Eiswind aus Nord: Die “Zeit” begrüßt den totalen Staat und erklärt, warum ein liebgewonnener Begriff im Stile von Orwells “1984” umgedeutet werden muss.

Aus nördlichen Richtungen strömt die nächste Welle polarer Kälte ins Land – nicht von der Arktis her, sondern aus den gediegen temperierten Redaktionsräumen am Hamburger Speersort. Sie flankiert das Tiefdruckgebiet über Berlin und den Eissturm über Karlsruhe, ganz der permanenten Großwetterlage entsprechend. Heinrich Wefing, Ressortleiter Politik der “Zeit”, hat heute für das ehemals liberale Blatt neue, aber nicht länger überraschende Maßstäbe gesetzt – im Sinne der zeitgenössischen Erzwingungshaft-Gesinnung dieses Mediums, das einmal die Zeitung Helmut Schmidts und Marion Gräfin Dönhoffs war.

Wefing kommentiert die schon für sich genommen erschütternd totalitäre Begründung der Karlsruher Verfassungsrichter, die dem Grundrechtegemetzel der Merkelregierung (und mithin auch aller nachgeordneter Staats- und Regierungsorgane auf Landes- und Kommunalebene) im Zuge der Coronapolitik nachträglich und für alle Zukunft eine vollständige – eben totale – Absolution erteilt hat.

Spürend, dass der uns vertraute Begriff der Freiheit für das Leben in diesem Land nun endgültig nicht mehr taugt, weil eine massive und massenhafte politische Praxis jenseits der Schutznormen des Grundgesetzes eben nicht mehr zu einer freiheitlichen Grundordnung passt, tut der Kommentator das einzig Verbliebene: Um Anspruch und Wirklichkeit wieder in Kongruenz zu bringen, passt er den alten Begriff der neuen Realität an. Er tut dies aus pflegender Fürsorge für die Sprache, “weil der Begriff der Freiheit in der Pandemie immer unklarer wird, weil er verlottert und seltsam changiert”.

Was mag das heißen, er “verlottert”? Wer hat das Wort Freiheit verlottern lassen? Und zu was? Wir erfahren es nicht. Die Regierung kann es nicht sein, und Unfreiheit kann es nicht sein. Es müssen egoistische Individuen gewesen sein, die auf der Freiheit herumtrampelten. Denn die Frage, auf die der Verlotterungsprozess für den Kommentator hinausläuft, ist diese: “Braucht es womöglich einen neuen Freiheitsbegriff, einen Freiheitsbegriff der Krise, der weniger auf der Autonomie des Individuums beharrt als vielmehr auf den Solidaritätsforderungen der Gesellschaft?”

Einen solchen Freiheitsbegriff kann es selbstredend nicht geben, außer: Du bist frei, das zu tun, was die Gesellschaft von dir verlangt. Und wer ist überhaupt diese Gesellschaft, die Solidarität fordert? Auch das erfahren wir nicht. Alle diese Setzungen sind aus Sicht der “Zeit” selbsterklärend: Die Gesellschaft, das sind wir, die Richtigmeinenden und -fordernden. Wir, die “Zeit”-Redakteure und ihre Leser. Der Rest, diese vielen Millionen, mit denen wir leider in einem Land leben müssen, kann sich gehackt legen mit seinen Ansprüchen an den Anachronismus “Freiheit” 1.0. In einer Wefing-Gesellschaft, die Solidarität fordert, ist kein Platz für die Freiheit des Individuums oder einer Minderheit.

Mit der rhetorischen Frage nach der selbstverständlich gegebenen Notwendigkeit einer Umdeutung von Freiheit ist die Bühne bereitet für die nächste Abwägung, die “natürlich” im Kopf eines “Zeit”-Ressortleiters rumort: “Was bedeutet das alles für die Klimakrise?” Denn “Krise” ist ja dank dieses Vehikels zum Glück jetzt immer. Und die Antwort gibt der Autor dann sinngemäß auch gleich selbst: Es bedeutet die totale Narrenfreiheit der Macht – unter einer Bedingung: “Der Gesetzgeber muss nur plausibel machen, dass das, was er tut, nützt, dass es wissenschaftlich abgestützt ist und dass es befristet bleibt.”

Wenn der Gesetzgeber also beim Testfall Corona beschlossen hat: Ich befriste das Arbeits-, Bewegungs-, Einkaufs-, Demonstrations-, Lern-, Amüsier-, Beförderungs- und Lebensqualitätsverbot für Hunderttausende Ungeimpfte bis zum Tag des Jüngsten Gerichts oder bis zu ihrer kollektiven Zwangsimpfung, dann war das befristet und in Ordnung.

“Das ewige Zaudern, das Halbgare und Unentschiedene der deutschen Corona-Politik lässt sich nicht weiter auf das Grundgesetz abwälzen” (Die Zeit, Online-Ausgabe, 1.12.2021)

Wenn der Gesetzgeber erklärt hat, diese Impfung (mit unausgereiften, ganz offensichtlich auf breiter Front versagenden Substanzen, die zahlreiche, möglichst verschwiegene Fälle höchst bedrohlicher Nebenwirkungen produzieren und zudem nicht die Virusverbreitung, sondern lediglich schwere Verläufe zeitweilig verhindern) sei nützlich und wissenschaftlich abgestützt, dann hat sie es plausibel gemacht. Denn sonst hätte es das BVerfG ja nicht im Nachhinein abgesegnet.

Und wenn die neue Bundesregierung morgen den Kritikern der vom selben BVerfG zum unhinterfragbaren Staatsziel erhobenen “Klimaschutzpolitik” dieselben Maßnahmen zuteil werden lässt? Dann kann sie diese Leute auch 20 Jahre lang vom Leben ausschließen. Ist ja nur befristet! Ja nun, Klimaveränderungen zum Besseren bedürfen sehr langer Fristen. So belastbar ist diese Karlsruher Begründung, das hält sie aus. “Ob das schon der Vorschein einer massiv eingreifenden Politik im Kampf gegen die Klimakrise ist”, fragt sich der “Zeit”-Kommentator. Ein Querdenker, wer da kaum verhohlene Vorfreude herausliest.

Doch nun gibt es leider wohl immer noch irgendwo die ewigen Bedenkenträger. Diesen illegalen Zombies sei zugerufen: “Natürlich kann man, nur zum Beispiel, allgemeine Ausgangssperren immer noch für falsch und freiheitsfeindlich halten. Aber man kann sich dafür nun nicht mehr auf das Verfassungsgericht berufen.” Mit anderen Worten: Das Recht, die Dinge anders sehen zu wollen als die Jakobiner im Gericht und in der “Zeit”, hat Gott sei Dank seine letzten Hüter verloren.

Wenn die Politik nun “durchgreifen” will, sind ihr keine Schranken mehr auferlegt. Die “Zeit” findet das wunderbar, denn “Karlsruhe taugt nicht mehr als vage Ausrede”, wenn nicht knüppelhart durchgegriffen wird: “Das ewige Zaudern, das Halbgare und Unentschiedene der deutschen Corona-Politik lässt sich nicht weiter auf das Grundgesetz abwälzen.” Letzteres nämlich ist erfolgreich für immer aus dem Weg geräumt. Rechtsfortbildung durch Rechtsprechung nennt man das. Jetzt also: Knüppel aus dem Sack! Die historisch präzedenzlosen Grundrechtsentzüge seit März 2020 können, nein dürfen nur ein Vorgeplänkel gewesen sein.

Womit wir nach dieser Vorschau auf die nächste Phase der Erderwärmung ein letztes Mal wieder beim aktuellen Lieblingsthema sind: “Und die Ampel-Regierung, die Führung versprochen hat, könnte nun rasch anordnen, wonach Ärzte und Wissenschaftler verzweifelt rufen: Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte zum Beispiel”.

Ewiges Zaudern. Halbgar. Führung. Anordnen. Verzweifeltes Rufen nach Kontaktbeschränkungen. Durchgreifen. Und den Freiheitsbegriff auf das Niveau der Sklaverei hinabmanipulieren, nachdem schon zwei Jahre lang bislang Undenkbares im rechtsfreien Raum durchgepeitscht wurde. Alle Ober-, Zwischen- und Untertöne der Rhetorik einer anderen Epoche schrillen hier mit. Nur Alarmglocken gellen deswegen keine mehr im Oberstübchen der “Zeit”.

Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Entweder wird man den “Zeit”-Kommentar in zehn Jahren aus dem Online-Archiv ziehen und fassungslos die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Oder man wird ihn im Staatsbürgerkunde-Unterricht auswendig lernen müssen.


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