Genau 60 Jahre ist es her, dass Bob Dylan „The Times, They Are A-Changin'“ schrieb. Der Song wurde zur Hymne einer damals gerade erst losbrechenden Kulturrevolution, die als politische Befreiung erschien. Im Jahr 2023 sind aus den vermeintlichen Befreiern diejenigen geworden, gegen die das Lied gerichtet war. Und es sieht so aus, als ob sich die Geschichte wiederholt.
Dies ist die Geschichte zweier Songs. Es ist eine Geschichte von zwei Männern und zwei Gitarren. Eine Geschichte von zwei Zeitenwenden, die eine lange zurückliegend, die andere … nun, wir werden sehen.
Im September 1963 schaute der Musiker Tony Glover in der Bude des 22-jährigen Singer-Songwriters Bob Dylan vorbei, der damals gerade einer wachsenden Öffentlichkeit zum Begriff wurde. Glover schnappte sich laut Dylan-Biograf Clinton Heylin ein Blatt des Songtextes, an dem der damals noch kurzhaarige Protestsänger gerade arbeitete, und las vor: „Come Senators, Congressmen, please heed the call…“ Was der Scheiß bedeuten solle, fragte Glover, und Dylan zuckte die Schultern: „Na ja, weißt du, es scheint wohl das zu sein, was die Leute hören wollen.“
Es war in der Tat das, was die Leute hören wollten: „The Times, They Are A-Changin‘.“ Die Zeiten ändern sich! Das war nicht als Frage formuliert, nicht als Bitte und nicht als unverbindlicher Vorschlag. Es war ein einziges Ausrufezeichen, ein Antrittsbefehl, ein Ruf zu den Waffen. Es war die lang ersehnte Hymne des Aufruhrs gegen die verklemmte und verständnislose Elterngeneration. Die Hymne der sexuellen Befreiung. Die Hymne der Gegner des brutal-sinnlosen Vietnamkriegs. Die Hymne des Aufstands gegen die religiösen Tugendwächter und die Gedankenkontrolle durch die Spießer des Establishments. Die Hymne einer Kulturrevolution.
„Das war nicht als Frage formuliert, nicht als Bitte und nicht als unverbindlicher Vorschlag. Es war ein einziges Ausrufezeichen, ein Antrittsbefehl, ein Ruf zu den Waffen.“
Auf einen Schlag ergab das ganze Gefühlsgebrodel Sinn, fand alles seinen Ausdruck, hatte die angestaute Frustration und Wut in Millionen Herzen ein Ventil. Da stand nur ein Mann mit einer Gitarre und einer Mundharmonika auf der Bühne, aber die schlichte Melodie und der Text dazu waren bald in jedem Radiogerät, auf jedem Plattenteller, in aller Munde. Den Worten folgten Taten. Und der Rest ist Geschichte. Die scheinbar unbezwingbaren Bastionen des Establishments, der Kirchen, Schulen, Universitäten und Kulturtempel wurden geschleift bis auf die Grundmauern. Bis nichts mehr übrig war von der alten Herrlichkeit. Bis der Kreis sich gerundet hatte.
Vielleicht war es das letzte und deutlichste Warnsignal, als man dem 75-jährigen Bob Dylan im Jahr 2016 den Literaturnobelpreis verlieh, weil er „neue poetische Ausdrucksformen innerhalb der großen amerikanischen Song-Tradition geschaffen“ habe. Nicht etwa einen weiteren Music Award hängte man ihm um. Nein, der Nobelpreis musste es sein, der für Literatur. Der für Medizin wäre genauso verdient gewesen. Genauso geeignet auch, um den Hype vergangener Tage noch einmal ins Hyper-Surreale zu steigern und gleichzeitig eine ehemals große Fresse zum Mietmaul zu stutzen. Das clevere Establishment – es war ja Fleisch von seinem Fleisch – hatte einen potenziellen Quälgeist endgültig zu Tode umarmt und final domestiziert. Es hatte aus einem Volkstribun eine tote Hose vom Schlage Campinos gemacht, einen schelligen Vorzeigenarren des Systems. Einen von ihnen.
Genau 60 Jahre nach dem denkwürdigen Dialog im Musiker-Appartment, im September 2023, steht ein anderer Musiker mit seiner Gitarre auf amerikanischen Bühnen und singt sein Lied. Einen Orden wird ihm dafür die nächsten 60 Jahre wohl niemand anheften, aber eine andere Art von Anerkennung ist bereits erfolgt: Oliver Anthony, den noch vor kurzem keiner kannte, hat innerhalb von wenigen Wochen 57 Millionen Klicks auf YouTube gesammelt, und es ist kein Ende in Sicht. Das Lied heißt „Rich Men North of Richmond“.
Über diese Reichen knapp nördlich von Richmond, Virginia, nämlich in der Hauptstadt Washington, sagt der Songtext beispielsweise: „Gott weiß, sie alle wollen die totale Kontrolle. Wollen wissen, was ihr denkt und tut, und sie glauben nicht, dass ihr das wisst. Aber ich weiß, dass ihr es wisst.“ Weiter provoziert der Song mit politisch inkorrekten Aussagen über Fettleibige, die das Sozialhilfesystem melken, und über eine Regierung, die sich statt um „Miners“ (Bergleute) nur um „Minors on an island somewhere“ kümmere (Anspielung auf den Kinderschänderring um Jeffrey Epstein, enger Freund hochrangiger Democrats). Es schließt mit dem Klageruf eines Blue Collar Workers: „I’ve been selling my soul, working all day, overtime hours for bullshit pay“ – während die Profiteure des Systems sich die Taschen füllen, so der unausgesprochene Subtext.
Da ist kein Dylan 2.0 unterwegs. Melodie und Verse sind nicht nobelpreisverdächtig. Auch die Botschaft des Songs verdient keine Auszeichnung für eine Überfülle an Love & Peace. Da ist Ressentiment im Spiel, verletzter Stolz – und vielleicht sogar Hass. Doch dergleichen schlägt bei Ausgegrenzten eher positiv zu Buche, wenn eine Kulturrevolution kurz vor dem Ausbruch steht. Dies könnte sie also sein, die Hymne einer neuen Bewegung. Was zählt wie vor 60 Jahren, ist die Intensität. Das Momentum. Der Ausdruck des einen, einigenden Lebensgefühls: Reißt die Kulissen der verlogenen Welt des Establishments ein!
Brendan O’Neill, leitender politischer Autor beim amerikanischen Spiked Magazine, hat in dem Dreiminüter eine simple Erfolgsformel entdeckt: „Warum hat Oliver Anthony einen Nerv getroffen? Legt eure Essays beiseite, steckt eure akademischen Analysen weg. Es ist keine Raketenwissenschaft. Die Menschen der arbeitenden Klasse sind schlicht fasziniert davon, dass es eine Figur aus dem Kulturbereich gibt, die sie nicht als den Abschaum der Erde ansieht. Sie können es nicht fassen. Und das sagt uns alles, was wir wissen müssen.“
Denn Anthonys Song ist nichts anderes als Klassenkampf: Wir hier unten gegen die da oben. Die Grenzlinie könnte klarer nicht gezogen sein. Im Jahr 2023, so sehen es seine Fans und Follower, herrscht erneut eine repressive Priesterkaste über die Mainstream-Kultur und das politische System. Sie hat ein Glaubensgebäude voller strenger Gebote und Strafen errichtet, das von der „Klimakrise“-Religion über das Goldene Kalb der Massenimmigration bis hin zur Heiligsprechung der Sexualbedürfnisse einer winzigen Minderheit reicht. Überwiegend weiße Werktätige und Steuerzahler der unteren Mittelschichten hat sie dazu verdammt, die Party der „Elite“ kritiklos zu finanzieren und den Gürtel schweigend immer enger zu schnallen.
Flächendeckend hat dieser „woke“ Klerus Schwarz zu Weiß und Weiß zu Schwarz umdefiniert, hat die Naturgesetze per Dekret außer Kraft gesetzt. Er wird nicht müde, die Wertvorstellungen der von ihm verachteten „Ewiggestrigen“ und „Deplorables“ mit Füßen zu treten, obwohl er in seinen politischen Schlüsselpositionen parasitisch von deren Wertschöpfung lebt. All das, während er die Existenzgrundlagen von Abweichlern vernichtet und Kritik zunehmend wie Gotteslästerung mit eiserner Faust erstickt. Es konnte nicht ausbleiben, dass der steigende Druck im Kessel sich ein weiteres Mal ein Ventil suchte.
„Sie haben ein Glaubensgebäude voller Gebote und Strafen errichtet, von der Klimakrisen-Religion bis zur Heiligsprechung der Sexualbedürfnisse einer winzigen Minderheit.“
Ganz besonders erdrückend erscheint den Aussortierten die Allmacht dieser neuen Feudalherrenschicht auf dem Feld der Kultur. Die ehemals linksliberale US-Bloggerin, Journalistin und Netflix-Serienautorin Sasha Stone berichtet seit vielen Jahren über die Blase der Filmindustrie Hollywoods. Im Jahr 2020 wechselte sie desillusioniert ins Lager der Neuen Rechten. In der neuesten Ausgabe ihres Podcasts beschreibt sie die ausweglose Sackgasse, in die sich die linke Kulturschickeria manövriert hat: „Diejenigen, die heute die Kultur dominieren, scheinen zu glauben, dass sie immer noch die interessantesten Leute auf der Welt sind und die interessantesten Dinge zu sagen haben. Aber weil sie so abgekoppelt sind von den Verzweifelungsschreien der arbeitenden Klasse, können sie keine Geschichten erzählen, die bei der Mehrheit verfangen.“
Solche Geschichten werden mehr und mehr jenseits der Kartellgrenzen erzählt, und sie werden mehr und mehr zu Kassenerfolgen. Das kleinstädtische, konservative, weiße und – für manchen schockierend – immer noch christliche Amerika entdeckt die Notwehr mit künstlerischen Mitteln. Es ist zum Beispiel nicht so, als ob „Rich Men North of Richmond“ der einzige Anwärter auf den Status der neuen US-Revolutionshyme wäre; auch Jason Aldeans sehr viel gefälligere, springsteeneske Rockballade Try That in a Small Town spielt im Kreis der Kandidaten mit.
Und im Spielfilmsektor, wo das ultraliberale Hollywood der Democrats bislang unangefochten die Boxoffice-Hoheit innehatte, tut sich ebenfalls Erstaunliches: Alejandro Monteverdes unabhängig produzierter Actionfilm „Sound of Freedom“, in dem ein ehemaliger US-Agent ein Kind vor einem Pädophilenring rettet, schlug im laufenden Kinojahr 2023 hochgepitchte Massenware wie die neuesten Lieferungen der Franchises „Indiana Jones“ oder „Mission Impossible“ beim Umsatzergebnis. Erneut wirkt sich hier aus, dass der Kinderschänder-Topos in den USA eng mit den Auswüchsen linksliberaler, neomarxistischer Politik assoziiert ist. Reflexhaft bescheinigten liberale Filmkritiker dem Regisseur denn auch ein Höchstmaß an Unappetitlichkeit – von „rechtsextremen Fans“ über „QAnon“ bis hin zu „Antisemitismus“. Was seinem Erfolg auf dem Wege der Mund-zu-Mund-Propaganda keinen Abbruch tat.
Auch der Überraschungserfolg Jesus Revolution, ein schamlos evangelikaler Spielfilm über die christliche Revival-Bewegung der Siebzigerjahre, wurde Anfang des Jahres besonders in den konservativen „Flyover States“ des Mittleren Westens Amerikas zum Flüsterhit. Die gegenkulturelle Revolution, wie Stone sie nennt, ist in ihren Augen bereits in vollem Gange: „Wir sehen jetzt schon überall Anzeichen dafür, aber um diese Anzeichen zu erkennen, muss man aus der Schutzblase heraustreten, welche die Linke sich errichtet hat.“ Das wird diesem politischen Lager allerdings wohl im Gegensatz zu seiner Abtrünnigen Stone nicht mehr rechtzeitig gelingen. Eher würde es sich selbst entleiben als einzugestehen, dass das gegnerische Camp der NeoCons, Evangelikalen, neuen Rechten und Trumpisten eine Existenzberechtigung hat.
„Glauben sie auf der Linken wirklich“, fragt Stone in ihrem Podcast, „dass man die Trump-Bewegung beenden kann, indem man ihn verurteilt und ins Gefängnis wirft? Halten sie das für die beste Art und Weise, um mit einer populistischen Revolution fertigzuwerden, kulturell und politisch? Denken sie, dass Zensur auf Seiten wie YouTube oder GoFundMe der Weg ist, um den wachsenden Unmut derer abzuwürgen, die sie im Stich gelassen haben?“ Die Antwort auf ihre rhetorische Fragen gibt die Autorin gleich selbst: „Ja, das tun sie, denn niemand hat ihnen etwas anderes gesagt. Aber sie können nicht aufhalten, was kommt.“