Symbolfoto für Symbolpolitik: Die Tristesse kommt danach

Am Wochenende hörte ich im Radio, wie ein freiwilliger Helfer interviewt wurde, der am Hamburger Hauptbahnhof Wasserflaschen und Proviant an neu angekommene Flüchtlinge verteilte. Nach seinen Motiven befragt, sagte er: „Ich hoffe, sie (die Flüchtlinge) werden uns helfen, bessere Menschen zu werden.“

Eine andere Freiwillige, diesmal am Bahnhof von München, berichtete davon, wie es sie berührt habe, als ihr ein syrisches Flüchtlingskind einen Kuss auf die Wange drückte. Die Helferin war den Tränen nahe.

Die Bild-Zeitung bringt die Schlagzeile: „Die ganze Welt feiert uns Deutsche.“ Gerade eben waren wir noch die Schurken vom Dienst, weil oder obwohl wir Griechenland „gerettet“ hatten.

Was kommt da nur immer in Schüben über „uns Deutsche“? Während es um Lösungen gehen sollte, geht es uns ums Gutsein. Böse sein sollen die anderen. Immer fürchten wir, gehasst zu werden, immer sehnen wir uns danach, dass man uns liebt. Nur leise und pragmatisch sein, das können wir Urenkelkinder der deutschen Romantik nicht.

Die Sehnsucht nach Sommermärchen

Viel lieber wollen wir in Sommermärchen schwelgen, für die jeder Grund recht zu sein scheint: ob es eine Fußball-WM ist, bei der wir aller Welt den „unverkrampften“ Umgang mit unserer Nationalität zeigen dürfen, ob es eine Oderflut ist, bei der wir uns als solidarisch und unbürokratisch erleben dürfen, ob es die Wiedervereinigung ist, bei der die ersten (aber nur die ersten, denn bald schon kippte die Stimmung) Trabis durch Applaus-Spaliere fuhren. Oder nun eben die „Refugees-Welcome“-Transparente, mit denen Tausenden von Flüchtlingen ein geradezu begeisterter Empfang bereitet wird.

Kein Missverständnis: Helfen ist etwas Wunderbares, zutiefst Menschliches. Wir können uns ja dazu entschließen, allein in diesem Jahr einer Million Flüchtlinge und Migranten bei uns Aufnahme zu gewähren. Es gibt gute Gründe, sehr viele in ihrer Existenz bedrohte Menschen bei uns aufzunehmen (so wie es Gründe dagegen gibt).  Es ist auch richtig, an unsere historische Verantwortung gegenüber  Verfolgten zu erinnern, nach all den Schrecken, die unsere Vorfahren in diesem Land und aller Welt verübt haben.

Was uns aber dabei zuverlässig aus der Bahn wirft, ist unser Hang zum melodramatischen Augenblick, zur vermeintlich selbstlosen, in Wahrheit aber grandiosen Geste. Es ist, als wollten wir um jeden Preis Selfies produzieren und zur Selbstvergewisserung immer bei uns tragen, die uns als  fröhliche, tolerante, weltoffene, sorglose und sorgende Menschen im Kreise unserer Lieben zeigen. Eine Szene, an die wir glauben möchten, für einen rauschhaften Moment.

Pars pro toto. Symbolpolitik. Dieser eine Tag, an dem ich ein besserer Mensch, ein besseres Land war und alle Welt es gesehen hat. Doch danach folgen noch viele Tage abseits des Rampenlichts.

Schwarz und weiß, dazwischen nichts

Die etablierten Meinungsmedien sind mit ihrer bewusst eingesetzten Bildsprache ein wesentliches Triebwerk dieser hyperoszillierenden Trugwelt.  Der „Spiegel“ hat es vergangene Woche auf die Spitze getrieben mit seinem doppelten Titel vom „dunklen“ und vom „hellen“ Deutschland.  Auf der einen Seite brandschatzende Nazis vor nächtlichem Flüchtingsheim. Auf der anderen Seite fröhliche Menschen aller Hautfarben, die bunte Ballons in einen strahlenden Himmel steigen lassen. Wir haben die Wahl. Haben wir die Wahl?

Mich zum Beispiel müsste der „Spiegel“ ins dunkeldeutsche Lager stecken, denn ich kann mich an der medial inszenierten Flüchtlings-Euphorie nicht beteiligen. Flüchtlingsströme von biblischen Ausmaßen sind ein Problem, das gerade bei offenen Grenzen alles und jedes an seine Grenzen bringt – und nichts ist zu seiner Lösung weniger hilfreich als Erlösungsgefühle, auf der „richtigen“ Seite zu stehen.

Ich bin als Volks(!)wirt und Soziologe ausgebildet worden. Geblieben ist mir davon der fachliche wie auch journalistische Blick auf die Konsequenzen für das Funktionieren einer ganzen Gesellschaft, wenn ungesteuerte und umwälzende Ereignisse wie das derzeitige stattfinden.

Das ist nicht sexy, nicht cool, und dass sich viele Facetten solcher Phänomene am verlässlichsten über Zahlen erschließen, dürfte mich in Zeiten der locker sitzenden Rassismus- und Nazikeule sogar verdächtig machen: Waren nicht die Nazis auch seelenlose Bürokraten? Und gab es da nicht mal einen Sarrazin von der Bundesbank? Alles klar.

Eben nicht. Denn manchmal bedarf es kühler Analyse, bevor man Prozesse in Gang setzt, die nicht mehr zu lenken oder zu stoppen sind. Umso notwendiger wäre ein pragmatischer und systematischer Umgang mit dem Migrations-Phänomen, das für uns Deutsche mit großer Wahrscheinlichkeit das prägende nicht nur des kommenden Jahrzehnts sein wird – gerade weil wir es nicht mit größtmöglicher Sachlichkeit angehen (für die wir, ironischerweise, einmal bekannt waren).

Gleichung mit nichts als Unbekannten

Denn genau dieser Umgang, der von allen möglichen Herangehensweisen die bestmöglichen Ergebnisse für alle Betroffenen erzielen würde, findet nicht statt. Man merkt es am schmerzhaftesten an all den Fragen, die nicht gestellt werden und nicht gestellt werden dürfen, weil der Rausch der „richtigen“ Gesinnung es nicht zulässt:

Was passiert, wenn die Euphorie der Meinungsbildner und Aktivisten über weit offene Grenzen für Flüchtlinge und Migranten verflogen ist?

Was passiert, wenn der Winter kommt und wir eine Million Neuankömmlinge behausen, viele davon derzeit in Zeltstädten?

Was passiert, wenn diese Menschen – über den Winter hinaus – auf Dauer mit den hier bereits ansässigen um Ressourcen konkurrieren? Schulplätze, überwiegend miserabel bezahlte Jobs, Sozialleistungen, bezahlbare Wohnungen, Gesundheitsdienstleitungen? Keines der genannten und schon bisher ächzenden Systeme ist im entferntesten auf das vorbereitet, was derzeit auf sie alle zukommt.

Was geschieht dann mit den hier schon geborenen und aufgewachsenen Unterprivilegierten, die zu Recht danach fragen, warum sie in dieser Gleichung mit nichts als Unbekannten gar nicht erst vorkommen?

Was wird aus kulturellem, religiösem und ideologischem Sprengstoff, der nicht durch eine große Geste zu entschärfen ist, wenn der soziale „Druck im Kessel“ steigt?

Was wird, wenn sich herausstellt, dass es sich hier nicht um ein singuläres Ereignis handelt, sondern die Flüchtlinge und Migranten der halben Welt sich weiterhin nach Europa und Deutschland aufmachen?

Wenn das Pendel zurückschwingt

Und vor droht jetzt wieder das verlässliche deutsche Emotions-Pendel in Schwingung zu geraten. Was geschieht, wenn aus Euphorie erst Depression wird und dann – angesichts der ganz real heraufbeschworenen Probleme – ein manischer Umschwung in die Aggression?

All das sind hässliche Fragen, vor denen man sich weggucken möchte. Aber sie sind legitim, logisch und für viele Millionen Menschen existenziell bedeutend. Nichts weniger als das.

Die obligatorische, durch keine Konzepte unterlegte und dennoch selbstredend „alternativlose“ Antwort, verkörpert von der Kanzlerin, heißt lapidar: Wir schaffen das.

Aber da, Entschuldigung, kenne ich mein Land historisch besser. Mein Land wird irgendwann, eher früher als später, die Geduld mit sich, mit der Politik und mit „ihnen“ verlieren. Nämlich dann, wenn es schwierig und unansehnlich wird, wenn dicke Bretter gebohrt werden müssten, unpopuläre Entscheidungen anstehen, wenn alle Symbole ihre berauschende Kraft verloren haben.

Dann spätestens käme in weniger hysterischen Gesellschaften als der unseren der Moment der pragmatischen Reflexion. In Deutschland hingegen, dem Land, das stets zu spät aus seinem Rausch erwacht, schlägt dann die Stunde der Demagogen.

Und vor dieser Stunde fürchte ich mich.

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(Dieser Text  ist eine Variation über das zwölfte Wort – Rausch – im Projekt *.txt von Dominik Leitner.)