Mozart live auf Weltniveau, kühle Drinks am Tisch im Schlosspark, Kunstschätze in herzöglichen Gemächern: Impressionen aus den berühmten Roaring Twenties. Nicht 1921, sondern 2021 in Norddeutschland. Und diese 24 Stunden waren nicht mal geträumt.
Konsumenten beim Konsumieren: Steigerung des Bruttosozialprodukts durch Senkung des Glaspegels.

Sonntag, der 18. April 2021. Das war das Datum, schon wieder gut eine Woche her. Ich habe mir meine persönlichen Highlights dieses glücksprallen Tages notiert und einige Handyfotos gemacht. Damit ich die Ereignisse hier später nachlesen kann, in den kommenden Wochen und Monaten. Ich trotze meine Lebensfreude jetzt diesen kleinen Gipfelchen ab, die aus der endlosen Lockdown- und Verbotslandschaft herausragen. An ihnen kann sich die Erinnerung festkrallen.

Gerade ist ein guter Moment dafür, denn eine Woche ist heutzutage eine lange Zeit. Seither gab es die weitere Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes, die Abschaffung des grundgesetzlichen Föderalismus zumindest im Gesundheitswesen, die offizielle Einführung des Wortes Bundesnotbremse, die Verlängerung des im November begonnenen Lockdowns bis „vorerst“ irgendwann im Mai, und hier in Hamburg seit vorgestern die weitere Verschärfung der Maskenpflicht: ab sofort FFP2 statt der noch relativ atmungsaktiven „chirurgischen“ in allen öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch an Deck der Elbfähren, wo ich immer gern im frischen Fahrtwind stehe. Doch, ja, dieser Moment ist ein guter Moment.

Jener Sonntag also begann in Hamburg mit einem Kirchgang. Das ist alles andere als typisch für mich. Ich bin seit Ewigkeiten kein Christ mehr, und je mehr ich über die Verflechtung der Amtskirchen mit der tonangebenden politischen Klasse lerne, umso blümeranter wird mir beim bloßen Gedanken an den Besuch eines Gottesdienstes. Aber dieses eine Mal habe ich eine Ausnahme gemacht. Denn die musikalische Umrahmung der Veranstaltung versprach Musik auf allerhöchstem Niveau. Live dargebracht durch lebendige, körperlich im selben Raum anwesende Künstler. Nach den Entbehrungen der letzten sechs nahezu kulturlosen Monate in der Kulturmetropole Hamburg war diese Verheißung unwiderstehlich.

Ich wurde nicht enttäuscht. Die beiden jungen Musiker, die Violinistin Hellen Weiß und der Pianist Fabian Gehring, treten normalerweise bereits in Häusern wie der Elbphilharmonie auf – vollkommen zu Recht, denn sie könnten und werden noch die berühmtesten Konzertsäle dieser Welt begeistern. Was sie uns boten, war nichts anderes als göttliche Musik: Bach, Mozart, Reger, Richard Strauss in leidenschaftlichen und kraftstrotzenden Interpretationen. Eine solche Virtuosität hat es in dieser Kirche, die schon viel außerordentlich qualitätsvolle Klangkunst gehört hat, wahrscheinlich noch nicht gegeben. Man hätte Tränen vergießen können. Und das alles ohne Eintrittsgeld, allein um den Preis einer Predigt. Also quasi geschenkt.

Live-Musik, dargebracht durch lebendige, körperlich im selben Raum anwesende Künstler – nach sechs nahezu kulturlosen Monaten in der Kulturmetropole Hamburg war diese Verheißung unwiderstehlich.

Das Motiv der beiden begnadeten und gemäß ihrem Marktwert schon fast unbezahlbaren Musiker, uns diese Musik zu schenken, war dem Vernehmen nach pure Begeisterung wegen der unerwarteten Möglichkeit, einmal wieder vor Publikum auftreten zu dürfen. Diese Spitzenkönner geben vor dem kläglichen Auditorium extrem spärlich gefüllter Kirchenbänke – es hatte nur Mundpropaganda unter Insidern gegeben – ihr Allerbestes, weil sie überhaupt spielen dürfen. Dankbarkeit, ganz ausnahmsweise das tun zu dürfen, was man am allerbesten kann und was Menschen im tiefsten Herzen gesunden lässt. Nicht verwunderlich, dass die Matinée bei mir mehr Glücksgefühle hinterließ als meine bisherigen Elbphilharmonie-Besuche zusammen.

Damit war dieser Sonntag wie aus dem richtigen Leben aber noch lange nicht vorbei. Denn jetzt lockte die unendliche Ferne. Jene Weite, die Hanseaten auf den sieben Weltmeeren gewohnt waren, als sie an Bord eines Handelsseglers noch nicht FFP2 tragen mussten. Rio, New York, Tokio. Und dieses Mal: Reinbek. Sagenhafte Stadt am anderen, offenen Ende der Weltscheibe, gut 15 Kilometer hinter Hamburgs Gesundheitsgrenze. In Schleswig-Holstein, dem Balkanstaat der Anarchie, der am Tag zuvor kurz mal ein wenig aufgemacht hatte, um etwas Luft reinzulassen in den Muff von tausend Jahren.

Würden wir ein Visum brauchen? Einen Impfpass? Eine Sondergenehmigung des Auswärtigen Amtes? Nein, nein und nochmals nein: Es genügte der pure Wille zum Hinausradeln in den Frühling. Nun liegt Reinbek heutzutage aber so weit weg, dass Sie vermutlich noch nie davon gehört haben, wenn Sie nach 2019 geboren sind. Wie sollten Sie auch. Singen doch die Medien seither lauthals das Hohelied auf den Urlaub in der eigenen Hose. Und zuhause ist es überhaupt am sichersten.

Die Älteren und Bewanderteren von Ihnen könnten sich allerdings noch daran erinnern, dass in Reinbek einmal der Rowohlt-Verlag zuhause war. Sogar der seltene Brummbär Harry R. war damals freilaufend in den Straßen von Büchsenschinken belauschbar, einem Ortsteil, den regelmäßige TWASBO-Leser bereits kennen. Das ist alles lange her, Rowohlt zog seitdem ins Herz der Finsternis (Hamburg-Mitte), aber eines hat Reinbek nach wie vor: sein Schloss. Und dieses Schloss hat einen Park. Und dieser Park hatte an jenem Sonntag etwas, das fast zu schön klang, um wahr zu sein: eine geöffente Außengastronomie. Wer hätte nicht an einem Tag, der mit Zaubermusik begann, den Weg dorthin gesucht?

Dennoch wollte ich es aus Enttäuschungsvermeidungsgründen erst glauben, wenn ich dort angekommen und Zeuge genau dieser Szene geworden wäre. Aber was soll ich sagen, es stimmte. Bitte sehr: Schloss Reinbek und sein Outdoor-Restaurantbetrieb am Nachmittag des 18. April 2021. Liegestühle, Sonnenschirme, eine zügige Abfertigung der Wartenden-Schlange, faire Preise und ein halbwegs sonniger Frühlingstag in herzöglicher Parklandschaft – was könnte schöner sein?

Was machen all diese Menschen da? Öffentliche Übung in kulturellem Leben unter realistischen Bedingungen.

Ich wusste nicht mehr, wie man in einem Restaurant etwas bestellt. Deshalb übernahm das meine charmante Begleiterin, die ein längeres Gedächtnis hat als ich. Es funktionierte. Man teilte uns sogar einen echten, teakhölzernen Tisch zu. Das ist ein Möbelstück, an dem man früher Speisen und Getränke zu sich nahm. Im Sitzen. Mit Besteck, Geschirr und/oder Gläsern. Statt sich auf Mauerkanten, Parkbänken, Fahrradständern oder anderen ungeeigneten Outdoor-Gegenständen niederzulassen, um in halb hockender, halb kauernder Haltung bei Nieselregen kalte Fritten aus der Tüte zu fummeln.

Wir saßen also da in der verschreckt irrlichternden Frühlingssonne, schlürften unsere Aperol Spritze durch biologisch abbaubare Trinkhalme, genossen die Aussicht ins zunehmend Erblühende und die ganz große Freiheit aus dem antiautoritären Bilderbuch. So andächtig habe ich das seit dem Frankfurter APO-Kongress von 1968 nicht mehr getan. Was 15.000 Meter jenseits der Grenze einer Freien und Hansestadt doch ausmachen.

Mein Tag der Freiheit und der Kulturgenüsse aber war immer noch nicht ausgeträumt. Schloss Reinbek besteht ja nicht nur aus einem Restaurant, sondern auch noch aus einem Schloss. Und das Schloss, es war unverschlossen. Auch das wollte ich, selbst unter dem Einfluss von im Sitzen zugeführtem Alkohol, erst nicht glauben. Doch da stand ein Wegweiser zu einem Kassenhäuschen, und die Tür war – offen. Sie war offen! Man konnte hindurchgehen! Für lausige drei Euro Eintrittsgeld pro Person durften wir das Schloss besichtigen, von innendrin. Und ich meine, es ist immerhin ein Herzogssitz. Also nichts wie rein, als wenn’s kein morgen gäbe! (Weise Voraussicht, später mehr.)

Schloss, unverschlossen: Sofort strahlt das Bauwerk den Zauber von Hogwarts aus.

Drinnen also knarzende Parkettböden, samtige Gobelins, gekachelte Öfen, ranzige Ölgemälde, der ganze historische Schnick und Schnack plus weitere, moderne, abstrakte, nicht ranzige Ölgemälde. Unter normalen Umständen vielleicht gar nicht mal sooooo faszinierend, aber wenn man kulturell fast ein halbes Jahr ausgehungert und depriviert wurde … ein herzögliches Festmahl fürs Auge. Selbst der Staub schmeckte nach Manna und Ambrosia. Und hier, bewundern Sie das:

Meerweibchen (rechts) beim – ja, was eigentlich: Rauchen? Flötespielen? Zähneputzen?

Eine friesische „Stuhluhr“ (weil der Sockel, auf dem das eigentliche Uhrengehäuse ruht, wie ein Stuhl geformt ist), die sogenannte „Meerweibchenuhr“ aus der Zeit um 1780. Die volkstümliche Malerei über dem Ziffernblatt zeigt die Jahreszeiten anhand der jeweils saisonüblichen bäuerlichen Tätigkeiten. Wunderbar, wieder einmal zu sehen, wie viel Sorgfalt, Leidenschaft und Können die Meister vergangener Jahrhunderte in ihre Handarbeiten haben einfließen lassen.

Eine allerletzte Sensation hatte dieser Tag mir zu bieten. Plötzlich und völlig unerwartet stand ich in einem entlegenen Raum des Schlosses vor Dokumenten aus dem mich persönlich weiterhin verfolgenden Reinbeker Stadtteil Büchsenschinken. Auf Infotafeln des Museumsvereins Reinbek erblickte ich erstmals ein alte Schwarzweißfoto des Schankraums im hierorts bereits erwähnten Gasthof Büchsenschinken, der rund 100 Jahre lang existiert hat und erst ca. 2005 aufgegeben worden ist. Ein inneres Pfingstfest (ja, Pfingsten wird immer noch Lockdown sein) war für mich auch der Hinweis, dass der Büchsenschinken-Gründer Johann Daniel Witten 1825 vom Amt Reinbek die sogenannte Kruggerechtigkeit verliehen bekommen hatte – ein großartiges Wort für die Genehmigung, Branntwein auszuschenken. Und mir war auch nicht klar gewesen, dass sich erst nach 1945 jemand anderes außer Mitgliedern der Familie Witten in Büchsenschinken angesiedelt hat.

Zuletzt aber hieß es – inwendig reich an Bildern – heimkehren nach Hamburg. Rechtzeitig vor der abendlichen Ausgangssperre. Und dann schnell die Ereignisse aufschreiben, so wie die Maus Frederick nicht wie die anderen Mäusekinder Nüsse für den Winter sammelt, sondern Wörter. Um später von den Geschichtenvorräten zehren zu können. Ich habe gerade noch einmal nachgeschaut: Aufgrund der Bundesnotbremse ist der Außenbereich der Gastronomie von Schloss Reinbek seit Samstag, dem 24. April laut Webseite „erst einmal wieder geschlossen“.