Dass der Journalismus die „guten Seiten der DDR“ entdeckt, ist nicht bloß eine Lifesstyle-Mode. Die historischen Wurzeln reichen tief – manche bis in die Ost-Berliner Zentrale der Stasi. Von dort verzweigte sich ihr Netzwerk weit in den Westen der deutschen Medienlandschaft. Ein Erfahrungsbericht.
Manchmal ist ein Loch in den Archiven. Im Deutschlandfunk zum Beispiel fehlt ein Kommentar vom 13. August 2021, dem 60. Jahrestag des Berliner Mauerbaus. Davon existiert nur noch eine Anreißerzeile in den Suchmaschinen: „60 Jahre nach dem Bau der Mauer traue sich die vierte Generation mit Empathie und Neugier auf die DDR zu gucken, kommentiert Katharina Thoms.“ Warum dieser Kommentar still und leise von den Media-Plattformen der ARD entfernt wurde, wird nicht erklärt. Offen bleiben muss für alle Nicht-Hörer der Erstausstrahlung somit auch, welche Schokoladenseiten man mit Empathie und Neugier an der repressiven und gegenüber Dissidenten äußerst brutalen SED-Diktatur entdecken könnte.
Überhaupt erwähnten anlässlich des Mauerbau-Jubiläums 2021 bemerkenswert viele Journalisten und twitternde Politiker nicht einmal mehr den eigentlichen Zweck des Bauwerks – das Einsperren der eigenen Bevölkerung – oder auch nur die Bauherrin, die SED. Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock beispielsweise deutete die Mauer schwülstig-verschleiernd als „in Beton gegossenen kalten Krieg“. Und über alle Jahrestage hinweg weigert sich Jaqueline Bernhard, Linkspartei-Politikerin und Justizministerin in Mecklenburg-Vorpommern, bis heute demonstrativ, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. In den meisten Medien erntet sie dafür keine Kritik.
Je mehr die DDR im Dunst der Geschichte verschwindet, desto mehr Nebelkerzen zünden ihre Beweihräucherer in Rundfunk und Presse. Und desto leiser werden dort die Warnungen vor dem Unrechtsstaat von Links. „Außer zu den üblichen Gedenkfeiern“, so die Narrativ-Analysten von Media Tenor, „sind kaum noch Beiträge in den deutschen Leitmedien über die DDR zu finden, obwohl vieles von heute ohne diese Vergangenheit kaum zu verstehen ist. Um so mehr verblüfft, wie bei ARD und ZDF die Darstellung der DDR mehr und mehr ins Positive dreht.“
Die Grundlagen für diese Beschönigungen und Geschichtsklitterungen sind über viele Jahre in aller Stille geschaffen worden, bis sie zum festen Bestandteil des heutigen „Haltungsjournalismus“ werden konnten. Gleich zu Anfang meines journalistischen Lebens bin ich auf jemanden getroffen, der sehr engagiert und sehr verborgen daran mitwirkte. Die Begegnung mit Heinz D. Stuckmann hat mich für immer geprägt – wobei die „Begegnung“ aus Hunderten von Unterrichtsstunden und manch bizarrer Szene außerhalb des Curriculums bestand. Stuckmann war der Leiter der „Kölner Schule – Institut für Publizistik e.V.“, an der ich von 1987 bis 1991 als Journalist für Wirtschaft und Politik ausgebildet wurde. Seine Geschichte ist heute, da fast alle Details längst öffentlich gemacht wurden, keine Enthüllungsstory. Sie ist in Teilen ein Erfahrungsbericht des Autors, der den Einfluss der Vergangenheitsfälscher bis hinein in völlig ungefährdet geglaubte Bereiche dokumentiert.
Mit Anfang zwanzig glaubte ich damals ebenso leidenschaftlich wie naiv an einen der Wahrheit verpflichteten Journalismus. Dank Stuckmann erlebte ich diese Schulzeit als vier Jahre des Missbrauchs meiner Ideale durch eine vermeintliche Respektsperson. Das lag nicht etwa daran, dass dieser exzentrische und zerrissene Charakter mich eifriger als andere Schüler aufs Korn seiner Gehässigkeiten und Zynismen genommen hätte. Es lag, wie ich im Nachhinein weiß, vielmehr an einem großen Verrat, der in dieser stickigen kleinen Privatschule in der Luft hing, ohne sich zu offenbaren. Das geschah erst Jahre später.
Stuckmann, Jahrgang 1922, war damals schon offiziell im Rentenalter. Aber mit uns verfolgte er nach wie vor eine Mission. Ein Mann, der sich im Klassenraum wie ein Napoleon gebärden konnte, der demagogische Attacken auf Einzelne ritt und auskostete, dann wieder minutenlang in stummer Anklage vor dem Jahrgang stand und schließlich Sätze sagte wie: „Ich verlasse jetzt den Raum, bis jeder von Ihnen seinen Mantel am Haken aufgehängt hat!“ Ein kleiner Mann, wie ich aus kleinen Verhältnissen kommend.
Als Kriegsfreiwilliger in der Wehrmacht Fallschirmspringer. Neuanfang als freier Journalist im Nachkriegs-Köln, bald schon aufgestiegen in den Autorenkreis der großen linksliberalen Blätter „Zeit“ und „Stern“, später ergänzt um den Sender WDR. Träger des Theodor-Wolff-Preises 1962 für die „beste innenpolitische Reportage“. Als Berichterstatter fiel er früh durch äußerst wohlwollende und verständnisvolle Stücke über das Arbeiter- und Bauernparadies östlich des „antifaschistischen Schutzwalls“ auf. Schon früh auch führte er ein Doppelleben, wie später publik wurde: Während Stuckmann für die bürgerlichen Leitmedien arbeitete, schulte er heimlich Redakteure der westdeutschen DKP, die Betriebszeitungen herstellten.
Im ikonischen Aufbruchsjahr der antiautoritären, antibürgerlichen und antikapitalistischen Emanzipationsbewegung, 1968, gründete er das Institut für Publizistik – gemeinsam mit namhaften Intellektuellen wie der Theologin Dorothee Sölle und dem Kölner Soziologen Erwin K. Scheuch. Stuckmann, der dem Institut sein privates „Gut Schillingsrott“ im Kölner Villenstadtteil Rodenkirchen zur Verfügung stellte, wurde auch erster Schulleiter und blieb es ein Vierteljahrhundert lang.
Die höchstens zwei Dutzend neu angenommenen Studenten pro Jahr wurden in einem anspruchsvollen Auswahltest mit Probeaufgaben und Einstellungsgesprächen selektiert. Bald schon machte es der Schulleiter zum Brauch, dass Schülerinnen und Schüler während der Ausbildung mit ihm in die DDR reisten – ein naheliegender, völlig unverdächtiger Informationsbesuch für angehende Medienmacher in Politik und Wirtschaft. Nur handverlesene Teilnehmer durften mit.
Als die Ausbildung an der Kölner Schule schon hinter mir lag, traf mich eine Meldung wie ein Vorschlaghammer: Anfang 1994 wird Stuckmann in seinem Ferienhaus in der Eifel festgenommen. Der Verdacht: geheimdienstliche Tätigkeit für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Mit 71 Jahren landet er als Untersuchungshäftling in der JVA Wittlich, wo er drei Monate verbringt. Dann kommt er gegen Kaution auf freien Fuß.
Im August 1996 folgt der Prozess vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft werfen Stuckmann vor, als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) unter dem Decknamen „Dietrich“ agiert zu haben. Seit den Siebzigerjahren habe er Dutzende Studenten der Schule als mögliche Perspektivagenten der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) der Stasi zugeführt, also Namen und Einschätzungen übermittelt sowie Kontaktaufnahmen angebahnt. Schließlich das Urteil des 4. Strafsenats: Der Angeklagte wird wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung plus 10.000 Mark Geldstrafe verurteilt. Das Strafmaß fällt auch deshalb milde aus, weil ein „messbarer Schaden“ nicht festgestellt wurde.
„In zwei Fällen kam es zu einer erfolgreichen Anwerbung“, schreibt allerdings der Historiker und Stasi-Experte Georg Herbstritt in seiner 2011 erschienenen Studie „Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage“. Konkretere Erfolge der diskreten Verkupplungen durch Stuckmann förderte der Prozess nicht zutage. Das war auch deshalb nicht möglich, weil die Akten der HVA – anders als die der anderen Stasi-Bereiche – 1989 besonders gründlich vernichtet worden waren. Allerdings existieren noch heute Hunderte Säcke mit zerrissenen und deshalb unerschlossenen HVA-Papieren. Der Versuch eines Fraunhofer-Instituts, die Schnipsel mit Spezialscannern und computergestützt zusammenzusetzen, scheiterte unter anderem daran, dass die Politik sich irgendwann weigerte, dafür weitere Mittel bereitzustellen. Angeblich liefen die Kosten aus dem Ruder – ein Argument, das in Deutschland nie zu hören ist, wenn Abgeordnete und Kabinettsmitglieder ein Projekt wirklich durchsetzen wollen.
Wie schnell man in Stuckmanns Nähe mit Stasi-Leuten in Berührung kam, zeigt das Beispiel eines Absolventen der Kölner Schule, der bereits 1974 während seiner Ausbildung mit ihm in die DDR gereist war. Dieser Absolvent, der Diplomat Rainer Müller, wurde 1994 fast zeitgleich mit dem Schulleiter festgenommen. Müller war damals leitend für die Botschaft der Bundesrepublik in Gabun tätig. Zwischen einer Begegnung beim Aufenthalt in Rostock 1974 und dem Jahr 1986 hatte es einem Pressebericht zufolge wiederholt Kontaktaufnahmen durch Kader gegeben, die später als MfS-Mitarbeiter enttarnt wurden. Auch bei Müller lautete der Vorwurf auf geheimdienstliche Tätigkeit für die DDR. Ein Nachweis wurde nicht erbracht, das Verfahren 1995 eingestellt. Müller trug keinen Makel davon: Er blieb bis zur Pensionierung 2018 Diplomat, zuletzt als Botschafter in Angola.
Erst als Stuckmann bereits aufgeflogen war, erinnerte ich mich an eine Situation, in der ich als Journalistenschüler unerwartet zu einer Privataudienz ins Büro des Schulleiters gebeten worden war. Halb jovial, halb lauernd befragte er mich dort ohne erkennbaren Anlass zu meiner journalistischen „Haltung“. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, womit ich diese merkwürdige Inquisition verdient hatte. Vorsichtig blieb ich im Ungefähren – und fuhr nie mit ihm in die DDR. Dennoch stellte ich nachträglich ein Auskunftsersuchen an die damalige Gauck-Behörde in der Hauptstadt, ob über mich eine Stasi-Akte existiere. Der bang erwartete Bescheid, viele Wochen später, war negativ.
Bis mindestens zum Ende der DDR durchzog ein verborgenes Wurzelwerk den Boden der deutschen Medienlandschaft: Ideologische Überzeugungstäter mit Mikrofon und Schreibmaschine, die heute wohl „Aktivisten“ heißen würden, waren von der Stasi angeworben, in Desinformations- und Zersetzungstaktiken geschult oder mit eigens fabriziertem Material zur Publizierung versorgt worden. Täter, die Wahrheiten nicht ergründen, sondern konstruieren wollten. Möglichst schon in jungen Jahren an vielversprechenden Positionen im Medienbetrieb kontaktiert, nahmen sie langsam die Stufen auf den Karriereleitern – um immer wertvollere Dossiers liefern oder Desinformationskampagnen betreiben zu können.
Der verdienstvolle Historiker Hubertus Knabe, langjähriger Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen im gleichnamigen zentralen Stasi-Untersuchungsgefängnis, hat bei Quellenstudien in MfS-Unterlagen zahlreiche Namen und Tätigkeiten recherchiert. Knabe machte daraus gut dokumentierte Bücher wie „Der diskrete Charme der DDR – Stasi und Westmedien“ (2001) und „Die Täter sind unter uns – über das Schönreden der DDR-Diktatur“ (2007). Im Jahr 2010 legte er noch ein weiteres Enthüllungsbuch nach („Die Wahrheit über die LINKE“). Im November 2018 verlor er seinen Job. Grobe Fehler im Umgang mit historischen Fakten hatte man Knabe trotz jahrelanger Bemühungen nicht nachweisen können; vor allem der Vorwurf eines „strukturellen Sexismus“ in der Gedenkstätte unter seiner Leitung brachte ihn zu Fall. Die „Zeit“-Autorin Jana Hensel pries Knabes Sturz damals als „Chance für einen neuen Blick auf die DDR“, den der Historiker mit seinen Forschungen lange verstellt habe.
In Knabes Büchern wird auch Stuckmann mit seiner strategischen Position an der Quelle des Nachwuchses erwähnt. Klar geworden ist mir zwischenzeitlich, dass mein Schulleiter aus MfS-Sicht eine Schaltstelle von zweifacher strategischer Wichtigkeit besetzte. Im Gut Schillingsrott und parallel dazu an der volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität Köln wurden wir Nachwuchsjournalisten nicht nur für die Politikressorts der Leitmedien, sondern auch als Wirtschaftsexperten ausgebildet – für den Einsatz in Redaktionen, aber wahlweise auch in der Welt der Konzerne.
Namhafte Unternehmen aus dem Kölner Raum und weit darüber hinaus sponserten das Institut für Publizistik und beschickten es mit Lehrbeauftragten. Mochte es auch dem rebellischen und systemkritischen Geist von Achtundsechzig entsprungen sein: Die fachliche Qualität der Ausbildung hatte sich herumgesprochen. Die bei den Journalistenschülern begehrten Praktika fanden in Pressestellen von Siemens bis zum Institut der Deutschen Wirtschaft statt. Wir wussten, dass wir später mit einiger Wahrscheinlichkeit als Pressesprecher, PR-Journalisten oder Redenschreiber in der Unternehmenskommunikation arbeiten würden (ich selbst bin ein Beispiel dafür), falls unser Weg nicht umstandslos zur „Zeit“ oder zum Handelsblatt führte. Gerade diese Zugänge zur Wirtschaftselite, dicht am Ohr der Vorstände, müssen das Kölner Institut für Ost-Berlin perspektivisch doppelt attraktiv gemacht haben.
Aber die erste Regel des Fight Club lautet: Niemand ist Mitglied im Fight Club. Mancher, der beruflich und wirtschaftlich eng mit Stuckmann verbandelt war, hatte ihn vom Tag des Auffliegens seiner Doppelexistenz an nie gekannt. „Freitags war er noch ein geachteter Mann und saß mit den Herren aus Wirtschaft und Politik am Tisch. Ab Samstag sprach fast niemand mehr mit Stuckmann. Das BKA hatte ihn festgenommen.“ So heißt es in einer Kurzdarstellung der Ereignisse, die vermutlich von ihm selbst stammt – Stuckmann liebte es, in der dritten Person von sich zu schreiben, besonders in der Rolle des Systemopfers.
Sein Gut Schillingsrott in Köln-Rodenkirchen als Sitz des Instituts für Publizistik verlor er mitsamt seinem schwarzen „Volks-Porsche“ 924, nachdem seine komfortable Position durch das Bekanntwerden seiner toxischen Verbindungen unhaltbar geworden war. Neue Schulleiterin wurde vorübergehend Stuckmanns Mit-Gründerin Ingeborg Hilgert. Die Schule selbst benannte sich bald darauf in „Kölner Journalistenschule“ um und zog in den glitzernden neuen Kölner Mediapark, wo sie 2018 im Beisein des damaligen NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet ihr 50-jähriges Bestehen feierte. Das Institut, das von Anfang an nicht nur aus Stuckmann bestand, hat Generationen integrer und versierter Journalisten hervorgebracht – aber auf seiner Webseite ist das lange Kapitel seines leitenden Stasi-IM auf ein paar Schwarzweiß-Fotos im Imagefilm kondensiert. Falls es eine selbstkritische Aufarbeitung je gegeben hat, ist dort nicht ein Wort zu finden.
Der WDR, als sprichwörtlicher „Rotfunk“ seit Jahrzehnten personell aufs Engste mit Schülern, Absolventen und Ausbildern der „Kölner Schule“ verbandelt (ich zum Beispiel war dort Praktikant und langjähriger freier Mitarbeiter), sah sich 2004 genötigt, einer kleinen Flut von Bekenntnisbüchern und Berichten über West-Journalisten mit MfS-Vergangenheit durch eine Klarstellung zu begegnen: Niemals habe man sich von der Stasi oder anderen finsteren Einflüsterern der SED-Diktatur unterwandern lassen. Das belegte eine damals praktischerweise neu erschienene Studie des „Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin“, beauftragt und finanziert von der ARD.
„Im WDR keine Stasi-Verstrickungen“ konnte die Pressestelle des Senders nach deren Veröffentlichung erleichtert vermelden – und auch gleich einen schlagenden Grund für die Unbeflecktheit liefern: „Der Westdeutsche Rundfunk stand, wie die Wissenschaftler herausfanden, schon aufgrund seiner geographischen Lage nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).“ Die Wissenschaft hatte festgestellt, dass Köln zu keinem Zeitpunkt in Ostdeutschland lag.
Fast komisch, dass der WDR im selben Pressetext einräumte, 1982 einen Stuckmann-Film über eine „vorbildliche sozialistische Hausgemeinschaft“ in Rostock gesendet zu haben. Oder eben diese Aussage: „Als Leiter der ‚Kölner Journalistenschule‘, an der auch der WDR beteiligt war, lieferte er zunächst Informationen aus dem Umfeld der Schule und dem Medienbereich. Später übermittelte Stuckmann der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS persönliche Angaben zu seinen Studenten und sorgte dafür, dass Offiziere des DDR-Geheimdienstes gezielt Kontakt zu ausgewählten Studenten aufnehmen konnten.“ Wie dies zur Headline passen soll, es habe keine „Stasi-Verstrickungen“ gegeben, lässt sich wohl nur auf sozialistisch-dialektische Weise erklären.
Zwei Jahre nach der Reinwaschung des Senders veröffentlichte sein ehemaliger Filmautor und enger Ausbildungspartner dann wie zum Hohn seine eigenen Stasi-Memoiren: „Verdammte Kommunisten! – Die Bekenntnisse des IM ‚Dietrich'“. Die Entwicklung, die zur Implosion der ideologisch und ökonomisch abgewirtschafteten DDR führte, dokumentiert Stuckmann darin mit den Augen eines Stasi-Spitzels. Über die Oppositionsbewegung der achtziger Jahre räsoniert er etwa: „Die Pfaffen wurden frech … Am weitesten wagte sich eine Berliner Gruppe unter Leitung des Pfarrers Rainer Eppelmann mit dem ‚Berliner Appell‘ vor. ‚Frieden schaffen ohne Waffen’…!“
Wie seine Führungsoffiziere hatte Stuckmann das in seiner Macht Stehende getan, um das Erstarken dieser Bewegung zu behindern. Als einer seiner Kölner Schüler Mitte der Achtzigerjahre im Rahmen der Lehrproduktion einen Artikel über die Friedensgruppen verfasste, ohne sie als Staatsfeinde zu diffamieren, ließ der Schulleiter den Artikel wieder und wieder umschreiben. Die Auseinandersetzung eskalierte, bis der Schüler schließlich entnervt das Kölner Institut verließ. Der Artikel erschien nie.
Doch die friedliche Revolution von 1989 konnte auch Stuckmanns publizistische Sabotage nicht aufhalten. In „Verdammte Kommunisten“ charakterisiert er sie so, wie sie auch heute in angeblich linksliberalen Kreisen wieder verstärkt interpretiert wird – als „Konterrevolution“. Entsetzt notiert er beispielsweise: „Im März 1989 agitierte eine Berliner Gruppe, wieder evangelische Christen, völlig offen gegen den Staat, die ‚Arbeitsgruppe Wahlen‘. Per Flugblätter forderten sie die Bürgerinnen und Bürger der Republik auf, bei der Kommunalwahl im Mai nicht zur Wahl zu gehen. ‚Wie reagiert Ihr da?‘, fragte ich den Führungsoffizier.“
Im Deutschlandfunk, der damals noch alle Tassen im Redaktionsschrank hatte, rezensierte der heute 92-jährige Journalist Karl Wilhelm Fricke – in den Fünfzigerjahren Entführungsopfer und politischer Häftling des MfS – den Band und seinen Autor: „Geprägt von ursprünglich linksliberaler, später kommunistischer Ideologie, ist ihm die Einsicht, mit seiner Liaison mit der Stasi den falschen Weg gegangen zu sein, nicht gegeben. Gewissenskonflikte sind ihm fremd. Er ist im Gegenteil stolz darauf, dass er zu Wolfs ‚Kundschaftern im Westen‘ gezählt hat.“ Und weiter: „Stuckmann ist sich und dem Stasi-Milieu treu geblieben. Seine Autobiografie ist Selbstverklärung und Verschleierung. Zeitgeschichtlich seriöse Aufarbeitung bietet sie nicht.“
Stuckmanns „Bekenntnisse“ waren 2006 im randständigen Kai Homilius Verlag erschienen, der sich auf eine bestimmte Art politischer Bücher spezialisiert hatte. Homilius brachte knapp zwei Jahre später auch die Autobiographie „40 Jahre in Spionageabwehr und Aufklärung“ des ehemaligen Generalmajors Heinz Geyer heraus, des letzten Stabschefs der HVA. Zur Buchpräsentation lud Homilius nach Frankfurt ein, an die „erste Wirkungsstätte“ des „konsequenten Antifaschisten“ Geyer. Es kam zum Eklat, Opferverbände der DDR-Diktatur verhinderten die Veranstaltung. „Verleger Kai Homilius zeigte für die Aufregung kein Verständnis“, notierte die Lokalpresse damals.
Der Rezensent Fricke indes rückte die Verhältnisse erneut zurecht und schrieb auch hier das Notwendige, diesmal in der Frankfurter Rundschau, die damals gleichfalls noch bei Trost war: Veröffentlichungen wie die von Stuckmann oder Geyer betrieben genau das, so Fricke, „was ehedem im MfS als ‚Desinformation‘ definiert wurde: die ‚bewusste Verbreitung von den Tatsachen grundsätzlich oder teilweise widersprechenden Informationen in Wort, Schrift, Bild und Handlungen‘ mit dem Ziel, ‚feindliche Kräfte über die eigenen Pläne, Absichten und Maßnahmen zu täuschen.'“ Frickes bündiges Fazit: „Charakteristisch für all diese Druckerzeugnisse ist nicht zuletzt, dass in ihnen unverblümt und aggressiv einst in der DDR Verfolgte verhöhnt und diffamiert werden.“
Gegen Selbstzweifel immunisiert wie eh und je tingelte Stuckmann mit seinen Helden-Memoiren durchs Land der Opfer seiner Ideologie, nun selbst die Opferrolle des Ausgestoßenen beanspruchend. Für den 23. März 2007 etwa kündigte das Mitteilungsblatt der DKP Leipzig eine Lesung des inzwischen 84-Jährigen im Liebknechthaus an, Beginn 18 Uhr. Die DKP, ursprünglich von Ostberlin finanzierte, schlagkräftig organisierte und mitgliederstärkste Partei der westdeutschen Linksextremen, war da schon zur Zombiegruppierung verkümmert. Aus dem speziellen Milieu des „antifaschistischen“ Szeneviertels Leipzig-Connewitz dürften aber einige Dutzend späte Fans des Autors den Weg zum Leseabend gefunden haben. Noch heute steht sein längst vergriffenes Buch als ausdrückliche Leseempfehlung im Internet – auf einer Webseite mit dem Titel „Kundschafter der DDR – ehemalige Aufklärer klären auf“.
Auch anderswo im Netz hat mein Journalistenschulleiter Spuren hinterlassen: „Am 06.10.2011 verstarb der Kundschafter Heinz D. Stuckmann“, vermeldete fast militärisch jemand namens „Alfred“ im einschlägigen „Forum DDR-Grenze“, das von geistesverwandten Ex-„Kundschaftern“ betrieben wird. Stuckmann war 89 Jahre alt geworden. Uns ehemalige Schüler erreichte damals ein ausführlicher Nachruf aus dem Familienkreis, der auch die Enttarnung als Stasi-IM thematisiert. Briefwechsel aus der Untersuchungshaft hätten gezeigt, wie sehr Stuckmann gerade als Überzeugungstäter von vielen geschätzt worden sei: „Nur wenige distanzieren sich wegen seiner Arbeit für die DDR von ihm und brechen den Kontakt mit ihm ab.“ Auch habe er bis zuletzt den Kontakt zu den alten Genossen in Berlin gehalten – und durch einen späten Eintritt in die DKP neue hinzugewonnen.
Der Mann, der als Journalist lieber Täter als Beobachter war, wurde auf eigenen Wunsch anonym und ohne Trauerfeier bestattet. Eigentlich standesgemäß für jemanden, der getarnt und verdeckt einer namenlos operierenden Maschinerie der Zersetzung gedient hatte. Allerdings darf man sicher sein, dass dieser sehr deutsche Spuk trotz aller Beerdigungsrituale nicht für immer gebannt ist. Das politische Biotop eines IM „Dietrich“ für verdorrt zu halten, nur weil der Dunkle Lord namens Totalitarismus vorübergehend in keinem Landesteil mehr körperliche Gestalt annehmen konnte, wäre eine gefährlich naive Illusion.
Die DDR 1.0 ist lange tot, das MfS aufgelöst. Seine diskrete Einflussnahme ist heute aber nicht mehr nötig, um ein mildes journalistisches Beurteilungsklima für die SED-Herrschaft zu erzeugen: Das Narrativ ist mittlerweile für viele „Medienschaffende“ selbstverständlich geworden. Gerade in Zeiten des entfesselten Staates und der zentralisierten Wahrheit ist zudem die Versuchung für den Journalismus quicklebendig, verschwiegene Bündnisse mit der Macht zu schließen. Sie müssen nur einen beiderseitigen Nutzen versprechen, etwa staatliche Alimentierung auf der einen und Abwehr eines neu definierten „inneren Feindes“ auf der anderen Seite. Diesem Ungeist spielt es noch in die Karten, wenn sich junge deutsche Medienjournalisten wie selbstverständlich als „Aktivisten“ verstehen.
Heinz D. Stuckmann, seit 1982 stolzer Träger der Verdienstmedaille der DDR, rühmte sich bis zuletzt, seine Auftraggeber nie verraten zu haben. Bei seiner Festnahme hatte er sich ausweislich seines Buches an die Instruktionen seiner Partner von der Stasi-HVA erinnert: „Name, Vorname, Geburtsdatum – Kein Wort mehr. Schweigen. Abwarten. – Was wissen die?“ Stuckmann hielt sich eisern daran. Er hat bloß den Journalismus verraten.
Dieser Artikel erschien in leicht veränderter Fassung ursprünglich in Alexander Wendts Magazin Publico.
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Der am Anfang erwähnte Kommentar von Katharina Thoms ist weiterhin im Internet abrufbar, zumindest als Text:
https://web.archive.org/web/20210813210229/https://www.deutschlandfunk.de/60-jahre-mauerbau-ostdeutsche-geschichte-sollte-im-westen.720.de.html?dram:article_id=501707