Wir sollen „Haltung“ zeigen gegen Rassismus, verlangt ausgerechnet der Außenminister. Überhaupt mangelt es derzeit nicht an Haltungs-Experten – oft ohne vorherigen Blick ins Bedeutungswörterbuch. Während die Vordenker uns also unterrichten, was die richtige Haltung ist, bleibt Nachdenkern nur die Frage, was Haltung alles nicht ist.

Warum und inwiefern Heiko Maas Haltung einfordert, mag ich hier nicht wiederkäuen. Das kann sich jeder selbst jeden Tag aufs Neue von den deutschen Leitmedien einbimsen lassen: Bei den einschlägigen Themen springt es aus nahezu jedem Leitartikel, jeder Reportage, jedem (objektiven Tatsachen verpflichteten) Bericht und jeder (die reinen Fakten vermittelnden) Meldung. Es tönt aus fast jedem veröffentlichten Statement von Politikern, Gewerkschaftern, Pädagogen, Kulturschaffenden und Klerikern.

Man kann natürlich zur Abwechslung auch auf Facebook gehen, wo es aber – je nach Filterblase – ebenfalls nicht an Erläuterungen der einzig richtigen Haltung zu vielerlei Problemen mangelt.

Was das also für eine Haltung ist, die da eingefordert statt angeboten wird („man muss“ / „wir müssen“), sollen die berufsmäßigen Haltungserklärer erklären. Mir bleibt bloß übrig zu beschreiben, was Haltung nicht ist. Vielleicht, Herr Maas, wird dann verständlich, warum man sie nicht einklagen kann.

Kein Bauchreflex

Haltung ist – erstens – nicht etwas, das aus einem Bauchreflex heraus geboren wird. Auch nicht, wenn dieser Reflex hundertfach hintereinander bedient wird, etwa durch die richtigen Reiz- und Schlüsselwörter. Auch und gerade nicht, wenn das Befolgen des Refexes einen scheinbaren Einklang zwischen Reiz und Reaktion herstellt.

Haltung entsteht vielmehr in einem langen, oft qualvollen und von nagenden Selbstzweifeln durchwebten Prozess aus Versuch und Irrtum, aus dem immer wiederholten Abgleich von Vermitteltem und Erfahrenem zum Beispiel. Haltung bedingt daher die nicht nur emotionale, sondern intellektuelle Analyse und Durchdringung der eigenen Umwelt und des gesellschaftlichen Kontextes, soweit Informationen darüber erhältlich sind. Schreiben alle immer dasselbe, Sie aber erleben etwas ganz anderes – dann ist es Dummheit, das Erlebte zu verwerfen, aber Haltung, sich dieses Erleben allen gegenteiligen Verlautbarungen zum Trotz zur Richtschnur seines Denkens, Redens und Handelns zu nehmen.

Kein Wolfsgeheul

Zweitens besteht Haltung nicht darin, mit den Wölfen zu heulen – aber eben auch nicht mit denen im Schafspelz. Wenn Haltung eingefordert statt vorgelebt wird, wenn sich zwischen beidem Abgründe des Glaubwürdigkeitsverlustes auftun, dann dient diese eingeforderte Haltung in Wahrheit dazu, einer Agenda der Wölfe verpflichtet und unter ihre Kontrolle gebracht zu werden: Do as I say, not as I do!

Erst recht, wenn jene sich zu diesem Zweck in Schafspelze hüllen und die von ihnen normierte Haltung als die Messlatte ausgeben, wer Wolf und wer Schaf sei. Die Umwertung aller Werte, die schon Nietzsche beklagte, ist ein beliebtes Mittel zum Erpressen von Haltung in Anführungsstrichen.

Kein Meinungsmobbing

Haltung ist – drittens – nicht, aus dem Schutz der Anonymität oder seiner peer group heraus dem „Anderen“ jede moralische Richtschnur abzusprechen. Oder es gleich ins feindliche Lager einzusortieren (wer nicht für uns ist, ist gegen uns). Haltung erkennt Haltung und respektiert sie, auch im Falle des inhaltlichen Gegenteils.

Wer „Haltung“ dazu instrumentalisiert, seine moralische Überlegenheit zu demonstrieren, dem ist in Wahrheit nicht an Haltung gelegen. Sondern an Bonuspunkten auf einer imaginären Rechtschaffenheitsskala. Wahre Haltung fragt nicht: Gefalle ich? Sie nimmt in Kauf, nicht zu gefallen.

Kein offenes Scheunentor

Haltung ist – viertens – nicht, mutig voranzugehen, wo man sich zuvor nach allen Seiten guter Deckung versichert hat. Haltung rennt keine offenen Scheunentore ein. Sie nimmt den gefährlichen, mit Fallstricken und Schlingen ausgelegten Weg, der zur Not allein gegangen werden muss. Je weniger auf diesem Weg unterwegs sind, desto wahrscheinlicher ist es sogar, dass sie Haltung zeigen müssen.

(Wenig Verkehr kann auch bedeuten, dass der Weg falsch ist. Aber auch das ist – fünftens – etwas, das Haltung nicht ist: Sie ist kein Garant für den historisch richtigen Weg, nur für innere Kongruenz.)

Keine Religion

Haltung ist – sechstens – nicht unerschütterlich (sonst wäre sie eine Religion). Im Gegenteil: Unter gegebenen Umständen kann es notwendig sein, seine Haltung an einen neuen gesellschaftlichen Kontext anzupassen. Nicht, um sich neuen Mächtigen anzubiedern, sondern um ihnen, falls nötig, entgegentreten zu können.

Wenn das bedeutet, sein Weltbild um 180 Grad wenden zu müssen, dann ist das also nicht mit Prinzipienlosigkeit zu verwechseln (diese würde die 180-Grad-Wende vollziehen, ohne dass sich die Umstände geändert haben). Es besagt vielmehr gerade, dass die moralische Richtschnur einer sich vollkommen gewandelten Situation angepasst wird. Eine geänderte Haltung ist somit das Anerkenntnis, dass die Welt sich weitergedreht hat.

Kein Mittel zum Zweck

Haltung ist zuletzt nicht Mittel zum Zweck. Man bekommt kein Fleißkärtchen dafür, kein Sternchen für Wohlverhalten, kein Diplom, das die Eignung zu Höherem bescheinigt. Haltung nützt nicht dem Geschäft und ebnet keine Karrierepfade (im Gegenteil, wie die Geschichte ein ums andere Mal bewiesen hat).

Sie schielt aber auch nicht danach. Sie ist einer der wenigen Selbst-Zwecke im Leben: sich selbst und ihrem Träger genug, um durch eben dieses Leben zu kommen. Dass es dann am Ende nicht falsch gelebt war, dass unterwegs keine Spiegel zersprungen sind, ist ihr Belohnung genug.  

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Wie ich denn zu diesen Thesen komme? Das kann ja jeder behaupten! Richtig, und jeder auch irgendwas ganz anderes. Aber es hilft, wenn man schon das eine oder andere Mal auf der falschen Seite des anerkannten Meinungsspektrums gestanden hat. Die Reaktionen darauf am eigenen Leib zu erfahren, macht die Antennen jedenfalls nicht weniger empfänglich für die Mechanismen des Meinungs-und Wahrheitsgeschäfts. Und für das, was der innere Kompass vorgibt. Falls Sie das noch nie erlebt haben: Probieren Sie’s aus! Neue Erfahrungen warten auf Sie.


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