Der Versuch, einen hippen Hamburger Stadtteil partiell autofrei zu machen, endet im Eklat. Zurück bleibt eine schwer beschädigte Diskurskultur – Symbolbild für den Zustand der gesellschaftlichen Experimente im ganzen Land

Die Bilder waren medienwirksam: Als im Herbst 2019 einige Straßenzüge des gut situierten Hamburger Wohlfühlstadtteils Ottensen versuchsweise für autofrei erklärt wurden, startete das Ganze mit Zeitungsfotos von Menschen, die fröhlich im Sonnenschein auf den ausgerollten Rasenmatten Tango tanzten oder Pingpong spielten. Da, wo sich sonst Autos durch enge und zugeparkte Kopfsteinpflasterstraßen quälten.

„Ottensen macht Platz“: Das unter diesem Motto ausgerufene „Flanierquartier“ sollte ein umwelt- und verkehrspolitisches Fanal sein. Ein Vorzeigeprojekt der Fortschrittlichen. Ein Sommermärchen der gesellschaftlichen Evolution: Klimaschutz statt Dieselschwaden, Lebensfreude statt Miesepetrigkeit, blauer Himmel statt Dunkeldeutschland, Milchkaffee statt Autonazis. Hossa!

Das schmucke Viertel war aber auch das ideale Pflaster für dieses progressive Schaulaufen: mit seiner stabilen Mehrheit an Grünwählenden, an Menschen in haltungsintensiven Medienberufen, an sonstigen Kreativen und an Privatiers, die hauptberuflich durch hippe Boutiquen mit sinnlosem Nippes für Besserverdienende bummeln. An Pädagogen mit vom Großvater geerbten GEW-Mitgliedsausweis und aus Schwaben zugwanderten Bewohnerinnen kernsanierter Altbauten in Pippi-Langstrumpf-Pastelltönen. Die Lastenfahrrad-Fraktion nicht zu vergessen.

Wo, wenn nicht hier, war Toleranz und Buntheit gelebte Alltagspraxis? Wo, wenn nicht hier, erhob man sich über das Kleinklein der Bürokratie oder dumpfe Bedenkenträgerei? Wo, wenn nicht hier, stand das Miteinander der Kulturen und Lifestyles im Mittelpunkt, nicht provinzielle Besitzstandswahrung und egoistische Partikularinteressen? Nun, sie würden sich untereinander besser kennenlernen, die Bewohner des kleinen gallischen Dorfes. Das immerhin war garantiert.

Realitätscheck 1: Im Nieselregen ist nicht gut tanzen

Jetzt, im Januar 2020, hat ein Hamburger Gericht den Versuch gekippt. Es hat dem Eilantrag von zwei Anwohnern stattgegeben. Es hat festgestellt, dass von vornherein keine Rechtsgrundlage für das Experiment existierte, denn Verkehrsbeschränkungen zu Erprobungs- und Forschungszwecken dürften laut Straßenverkehrsordnung nur bei einer „qualifizierten Gefahrenlage für Personen oder Sachgüter“ angeordnet werden. Und die lag nun mal nicht vor.

Diese schallende Klatsche durften sich am Ende die Bezirkspolitiker und Verwaltungshierarchen abholen, die in Vorbereitung ihres Experiments offenbar nicht einmal die grundlegensten juristischen Hausaufgaben gemacht hatten. Doch schon zuvor war der ganze „Verkehrsversuch“ mehr und mehr zu einer Kulturkampfbahn verkommen.

Eine ausdrückliche Bürgerbeteiligung zum Aufgleisen des immerhin stark ins Stadtleben eingreifenden Versuchs fand nicht statt. Alles sollte ganz schnell gehen, um zwischen irgendwelche politischen Termine der Hansestadt möglichst pubicitywirksam eingepasst zu werden. Lediglich eine begleitende „Evaluation“ wurde geduldet – vielleicht schon in Vorahnung der Verwerfungen, die ein Autoverbot im Ottenser Mikrokosmos produzieren würde.

Und über die Bande der Medien – gemeint ist die symbolische Billiardbande, aber die andere wäre auch nicht falsch – begannen die Heckenschützen der Befürworter und der Gegner, sich vorsorglich die Schuld für ein absehbares Scheitern zuzuschieben. Miteinander geredet wurde eher nicht so, Versammlungen endeten im Tumult. Und einige der hartleibigsten Versuchsgegner kamen – Ironie der Geschichte – selbst aus dem linksgrünen Lager.

Während die Monate quälend langsam verstrichen und von Tanzlaune auf den stillgelegten Straßen im bleigrauen Hamburger Winter schon lange nichts mehr zu sehen war, belehrten „Infoboxen“ als stumme Instruktoren das Volk unverdrossen über die politisch korrekte Nutzung des neuen Soziotops: „Die freiwerdenen Flächen bieten Platz zum Flanieren, Radfahren, Treffen und Verweilen. Eine kommerzielle Nutzung ist nicht vorgesehen.“

Nein, natürlich nicht. Kommerz ist ja auch doof. Kommerz macht Krach. Fahrendes Volk, das auf dem Pflaster die schnelle Mark machen will. Kinder, die einen Flohmarkt veranstalten. Fliegende Händler von billig imitiertem Tinnef oder Street Artists mit emissionsintensiven Gangsta-Rap-Improvisationen. Das passt schlecht zum gehobenen Sanierungsniveau und zur Kleinstadt-Idylle des Quartiers. Das schließen wir aus im kleinen gallischen Dorf.

Realitätscheck 2: Verbote machen Straßen grau

Oder, noch unpassender: wenn Einzelhändler, die teilweise seit Jahrzehnten an den nun für motorisierte Kunden gesperrten Straßen ansässig sind, ihren blöden Profit, von dem seit ebensovielen Jahrzehnten die Existenz ihrer Familien abhängt, über die hehren Ziele des Verkehrsversuch stellen würden. Nicht auszudenken. Doch merkwürdig: Genau das geschah. Weil das Leben eben die Tendenz hat, nicht einem ideologischen Katechismus zu folgen.

Vor allen Dingen ist das Leben angesäuert, wenn es nicht schon vor Beginn eines Wagnisses ins Boot geholt wird. Wenn in einer Demokratie nicht demokratisch über einen Einschnitt entschieden wird, der alle betrifft und nicht nur das Lager der Beflügelten und Beseelten. Wenn nicht vorab gefragt wird: Wollt ihr das wirklich? Habt ihr vielleicht gute Gründe, warum ihr das nicht so wollt? Sollen wir es dann vielleicht besser bleiben lassen oder ganz anders aufziehen? Oder wie können wir sonst einen Kompromiss hinbekommen?

Nichts von alledem. Wir sind in Deutschland, wo das Wort „Konsens“ seit einigen Jahren immer lauter von denen buchstabiert wird, die ihn anderen aufzwingen können. Qua Amt, qua höherer Gesinnung, überlegener Moral, vergoldeter Kreditkarte – und qua Vision. Wer dagegen ist, muss nicht mühselig überzeugt werden, sondern mit Stigmatisierung rechnen. Insbesondere dort, wo man sich der Toleranz und der Liberalität verschrieben hat.

Die Kläger, die nun den juristischen Erfolg erzielt haben, wollen lieber nicht mit ihren Namen in der Zeitung stehen. Es habe Beschimpfungen, Bedrohungen und auch Boykottaufrufe gegen die Läden von versuchskritischen Geschäftsleuten gegeben. Und so grummeln sie wieder nur anonym oder per Anwalt vor sich hin, statt dass gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Erinnert das alles nicht an ein anderes gesellschaftspolitisches Experiment, das derzeit ungelöst vor sich hin schwelt? Oder an ein Dutzend davon?

So bleibt vom Ottenser Verkehrsversuch, wie von vielen anderen gut gemeinten Konfliktherden im Land, eine deprimierende Lektion: Wenn es hart auf hart kommt, wenn Interessen aufeinanderprallen (also quasi immer), setzen sich in Deutschland nicht die Moderaten und Moderatoren durch, nicht die Konsens-Herbeiführer und Menschen-Mitnehmer. Sondern Besserwisserei, Ideologie, Verbohrtheit, Stigmatisierung, Verbote und deren juristische Anfechtung. Schade nur, dass dabei tatsächlich wichtige Impulse für eine modernisierte Gesellschaft, für Umweltschutz und für soziale Innovation schwer beschädigt auf der Strecke bleiben.

Die Gründe sind immer dieselben: Elitärer Wahn vom Voranschreiten und Durchregieren. Falsches Timing. Mangelnde Überzeugungskraft. Unzureichende Finanzierung. Grabenkämpfe der Akteure untereinander. Fehlendes Basiswissen. Eilig zusammengeschusterte Ausnahmeregelungen, aber kein in sich stimmiges Gesamtkonzept – in Ottensen wie im ganzen Land.

Vielleicht können wir keine Demokratie mehr. Vielleicht haben wir sie nie gekonnt. Und vielleicht wird sie deshalb auch nicht bei uns bleiben. Sie muss ja nicht. Geht sie eben woanders hin. Dorthin, wo man sie noch wertschätzt. Und sich um sie bemüht.

Realitätscheck 3: Die im Dunkeln sieht man nicht

PS: Für die Traum-Koalition aus CDU und Grünen, die im Bezirk politischen Verantwortlichen des Verkehrsversuchs, ist das Scheitern natürlich kein Scheitern. Die veranschlagten sechs Monate seien eh fast um, jetzt stünden bald die Ergebnisse der wissenschaftlichen „Evaluation“ ins Haus. Und wenn die für eine Fortsetzung sprechen, dann will man die Verkehrsflächen dauerhaft „umwidmen“. Selbst wenn es dafür einer Gesetzesänderung bedarf. Wäre doch gelacht, wenn man den nachteilig Betroffenen damit nicht den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Fresst Paragraphen, Spielverderber!