Ausgerechnet im Corona-Frühjahr 2020 jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Das konnte kein Zufall sein. Die dunklen Zeichen zu deuten, blieb dem bewährten Bündnis aus Journalisten, Politikern und Experten überlassen. Eine kommentierte Presseschau zum 8. Mai.
Wenn zwei Ereignisse sich gleichzeitig zutragen und dabei noch in einem willkürlichen Punkt eine Übereinstimmung aufweisen, dann haben Leitartikler und sonstige Zeitendeuter Feiertag. Denn dann besteht nicht nur Parallelität, sondern zwingend auch Kausalität. Es muss also einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen A und B geben, sonst würde sich beides ja nicht simultan zutragen.
Gerade Journalisten und Redenschreiber erliegen beim kleinsten Anlass unausweichlich dem Sirenengesang der Symbolik. Erst recht aber dann, wenn die beiden fraglichen Ereignisse globale Dimensionen haben – und beide auch noch mit Tod und Elend einhergehen. Das ist dann absolut unwiderstehlich.
Als es also zum 8. Mai 2020 den 75. Jahrestag des Kriegsendes zu betexten gilt, fällt den klügsten Köpfen in den Schreibstuben auf: Moment, ausgerechnet jetzt? Ausgerechnet, während das Coronavirus weltweit schon fast 300.000 Menschen hingemordet hat und immer noch weiter wütet? Na, das werden wir in Grund und Boden analysieren! Oder wenigstens ein paar bedeutungsschwangere, wenn auch im Kontext meist heftig hinkende Metaphern abgreifen.
Die Stunde Null nach der Stunde Null
Und so gehen sie ans Werk, sich dem historischen Anlass ebenbürtig zu zeigen. Niemand Geringeres als Volker Bouffier, hessischer Ministerpräsident, bringt bereits am 7. Mai den Ball mit einem Gastbeitrag für die FAZ ins Rollen: „Nachdem die Covid-19-Pandemie dabei ist, Deutschland, Europa und die Welt in die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg zu stürzen, benötigen wir deshalb für ganz Europa einen neuen Marshall-Plan, der mindestens ebenso groß denkt.“
Ebenso groß denkt wie wer? Wie der Denker des Zweiten Weltkriegs, also letzten Endes – der Führer? Oder meint Bouffier einen „neuen Marshall-Plan, der mindestens ebenso groß denkt“ wie eben George C. Marshall? Der hat allerdings seit seinem Tod 1959 keine Pläne mehr geschmiedet, die demzufolge auch nicht nach ihm benannt werden können. Eine semantisch rätselhafte Passage aus einem Text, der gleich nach Veröffentlichung auch aus anderen Gründen Kritik erntet.
Bouffier schreibt darin nämlich auch: „Nach der ‚Stunde Null‘ von 1945 befinden wir uns derzeit wieder in einer ‚Stunde Null‘.“ Was bei Twitter unter anderem den Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer auf den Plan ruft, der das Fachgebiet mal studiert hat und heute in Berlin vergleichsweise wenige sowjetische Panzer durch zerbombte Straßen rollen sieht: „Also wer das Kriegsende 1945 mit der derzeitigen Situation gleichsetzend in Verbindung setzt, hat etwas in der Geschichte wirklich nicht verstanden.“
Aber man muss in Deutschland eben kein Geschichtskenner sein, um als Ministerpräsident oder sonstiger Influencer halbgare historische Parallelen publizieren zu können. Es reicht vielmehr, katholisch zu sein. Oder „Trauerexpertin“ wie Eva-Maria Will. Das „Domradio“ aus Köln stellt ihr angesichts von Kriegsende und Hunderttausenden Corona-Toten gleich zu Beginn eines Interviews die minimal suggestive Frage: „Drängen sich da nicht geradezu Parallelen zu der Zeit von vor 75 Jahren auf?“
Fachfrau Will springt aus dem Stand über das Stöckchen: „Um gleich einmal das Stichwort Corona aufzugreifen: Seuchen wie Typhus und die Ruhr oder lebensbedrohliche Krankheiten wie Tuberkulose und Diphtherie waren natürlich nach Kriegsende 1945 ein großes Thema.“
Klopapierhamstern wirkt entnazifizierend
Eine andere Art von Durchseuchung – jene mit braunem Gedankengut – liefert dank der Trauerexpertin auch endlich die überraschende Erklärung dafür, warum im Frühjahr 2020 überall Klopapier und Sterillium ausverkauft waren: „Mich wundert es jedenfalls nicht, dass heute viele Menschen auf die momentane Krise mit einem besonderen Reinigungsdrang reagieren, dass sie Toilettenpapier und Desinfektionsmittel horten. Manche hoffen wohl, damit nicht nur äußerlich die Viren, sondern möglichst auch die alten Erinnerungen abwaschen zu können.“
Da wenden wir uns doch lieber der unschuldig reinen Farbe Weiß zu. Doch auch hier droht Metaphern-Infarkt. In München hisst die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner persönlich im Rahmen eines Kunstprojekts weiße Fahnen an der Westfassade des Maximilianeums. „Gerade weil Corona eine Lücke in unsere Erinnerungskultur reißt, ist dieses sichtbare Zeichen wichtig“, begründet Aigner. Wobei man sich fragen kann, ob ihre textile Corona-Ersatzhandlung landläufig auch wirklich als Zeichen unserer „Verantwortung als wachsame Demokraten“ wahrgenommen wird. Oder eben doch als weithin sichtbare Kapitulation des so geschmückten demokratischen Parlaments. Nur vor was? Vor den Amerikanern? Vor der Gefahr von rechts? Vor Corona? Es bleibt Raum für Interpretationen.
Den mit Abstand verschwurbeltsten, verschwiemeltsten Corona-Kriegsende-Vergleichssatz indes liefert bei den Gedenkwettkämpfen 2020 zuverlässig die Süddeutsche Zeitung: „Jene aber“, hebt Joachim Käppner in seinem Kommentar pastoral an, „die als halbe Kinder noch erlebten, wie das Nazireich in Blut und Feuer versank, fühlen sich in der Corona-Pandemie – die, ein böser Winkelzug der Geschichte, sie als Hochrisikogruppe bedroht – beklemmend nah erinnert an verweigerte Bürgerrechte, Mangelwirtschaft, Lebensgefahr, sogar an die Denunzianten.“
Ein Satz wie in Gelatine gemeißelt. Da ist alles drin: Drama, Nazis, Wahnsinn. Vor allem der „böse Winkelzug der Geschichte“, die ja bekanntlich ein Eigenleben führt und als Verwirrung stiftender Kobold immer dann auftaucht, wenn man am wenigsten mit ihr rechnet. Ganz besonders in Deutschland. Worin genau besteht allerdings diesmal ihr böser Winkelzug? Dass die Geschichte im Corona-Gewand die Hochrisikogruppe der Alten bedroht, die zur Nazizeit noch halbe Kinder waren? Ah, so! Oder nein, doch nicht. Nein, es ergibt einfach keinen erkennbaren Sinn.
Geradezu befreiend, um im Sprachgebrauch der Erinnerungskultur zu bleiben, ist da der reflektierte Umgang des „Neuen Deutschlands“ mit den coronabedingten Verwerfungen. Zwar könne dieses Jahr nur ein „gebremstes Gedenken“ stattfinden, bedauert Wolfgang Hübner im ehemaligen Zentralorgan. Jedoch habe das auch sein Gutes, „weil uns auf diese Weise hohle Bekenntnisse von Leuten erspart bleiben, für die der 8. Mai nicht mehr ist als einer von vielen Anlässen zur propagandistischen Selbstdarstellung“. Amen! Beziehungsweise: Freundschaft!
Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf Publico.