Die Urfassung des folgenden Textes steht drüben bei Buddenbohm, der bloß, weil er neuen Wohnraum außerhalb von St.Georg in Betracht zieht, vor einigen Tagen einen leichtsinnigen Aufruf in sein Blog gestellt hat: Wir sollten Notizen über unseren jeweiligen Hamburger Stadtteil schicken oder online stellen. Es folgte ein Feuerwerk von Beiträgen zu Quartieren zwischen Helgoland und München. Dies hier ist die ergänzte und leicht korrigierte Version meines kleinen Essays über Hamburg-Hamm. Ein paar zentrale und schlichtweg vergessene Attraktionen mussten einfach noch mit rein. Und Bilder natürlich.

Architektonische Leichtigkeit im Hammer Park

Ich will nicht angeben, aber ich lebe in Hamm. Hamburg-Hamm. Fragt mich nicht, wie ich es damals, vor zehn Jahren, geschafft habe, diese Genossenschaftswohnung zu bekommen, groß genug für Mann, Frau und – wie sich herausstellen sollte – zwei Kinder. Es gibt eben Menschen, die fallen mit dem Arsch voran ins pralle Glück.

Hamburg-Hamm. Ja, genau der sagenumwobene Glamour-Stadtteil für die Hardcore-Bohème, drei U-Bahn-Stationen östlich vom Hauptbahnhof. Standort der berühmten Ballettschule von John Neumeier. Ein paar Häuser weiter hält sich seit 100 Jahren ein Laden unklarer Kategorie, wahrscheinlich Drogerie, aber eigentlich Kramladen. Man kann ihn kaum betreten vor Zeugs. Vielen anderen dieser bescheidenen Krimskramsläden ist in letzer Zeit der Garaus gemacht worden. Ersatz ist nicht in Sicht.

Hamm, Wiege des allerersten Ur-Café May, und das auch noch in meinem Rotklinkerblock, wo auch der Café-Gründer hauste. Statt in einem der anderen 500 Rotklinkerblocks. Bis er in anderen Ecken Hamburgs so viele weitere Café Mays geklont gegründet hatte, dass er vor Geld nicht mehr laufen konnte und wegziehen musste. Vielleicht in einen von diesen Langweiler-Stadtteilen westlich der Alster, Eppendorf oder Pöseldorf oder Blankenese, was weiß ich, der Ärmste.

Hamm, das man auch das Hollywood des Ostens nennt, seit hier im vergangenen Sommer die blutigsten Teile des wunderbaren Kinofilms „Banklady“ gedreht wurden, weshalb der alte Türken-Supermarkt Ünüvar schräg gegenüber meiner Wohnung zur 60er-Jahre-Bankfiliale umdekoriert wurde. Unser dauerhaftes Stadtteil-Design verbilligte die Kulissenbauten.

Der Ünüvar als Film-Sparkasse

Hamm, wo Kristian Bader seine legendäre Baderanstalt unterhält und bizarre Konzerte, Lesungen (auch ein Herr Buddenbohm soll dort schon zu Gast gewesen sein) oder Trinkgelage veranstaltet. Und wo Buchhändlerin Elke Ehlert von „Seitenweise“ den Stadtteil mit Volksbildung überzieht, ob er will oder nicht. Etwa, wer Arno Schmidt war, der sein größtenteils unverständliches, unles- und -verfilmbares Werk bei uns, in Hamm, geschaffen hat. Genauer gesagt, und diese ebenso feine wie sprachlich hölzerne Unterscheidung ist eine bemerkenswerte Parallele zum Gebrauch im Nachbarstadtteil: Er schuf es in Unten-Hamm.

Ich dagegen wohne in Oben-Hamm. Was bei Isa in Borgfelde erst zaghaft anfängt, nämlich dass die eine Wohngegend etwas höher liegt als die andere, das erlebt man erst bei uns, zwei Kilometer weiter, in seiner ganzen sozial brisanten Konsequenz: Oben-Hamm liegt auf dem Geestrücken, an die zehn Meter höher als der Teil, auf den wir herabblicken. Weil wir nämlich die Gewinner der letzten Eiszeit sind: Damals schob sich die Endmoräne nur bis zur Hammer Dreifaltigkeitskirche. So was kommt von so was her, aufgestanden, Platz vergangen.

Reklame auf dem Geestrücken

Ach, die Dreifaltigkeitskirche. Das gibt es ja auch in ganz Hamburg nicht noch mal. Eine Architektur wie Alpha (Turm) und Omega (Kirchenschiff). Sensationell. Muss man gesehen haben. Auf dem Kirchhof ein überwucherter Grabstein mit Totenschädel-Relief, in den eingraviert steht: Lernet Sterben! Und innen – in der Kirche, nicht im Grab – wirkt Diemut Kraatz-Lütke, das Kirchenmusikgenie. Meine Frau singt da auch im Chor, und ich will schon wieder nicht angeben, aber Diemut holt aus allen das Letzte raus. Ihr Chor HAMMonie hat über die Grenzen Volksdorfs und Bahrenfelds hinaus einen Ruf wie Donnerhall, und das meine ich ernst. Gerade erst kürzlich wieder dieses dreistündige Mendelsohn-Oratorium – ich hatte ja leider Rücken und musste raus, schade.

Frohe Botschaft im Schatten der Dreifaltigkeitskirche

Da wäre natürlich noch der Hammer Park, unsere gartenbautechnisch wie historisch interessante grüne Lunge. Sie verfügt über eine 1A-Todespiste für Wintersportler (in den 60ern soll sich dort tatsächlich ein junger Rodler das Genick gebrochen haben), über einen Schachpavillon, wo unzugängliche Russlanddeutsche ihre Figuren in Blechcontainern bunkern, sowie natürlich über das Mehrzweckstadion, das den örtlichen Fußballclub Hamm United FC beherbergt. Der ist ominöserweise erstens anglophon, spielt zweitens entsprechend körperbetont rustikal und hat drittens einen Bogenschützen im Wappen – verstehe das alles, wer will. Ach ja, und dann gibt es da den Minigolfplatz. Wo selbst Hamburger Blogger schon Turniere ausgetragen haben, in grauer Vorzeit.

Hamm verdanke ich die kathartische Erfahrung, dass man Kultur oder Schönheit oder Inspiration viel toller findet, wenn man sie mit der Lupe suchen muss. Für jüngere Leser: Stellt euch vor, jemand verurteilt euch zu drei Wochen Facebook-Entzug – und dann schmuggelt euch einer für fünf Minuten ein Smartphone in die Zelle.

Ich werde aber den Teufel tun und Hamm weiter preisen. Sonst wollt ihr alle hier hin. Und dann ist nix mehr mit bezahlbaren Mieten, das geht ja jetzt schon los. Also bleibt, wo ihr seid! Ihr mögt doch keinen Rotklinker, keine Sozialrentner, keine Rollatoren und Quartalstrinker. Keine muffeligen Änderungsschneidereien und keine Fahrschulen, die „Fahrszination“ heißen. Ihr mögt es auch nicht, auf manchen aufgewühlten Wegen immer noch verkohlte Knochenstückchen zu finden vom Feuersturm, anno 1943.

Ganz toll szenig, habe ich gehört, soll es ja in der Schanze und im Karoviertel sein. Bitte zieht da hin, lärmt und dreckt alles voll und macht einen weiten Bogen um mein Hamm. Danke!