos gegen sich selbst und seine Umwelt. Es dient ihm aber nicht nur als emotionales Überdruckventil, sondern auch zum Sortieren der Gedanken, zur Konzentration aufs literarische Schreiben. Arbeit und Struktur eben.

Irre, Idioten

Es ist mit diesem Unterfangen längst selbst Literatur geworden, phasenweise sogar ausgesprochen starke Literatur – für die derzeit denn wohl auch die posthumen Druckrechte geregelt werden; Rowohlt soll hier am Zuge sein. Die Qualität dieses Blogs verdankt sich zum einen der editorischen Sorgfalt bei der Niederschrift, die der Autor nie dem Zufall oder dem Impuls überlässt, sondern vor Veröffentlichung jedes Eintrags penibel be- und überarbeitet. Und zum anderen eben der Schonungslosigkeit, die bis hin zu formaljuristischen Beleidigungen geht (was hat man zu verlieren in dieser Situation?).

Etwa, wenn missionierende Stalker geschildert werden, die Herrndorf ihre todsicheren Krebstherapien mittels Pendeln oder Bachblüten aufdrängen wollen. Oder religiös Vernarrte, nicht zufrieden, solange sie diese verlorene Seele nicht doch noch zum Herrn bekehrt haben. „Irre“ oder „Idioten“ zählt da noch zu Herrndorfs sanfteren Repliken.

In diesen Passagen entstehen aus dem blanken Existenzialismus oft hochkomische und treffend satirische Miniaturen, wie sie Ausweis vieler Tagebücher oder Briefwechsel sind, die zu Klassikern wurden; Mark Twains kürzlich erst erschienene „geheime Autobiographie“ kommt in den Sinn. Aber dass vor dem Hintergrund der aufziehenden Schwärze soziale Rücksichtnahmen über Bord gehen, ist nicht das eigentlich Aufwühlende an diesem Blog. ist vielmehr die Tatsache, dass Herrndorf uns Leser durch die Mitleidlosigkeit im Umgang mit seinen eigenen Ängsten, Zornes- und anderen Gefühlen im langen Schatten des Todes auf eine Reise mitnimmt, die uns pausenlos mit der eigenen Fragilität und Sterblichkeit konfrontiert.

Er tut das bisweilen auf eine fast wissenschaftlich nüchterne, bisweilen auf eine zum Heulen menschliche Weise, die uns keinerlei Deckung lässt, weder Versteck noch Ausflucht. Und wenn wir es zulassen und ertragen können, setzt Herrndorf sich und uns auch noch weiteren Sinnfragen aus: Wie halten wir es mit der Distanzlosigkeit des Internets? Dürfen wir tatsächlich in „Echtzeit“ Anteil am Sterben eines uns fremden Menschen nehmen? Also am neben der Liebe Intimsten, das zumindest in der Alten Welt des Vor-Internets existierte? Und gehen wir nicht, wenn wir das bejahen, eine merwürdig symbiotische Paarung aus Exhibitionist (Erzähler) und Voyeur (Leser) ein?

Wir User und Spanner

Denn der Konsum dieses Live-Ablebens ist Voyeurismus, da beißt die Maus keinen Faden ab. Wann sonst hat man schon Gelegenheit, durchs Schlüsselloch eines virtuellen und doch realen Sterbezimmers zu schauen? Wo sonst gibt es einen Todgeweihten, der sich selbst zum Thema macht und dadurch die Lizenz zum Mit-Leiden erteilt – noch dazu als ein Autor, der solch präzisen Journalismus in eigener Sache zu liefern vermag? Was für ein Glücksfall, möchte man fast rufen, doch für wen? Für einen selbst als „User“ dieses Formats? Als zukünftig auch einmal Sterbender? Als Krückstock für die Bilanz eines Verlags? Als Meilenstein für die Literaturgeschichte?

Wolfgang Herrndorf (Foto: privat / Wikipedia)

Wer „Arbeit und Struktur“ liest, abonniert unwillkürlich einen Fortsetzungsroman. Zwar ist dies eigentlich das ganze Gegenteil, „the real thing“, eine authentische Dokumentation – doch kann Herrndorf gar nicht anders, als seiner Ich-Erzähltung eine höchst dramatische Form mit immer wieder auf- und abwallenden Spannungsbögen zuzubilligen. Sie würde ja sonst dem wirklichen Leben und seinem Ende nicht im Ansatz gerecht.

Und da nähern wir uns der für uns Leser peinlichsten Folge des Sich-Einlassens auf die bezahlschrankenfreie Achterbahnfahrt in den Tod eines anderen. Wir haben uns allmählich vertraut gemacht mit den dramatis personae, zu denen neben dem Autor Freunde, Ärzte, Künstlerkollegen zählen, haben halbbewusst Sympathiepunkte vergeben und mit unserem Helden gehadert, wie wir es aus der Welt des Fiktiven gewohnt sind.

Wir erlebten das Vor- und Nachher von einer, zwei, drei Hirnoperationen mit, verfolgten Linderungen und Rückschläge, teilten Fatalismus, Hoffnung, Verzweiflung. Ganz wie im archetypischen Roman herrschte kein Mangel an Krisen und Konflikten, Idyllen und Tragödien. Wie denn auch anders, wenn jemand die ganze Zeit über stirbt und aber auch immer noch mit ganzer Kraft lebt.

Bleiben Sie dran!

Dabei ist es geradezu paradox: Wäre dieser Bericht nur Fiktion, dann würde dem Autor trotz aller zwischenzeitlichen Sensationen Unentschlossenheit und Langatmigkeit vorgeworfen werden. Denn der gleich zu Beginn angekündigte Klimax, er steht im 42. Kapitel immer noch bevor. Das Leben mag die ergreifendsten Geschichten schreiben; es gönnt sich aber auch die Grausamkeit, dabei keinem Hollywood-Erfolgsrezept und keinem verfilmbaren Pacing zu folgen. Hier endlich perviertiert die Rezeption dieses Blogs dann vollends: wenn man als Leser in die Lage gerät, „Nun mach doch mal voran!“ zu fordern. Der guten alten narrativen Tradition folgend, die uns stets antrieb: „Bleiben Sie dran!“

Diese in uns entfachte Erregung, dieses fast süchtige Gebanntsein vom sich entfaltenden Todespanorama ist einerseits das größte Kompliment, das dem Schriftsteller Herrndorf gemacht werden kann. Und zugleich die den Menschen verachtendste Grobheit. So stürzt er uns, indem er arglos unsere Sucht nach dem Ultimativen bedient und enttarnt, mit seinem letzten literarischen Produkt als Leser in die größtmöglichen Gewissenskonflikte. Und dabei hätte Wolfgang Herrndorf sicher viel lieber seinen gegen alle statistische Vernunft noch begonnenen Roman mit dem Arbeitstitel „Isa“ fertiggestellt. Dieses Werk wurde wohl vereitelt, dafür einem anderen aus dem Chaos eindrucksvolle Gestalt abgerungen.

Arbeit und Struktur, sie haben ungewöhnlich lange standgehalten. Nun stehen sie vor der finalen Auflösung – und der Unsterblichkeit.