Es führt in die Irre, die Grünen pauschal „wirtschaftsfeindlich“ zu nennen. Kommt darauf an, um welche Wirtschaft es geht. Baerbocks und Habecks Programm passt perfekt zu einem neuen hybriden Bündnis aus Großunternehmen, Staat und Moral. Damit liegen sie sogar in einem Großtrend des Westens.

Von Oliver Driesen, Mitarbeit: Alexander Wendt

Eine über Jahrzehnte bewährte Maxime in den Chefetagen der DAX-Konzerne von Hamburg bis Neubiberg bei München lautet: „Wir müssen mit jeder demokratischen Partei zusammenarbeiten können.“ An diese Hoffnung hielten sich die Top-Unternehmen bisher auch unter den Vorzeichen einer grünen Zeitenwende in Berlin. Um des Friedens willen und um die eigenen Bande ins potenzielle Regierungslager nicht zu gefährden, bemühen sich die meisten CEOs, selbst drastische Töne gegen die Marktwirtschaft als Wahlkampf-Folklore zu ignorieren. Falls sie nicht gleich mit möglicherweise strategischer Absicht fraternisierten wie jüngst der Ex-Vorstandschef von Siemens und Aufsichtsratschef von Siemens Energy Josef Kaeser. Im vergangenen Jahr bot er Klima-Aktivistin Luisa Neubauer einen Aufsichtsposten in der neuen Konzerntochter an. Dann bekannte er sich als Baerbock-for-Chancellor-Aktivist.

Wie sich Unternehmen zu einer Regierungsbeteiligung der Grünen und dem „Green Deal“ der EU verhalten, hängt – wenig verwunderlich – davon ab, ob sie sich auf der Gewinner- oder Verliererseite sehen. Deshalb ergibt das Schlagwort von der ’Wirtschaftsfeindlichkeit’ der Grünen wenig Sinn. Zu einigen Branchen und Unternehmen verhält sich die Partei Baerbocks und Habecks sogar außerordentlich freundlich. Die Gewinnerseite fällt gar nicht so klein aus. Siemens und Siemens Energy beispielsweise zählen ohne Zweifel dazu: Siemens Gamesa gehört nicht nur zu den größten Anbietern von Offshore-Windtechnik; die in Deutschland geplante Stromversorgung vorwiegend aus Wind, Sonne und Pflanzengas verlangt auch nach Stromtrassen, Speichern und immer mehr Regelaufwand, um das Netz stabil zu halten. Dank staatlicher ’Ausbaukorridore’ mit Plankennziffern, die Politiker der Grünen noch einmal nach oben setzen wollen, ergeben sich profitable, sichere, langfristig planbare Absatzfelder.

Andere Großunternehmen wissen, dass es künftig viel zu zertifizieren gibt. Beispielsweise die Beratungsgesellschaft Ernst & Young, bekannt aus der Wirecard-Story und, ganz aktuell, dem Versuch des Bundesgesundheitsministeriums, mit juristischen Tricks Maskenlieferanten um ihr Geld zu bringen. Jemand muss die Vorgaben von Staat und EU-Behörden zur Wirtschaftslenkung schließlich kontrollieren, muss beraten und mitlenken – von der CO2-Bilanz von Firmen bis zur ausreichenden grünen Qualität von Anleihen und Anlageprodukten.

Ein anschauliches Beispiel für die Verbindung von staatlicher Lenkungspolitik und privatem Geschäft bietet die geplante Produktion von „grünem Stahl“ mit „grünem Wasserstoff“. Matthias Machnig, SPD-Politiker und ehemals Wahlberater aus der Schröder-Ära, machte kürzlich dazu die Kostenrechnung auf: „Nehmen wir an, wir hätten ihn, dann wäre eine Tonne grüner Stahl um 100 Prozent teurer.“

Dieses offensichtliche Problem will Annalena Baerbock mit einem von ihr angekündigten „Pakt zwischen Industrie und Politik“ (beziehungsweise eher umgekehrt) lösen: Die Kostendifferenz zwischen konventionellem und „grünem“ Stahl soll der Staat begleichen, also der Steuerzahler. Gleichzeitig wünscht sich Baerbock feste Einbauquoten dieses Stahls beispielsweise in Automobilen. Autohersteller bekämen dadurch ein ökologisches Image, das bei einer eher wohlhabenden Schicht als Kaufargument dient, und sie würden vor Mehrkosten geschützt. Hersteller des öko-teuren Stahls erhielten so etwas wie eine Absatzgarantie. Es gäbe also zwei sehr erfreute Gewinner.

Der Vorteil des hybriden Systems: Firmen können so moralisch sein, dass der Staat ihr Scheitern verhindern muss

Bezahlen müssten dafür die Steuerbürger, teils direkt mit Steuern, teils mit höherer Inflation, wenn der Staat neue Schulden aufnimmt, um die neue Subventionsmaschine zu befeuern. Die EZB unter Christine Lagarde steht bereit, um diese neuen Geschäftsmodelle unterstützen: Die Zentralbank verkündete, sie wolle grüner werden; am Donnerstag vergangener Woche hob die EZB außerdem ihr Inflationsziel an. Zwar lautet der Auftrag der EZB, Preisstabilität zu erhalten. Von Wirtschaftslenkung mit grüner Sprachverkleidung findet sich in den Statuten nichts. Aber es erhebt sich bemerkenswerterweise kaum politischer Widerspruch gegen diese schleichende Uminterpretation der EZB-Rolle. Schon gar nicht von den Grünen.

Auch andere Unternehmen fragen vor allem, wie der grün-staatliche Dirigismus ihrer Bilanz nutzen könnte. Besonders die von Grenzwerten und Emissionsverboten gejagte deutsche Autoindustrie mit ihren noch rund 600.000 Arbeitsplätzen drängelt dabei sogar auf der Überholspur. Audi verkündete gerade das Ende der Verbrennungsmotorenherstellung, VW plant „keine neue Verbrenner-Familie“, BMW will „das grünste E-Auto“ bauen. Reflexion zur Alltagstauglichkeit, der Gesamt-Ökobilanz oder der einfachen Frage, woher der Strom für viele Millionen E-Fahrzeuge kommen soll, gibt es bisher in den Vorständen gar nicht – oder allenfalls gut abgeschirmt von der Öffentlichkeit.

Übrigens kündigten Mercedes und BMW auch an, weiter Verbrenner zu bauen. Allerdings in China. In den USA erreichte die Öl- und Gasförderung trotz aller Transformationsrhetorik der Biden-Regierung gerade ihren Höchststand seit der Ära von George Bush. Für viele Unternehmen bedeutet die Begrünung ihrer Geschäftsfelder also eher eine zusätzliche Möglichkeit, um Gewinne zu schöpfen – und nicht unbedingt einen Totalumbau. EU-Klimakommissar Frans Timmermanns bekräftigte in einem Welt-Interview gerade den Anspruch der EU, tief lenkend in die Wirtschaft einzugreifen, stellte aber auch eine „bedeutende Summe“ in Aussicht, um „soziale Härten“ zu mildern, außerdem EU-Strafzölle für Produkte, die nicht dem EU-CO2-Standard entsprechen. Gegen Subventionierung und Protektionismus dürften viele Großunternehmen nichts einzuwenden haben.

Ganz grundsätzlich können sich viele Manager international operierender Konzerne offenbar gut mit der Vorstellung einer Wirtschaft anfreunden, in der die staatliche Seite nicht nur die Spielregeln setzt, sondern selbst mitspielt – und zusätzlich noch eine aktivistische Zentralbank. Erstens lässt sich so die Verantwortung leichter verwischen. Wer ist schuld, wenn etwas scheitert? Und überhaupt: So schnell scheitert in diesem Kapitalismus neuen Typs niemand. Neben ’too big to fail’ könnte es demnächst eine ganz ähnliche neue Kategorie geben: zu vorbildlich, um zu scheitern. Was in der Praxis bedeutet: moralisch zu wertvoll, als dass der Staat das Scheitern zulassen könnte. Den Staat und die Moral fest auf seiner Seite zu haben: Das sind die Merkmale dieses neuen hybriden Systems.

Je weniger Innovationen, desto mehr Tabus und Gebote: Statt am Markt orientieren sich Firmen am ’Cultur War’

Westliche Industriegesellschaften bringen nur noch wenige echte Produktinnovationen hervor. Dafür aber laufend neue „No-No’s“: Tabus und Gebote, die nach Bekanntwerden meist umgehend ängstlich in den Verhaltens-Katechismus der Konzerne übernommen werden. Besonders die Nichtbeachtung von „Vielfalt“, „Diversität“, „Antirassismus“, „Nachhaltigkeit“ und „Klimaneutralität“ gelten inzwischen als Compliance-Verstöße, sanktioniert mit scharfer Ausgrenzung bis hin zur Kreditsperre durch Banken und politischem Boykott .

Tugendbekundungen sind nur dummerweise keine Marktsignale, die Unternehmern Auskunft über Konsumbedürfnisse geben. Sondern politische Zwänge, die ursprünglich vor allem von Teilen des linken und immer weniger liberalen US-Bürgertums etabliert wurden. Unter Mitwirkung militanter Minderheiten tobt dort mittlerweile ein regelrechter Culture War, ein Kulturkrieg. Da sich dieser Krieg zunehmend um eine Umdeutung der US-Geschichte als Geschichte des ungebrochenen Rassismus dreht, verlaufen die Gräben entlang der neuen Identitätskollektive. Als Schlachtfelder dienen vor allem Social-Media-Plattformen, streng kontrolliert von den Online-Giganten Twitter, Facebook und Google und den Tech-Milliardären im Hintergrund.

Fast in Echtzeit schlägt dieser Culture War auch auf das wirtschaftliche und politische Umfeld in Europa durch. Diesen „Woke Capitalism“, den „erweckten Kapitalismus“ sehen viele in einer neuen Manager-Generation als Chance, auch in der EU, auch in Deutschland. Die marxistische Autorin Catherine Liu, Medien-Professorin an einer kalifornischen Hochschule, skizzierte in einem Essay ihres Buches „Virtue Hoarders – The Case against the Professional Managerial Class“ das Narrativ dieser Kapitaleigner: Die neue Erzählung von Amerika und dem Westen als ewigem Reparationsschuldner der Schwarzen solle dazu beitragen, „dass rassenübergreifende Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse einfach unmöglich ist – besser, nicht einmal den Versuch zu machen, eine universalistische Kritik des Kapitalismus zu etablieren“.

Die Grünen können als die deutschen Musterschüler des Woke Captalism gelten mit ihrer Tabuisierungswut, der moralisierenden Verve und ihrem allumfassenden Deutungsanspruch. Wem nützen sie damit aber ökonomisch – auch in ihren eigenen Augen? Neben Bürgern mit Normaleinkommen- und Vermögen stehen vor allem Mittelständler in der neuen grünen Welt eher auf der Verliererseite.

Manchmal scheint die Demarkationslinie auch quer durch ein Unternehmen und den Unternehmer zu gehen, etwa bei Michael Otto, Aufsichtsratschef des Hamburger Versandhandels- und Immobilienriesen Otto Group. Als Präsident der „Stiftung 2 Grad“ setzt sich Otto für eine „CO2-neutrale Wirtschaft“ zur Eindämmung der Erderwärmung ein. Dabei wurde er im Frühjahr sogar noch ein halbes Grad radikaler: Otto unterstützte ausdrücklich die Aktion einer Gruppe von Klima-Jugendlichen und rotgrünen Hamburger Lokalpolitikern. Eine große Spontankoalition aus Aktionisten, Senat und Wirtschafts-Prominenz verzierte den Asphalt der Einkaufsmeile Mönckebergstraße auf 300 Quadratmetern dauerhaft mit dem knallfroschgrün grundierten Slogan „Wir alle für 1,5 Grad“.

Andererseits hatte Otto offenbar auch Zeit gefunden, um einen genaueren Blick ins grüne Parteiprogramm zu werfen. Beim Thema Geld, insbesondere dem der eigenen Familie, endet bekanntlich die Freundschaft. Dem Aufsichtsratschef missfiel vor allem die angepeilte Steuererhöhung zur Finanzierung all der kommenden ökologischen Wohltaten, sozialen Ausgleiche und ökonomischen Teil-Stilllegungen. Die geplante Anhebung der Einkommensteuer für Spitzenverdiener belaste ja vor allem auch den Mittelstand, so Otto im Mai gegenüber der Zeit. Und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer sei als „Substanzsteuer“ abzulehnen: „Unternehmer, die Verluste machen, müssen sie trotzdem bezahlen“. Insgesamt prangerte der Konzern-Patriarch mit einem Mal einen „gewaltigen Linksrutsch“ bei den Grünen an.

Erstaunlich emissionsarm – was lauten Widerspruch betrifft – verhielt sich lange Zeit die alte „Deutschland AG“ mit ihren tragenden Säulen der Chemie-, Energie-, Stahl-, Maschinenbau- und Autoindustrie. Zwar warf der Präsident des Verbands der Chemieindustrie Christian Kullmann kürzlich ein, wenn die Pläne für ’grünen Wasserstoff’ als Energieträger so verwirklicht würden wie von den Grünen vorgesehen, dann bräuchte allein seine Branche doppelt so viel Strom, wie Deutschland heute insgesamt produziert. Der Chef des Spezialgas-Herstellers Linde Wolfgang Reitzle rechnete vor, dass sich für das Grüne-Wasserstoff-Vorhaben die Zahl der Windräder verzehnfachen müssten – auf 330.000. Was, nebenbei, bei Flaute auch nichts nützen würde.

Abgesehen von der einen oder anderen Kritik im Detail halten die meisten Vorstandschefs still. Denn im Wirtschaftsteil des grünen Wahlprogramms stehen aus ihrer Sicht durchaus interessante versprechen, etwa die schon genannten „Klimaverträge (Carbon Contract for Difference)“. Oder folgender Satz: „Einwanderung in unser Land erleichtern wir mit der Einführung einer Talentkarte und einer schnelleren Anerkennung ausländischer Bildungs- und Berufsabschlüsse, auch wechselseitig in der EU.“ Eine Attraktion für Talente ist Deutschland allein wegen seines Steuerniveaus nicht. Schon heute weiß niemand, was Technologieunternehmen mit vielen tausenden Eingewanderten anfangen sollen, die wenig Qualifikation mitbringen. Für Dienstleistungsunternehmen mit offenen Stellen im Niedriglohnsektor sieht das schon anders aus.

Statt Argumenten in der Sache eine Gegenkampagne mit der größtmöglichen Moralkeule: Antisemitismus-Alarm

Grundsatzkritik an den grünen Vorstellungen regt sich in den Führungsetagen nur zaghaft. Auch deren Lautsprecher kann heute ansatzlos ein Shitstorm treffen. Diese Erfahrung machte die maßgeblich von zwei Arbeitgeberverbänden finanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), als sie am 10. Juni in mehreren überregionalen Tageszeitungen die Anzeige schaltete: „Wir brauchen keine neue Staatsreligion“. Auf dem Bild lächelt eine mit Photoshop zum weiblichen Moses umgestaltete Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, im biblischen Sackleinengewand, Steintafeln mit „zehn Verboten“ im Arm. Die Ansagen darauf reichen von „Du darfst kein Verbrenner-Auto fahren“ über „Du darfst deine Arbeitsverhältnisse nicht frei aushandeln“ bis „Du darfst nicht mal daran denken, dass mit zehn Verboten Schluss ist“.

Die Grünen als neue Religionshüter: trotz der schiefen Metaphorik mit Baerbock als Stammesführerin traf die Anzeige offenbar einen Nerv. Die parteinahe Maschinerie der Leitmedien holte per Twitter zum Gegenschlag aus, um die Unhinterfragbarkeit wiederherzustellen. Nicht durch inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorwurf eines Verbots-Overkills, sondern durch die schwerste Moralkeule, die sich schon in der Causa Maaßen grund- und zusammenhanglos bewährt hatte: der Antisemitismus-Vorwurf. Das scheint absurd? Schließlich berufen sich neben den Juden auch die Christen auf Gebote-Verkünder Moses? Der Heißluftschacht Twitter lief trotzdem glutrot an. Dort setzte die Online-Redaktion der Zeit den Ton und urteilte, die Anzeige bediene sich „aus dem Fundus des kulturellen Antisemitismus“. Inwiefern, blieb im Ungefähren. Weil mit dem Verbots-Motiv eine treffende Analogie zum Dogmatismus gleich mehrerer Weltreligionen gezogen worden war? Andere Medien wie der Deutschlandfunk stimmten ein, eine Organisation namens „Ökumenisches Sozialwort“ nannte die Anzeige eine „Schmutzkampagne“.

Prompt leisteten die INSM und mit ihr die Industriearbeitgeber Abbitte. In einer Stellungnahme auf ihrer Website gaben sich die Fürsprecher der traditionellen Marktwirtschaft reumütig: Man werde „noch deutlicher als bisher darauf achten, dass kein Zweifel an unserer Abscheu gegenüber jeder Form des Antisemitismus oder Antijudaismus aufkommen kann“. In der Gegenkampagne hatte eine sehr erfolgreiche Verschiebung des eigentlichen Themas stattgefunden: weit weg von den Verboten, Grenz- und Soll-Werten, Steuer- und Abgabepflichten in der Programmatik der Grünen, weg von ihrer Weisungswut, die eine Marktwirtschaft alten Schlags in Zukunft nahezu unmöglich machen könnte.

Das doppeldeutige Grünen-Wahlkampfmotto „Alles ist drin“ gilt also sehr unterschiedlich, je nachdem, ob sich Unternehmen eher auf der Gewinner- oder Verliererseite sehen. Unter einer Baerbock-beeinflussten Regierung könnte es Industriesubventionen wie noch nie geben, dazu massiven Protektionismus. Und auf der höheren Sinnebene: eine Blütezeit des woken Kapitalismus.
Auf der anderen Seite laufen Kapitalgesellschaften und die „hidden champions“ der Familienunternehmen Gefahr, in einen Mahlstrom der Negativtrends zu geraten – vom verschärften Fachkräftemangel in Hochqualifikationsberufen über Abwanderung der Zulieferer und Blackouts der Stromnetze bis zum Kaufkraftverlust bei Normalbürgern.

Bei vielen Vorstandschefs scheint auch eine andere Frage nicht oder nur in kleiner Runde vorzukommen: Was, wenn die Szenarien der grün-etatistischen Wirtschaft nicht so eintreten wie in Parteiprogrammen und sogenannten Entwicklungspfaden? Wenn sich beispielsweise nicht Batterieautos als globaler Standard durchsetzen, sondern Mobile mit synthetischen Kraftstoffen oder das Wasserstoff-Auto? Was, wenn sich die erkenntnis durchsetzt, dass eine neue Generation von Kernkraftwerken wesentlich effizienter Strom produziert als Wind- und Sonnenenergie? Wenn ein Land wie Japan, das nur die Einwanderung von Qualifizierten zulässt, sich gegenüber Regionen mit Masseneinwanderung dauerhaft als erfolgreicher zeigt? Könnten sich Konzerne dann überhaupt noch aus dem politisch-industriell-moralischen Komplex mit seinen Zielvorgaben, Moralansprüchen und Subventionierung herauswinden? Besitzen sie noch die Selbständigkeit, den Pfad zu ändern?

Eine Wirtschaft, die immer stärker von Subventionen abhängt: Dazu lohnt ein Blick in die jüngere Geschichte

Vor allem die geplante Subventionierung eines Industrieguts wie Stahl bedeutet einen großen Schritt hin zur staatlich gelenkten Hybridwirtschaft. Wohin die Praxis führt, immer mehr Güter finanziell zu stützen, zeigt ein Blick in die jüngere deutsche Geschichte. Das schlagendste Beispiel dafür, warum der Arbeiter- und Bauernstaat über keine für den freien Weltmarkt taugliche Exportwirtschaft verfügte, ist nicht etwa der Trabant. Im Westen war der Zweitakter zwar schon deshalb unverkäuflich, weil die Verkleidung des Kleinfahrzeugs in einer Art Waffeleisen gebacken wurde, und zwar aus dem von TÜV-Sicherheitsexperten nicht ernstgenommenen Pressmaterial „Duroplast“. Nein, scheinbar viel näher am Markterfolg – und doch unerreichbar weit davon entfernt – operierte die DDR im Computersektor.

Das 1969 gegründete Kombinat Robotron erwirtschaftete zwar mit bis zu 68.000 Mitarbeitern zuletzt einen Umsatz von 7,3 Milliarden DDR-Mark. Allerdings hinkten die von ostdeutschen Ingenieuren entwickelten (wenn auch teils auf gestohlener US-Technologie basierenden) Rechner und Mikrochips in der Leistungsfähigkeit gut fünf bis fünfzehn Jahre hinter dem Stand vergleichbarerer Westprodukte her. Die Gründe dafür – neben dem Technologie-Embargo durch den Westen – waren vielfältig: Ressourcenmangel, Überbürokratisierung im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem Ökonomieverbund des Ostblocks – und die Praxis der DDR, selbst ihre technischen Spitzenleistungen zu subventionieren. Robotron musste letztlich fast alles selbst im Großraum Dresden produzieren, was eigentlich auf preisgünstigere RGW-Staaten hätte verteilt werden sollen. Folge: eine extrem hohe und teure Fertigungstiefe.

Die von der Planbürokratie ausgegebenen Umsatzziele ließen sich auf den wenigen Exportmärkten nur durch massive staatliche Preisstützung erzielen. Michael Gorbatschow, der Insolvenzverwalter der Sowjetunion, zeigte sich in seinen Erinnerungen erschüttert darüber, dass Erich Honecker ihm gestanden hatte, sogar die Mikrochips von Robotron würden staatlicherseits künstlich verbilligt. Selbst in der internen Verrechnung hatten Preise ihre Funktion völlig verloren. Am Ende der DDR wussten viele VEB-Direktoren nicht, ob ihr Betrieb operativ Gewinne oder Verluste erzielte. In der ZK-Sitzung nach dem Sturz Honeckers Ende 1989 trug Politbüromitglied Werner Jarowinsky seinen Genossen vor, dass der DDR-64-Kilobit-Chip zum reinen Selbstkostenpreis von 40 Mark hergestellt wurde, der 256-Kilobit-Chip von 534 Mark – bei einem Weltmarktpreis für Schaltkreise dieser Sorte von 1,50 bis fünf Valuta-Mark.

Auch, was den Anspruch der EU-Kommission angeht, den supranationalen Wirtschaftslenker zu spielen, lohnt der Blick in die Historie. Am 3. Oktober 1986 traf Honecker Michael Gorbatschow in Moskau, um mit ihm Wirtschaftsfragen zu diskutieren. Zu diesem Austausch existiert ein ausführliches Protokoll. Der SED-Chef wünschte sich direkte Kooperationen zwischen Betrieben der DDR und der Sowjetunion – weil selbst der orthodoxe Kommunist erkannt hatte, dass es sich beim RGW um einen unfähigen Moloch handelte. „Was den RGW betrifft, so habe es keinen Zweck, die Leute dort zu beschimpfen. Das sei ein großer bürokratischer Apparat, der uns nur hemmen kann“, heißt es in der Mitschrift. Worauf Gorbatschow mit den bemerkenswerten Sätzen antwortet: „Richtig, den haben wir selbst geschaffen. Das ist eine Frage des Systems.“

Vier Jahre später brach der Ostblock zusammen, sogar auf den Tag genau vier Jahre später endete die Existenz der DDR. Und es sah für einen Moment so aus, als würde niemand in Europa mehr die Marktwirtschaft in Frage stellen.


Dieser Text erschien unter dem Titel „Die Partei des woken Kapitalismus hat immer recht“ ursprünglich in Alexander Wendts Magazin Publico.