Die Geschichte von Mia, dem ukrainischen Kriegsbaby, und ihrer deutschen Freundin Annalena ging von der UNO-Vollversammlung aus um die Welt. Doch in der Stunde höchster weltweiter Anspannung war das rhetorische Motiv des wehrlosen Kindes das denkbar ungeeignetste – und unlauterste

Nicht Mia (Abb. möglicherw. ähnlich)

„Mir wurde gesagt, ihr Name sei Mia.“ Was nach einem jahrzehntelang abgehangenen Romaneinstieg von Max Frisch klingt, ist der Auftakt zu einer wahlweise „emotionalen“ oder „hochemotionalen“ Rede (Presseecho), welche die Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland am Dienstag vor der UNO-Vollversammlung in New York hielt. Eine Rede, deren Leitmotiv Fragen aufwirft. Wer, zunächst, war wohl die anonyme Quelle, die Annalena Baerbock – unter Lebensgefahr? – den Namen dieses kindlichen ukrainischen Kriegsopfers hinter der Front zusteckte? Vermutlich ihre Redenschreiberin, die sich sicher sein durfte, dass die Authentizität dieses Details wie auch des Kindes überhaupt im fog of war unprüfbar verschwimmen würde. Die deutsche Jeanne d’Arc war jedenfalls laut übereinstimmenden Berichten trotz ihres martialischen Twinsets aus Stahlhelm und Splitterschutzweste in Kriegszeiten noch nicht persönlich an der Ostfront, wo jemand ihr etwas so Persönliches wie den Namen eines Kindes hätte ins Ohr wispern können.

Im Verlauf der Rede lernte die Weltöffentlichkeit Mia dann immer besser kennen: „Ihre Familie war gezwungen, Schutz zu suchen, wie Millionen andere in der gesamten Ukraine: Schutz vor Bomben und Raketen, vor Panzern und Granaten.“ Damit ist die Bühne bereitet für die archetypische Geschichte von Kinderleid und Russenrohheit, mit der Baerbock ihren Außenamtskollegenfeind Lawrow ohne Angst „direkt ansprach“, wie US-Korrespondent Daniel Sturm von derWelt ergriffen notierte. Indes ohne dass Lawrow in New York überhaupt anwesend war. Keine Frage: Es gibt derzeit Kinder wie Mia in der Ukraine, und sie sind zahlreich. Ob sie sich für die narratrive Ausbeutung als Human-Interest-Objekte auf der obersten diplomatischen Weltbühne anbieten, ist eine andere Frage, die hier erörtert werden soll.

Mia, so Baerbock weiter laut Welt, ist „ein kleines Mädchen, erst vor ein paar Tagen in einer Metrostation in Kiew geboren“. Und damit fast auf den Tag genau eine Altersgenossin von Fedor, der vergangenen Freitag in einem Untergrund-Bunker in Kiew geboren wurde. Der britische Guardian zitiert seine Mutter: „Als ich ihn in dem Bunker im Arm hielt, sagte ich zu ihm: ‚Du hast Glück, du bist einzigartig, du bist in der Ukraine geboren, du bist ein neuer Ukrainer.'“ Kaum glaublich, dass dies wirklich die ersten Worte an das eigene Kind gewesen sein sollen, nach den Schmerzen der Geburt, wenn zugleich über die Köpfe hinweg soeben eine Invasion rollt. Aber hat nicht die westliche Welt ein Recht auf ein patriotisch-schmalziges Statement aus dem unterirdischen Hilfslazarett? Die intimen Momente zwischen einem Neugeborenen und einer fotogenen jungen Mutter in martialischer Kulisse – vermutlich keine Zeitung Westeuropas würde hier derzeit diskret wegschauen. Es ist einfach zu verlockend.

Unsere Erzählerin aber geht weiter als alle Kriegsberichterstatter, die nur der getreuen Widergabe verpflichtet sind: Sie „rechnet vor der UN in New York mit Russlands Krieg gegen die Ukraine ab“, schreibt die Welt über Baerbock und paraphrasiert diese Abrechnung: „Angst und Schmerz erlebten diese Menschen, seien gezwungen, sich von ihren Liebsten zu trennen.“ Und warum? „Weil Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine geführt hat.“ Eigentlich immer noch führt, aber das ging vielleicht bei der Übersetzung verloren. Ebenso wie das mulmige Gefühl der Beklemmung, wenn Politiker früher kleine Kinder tätschelten. Es waren ja meist alte weiße Männer. Baerbock ist das alles nicht. Sie tätschelt nur mit Worten.

Im UN-Plenarsaal nimmt die Mia-Saga ihren Lauf, in englischer Sprache, denn als Young Global Leader von Gnaden des Word Economic Forum hat die Außenministerin kein Problem mit diesem Idiom: „Ich glaube, dass es bei der heutigen Abstimmung um Mia geht. Es ist eine Abstimmung über die Zukunft unserer Kinder.“ Laut Abstimmungsvorlage geht es um ein Stimmungsbild unter den Nationen der Welt: ob sie Putins Kriegsziele und -gründe in der Ukraine gutheißen oder ablehnen. Die Zukunft „unserer“ Kinder, also der Kinder der ganzen Welt, steht nicht auf der Tagesordnung.

Baerbocks Denken jedoch ist global und total. Selbst wenn nur ein einziger Mensch betroffen wäre, stünde für sie jederzeit das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel. Denn es gibt für sie keine Nationengrenzen, keine Unterschiede, keine Differenzierung und insbesondere keine Diskriminierung (lat. Unterscheidung). Das hat sie mit anderen Young Global Leaders wie Kanadas Justin Trudeau und Neuseelands Jacinda Ardern gemein. Daher spricht sie auch bevorzugt in globalen UNO-Kategorien, hat doch dieses Gremium laut Charta zum Ziel, „nachfolgende Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“. Und das, so Baerbock laut Welt, müsse auch für die „Generation von Mia“ gelten.

Das Motiv des schutzlosen Neugeborenen ist damit immer noch nicht ausgereizt. „Ihre Panzer“, attackiert Baerbock Putin, von dem sie vermutlich weiß, dass ihm sein Schwarzer Gürtel im Judo aberkannt wurde, „ihre Panzer bringen kein Wasser, keine Babynahrung, keinen Frieden. Ihre Panzer bringen Zerstörung und Tod.“ Das ist korrekt, leider. Babynahrung könnten höchstens deutsche Puma-Schützenpanzer, ausgelegt auch für schwangere Soldatinnen, auf dem Boden des Grundgesetzes mit sich führen. Anderswo auf der Welt bringen Panzer üblicherweise Zerstörung und Tod, meist während Kriegseinsätzen. Dafür werden sie hergestellt.

Dass diese Selbstverständlichkeiten hier in all ihrer Klarheit vergleichsweise zynisch klingen, ist das Ergebnis einer verkehrenden und verkitschenden Rhetorik, die selbst das Wesen des Krieges und des Kriegsgeräts vollständig und nach Belieben umzudeuten versucht, bis es in ein grünes Weltbild passt. Es ist zugleich eine unerträgliche Infantilisierung der politischen Rede, der Sprache der Diplomatie. Ein Bildgewitter der emotionalen Aufladung, wo die Rede von nüchtern kalkulierten Angeboten, Verhandlungsmassen, Lösungswegen und Kompromissen sein müsste – gerade um die aufgeheizten Gefühle abzukühlen und rationales Denken überhaupt erst wieder zu ermöglichen.

Die Doppel- und Dreifachmoral hinter der rührenden Mia-Metaphorik schreit denn auch zum Himmel. Baerbocks Rede ist ein Musterbeispiel für die verquere Haltung einer Generation westlicher Politikerinnen, die mehr und mehr in höchsten Ämtern und großer Verantwortung steht. Wenn es opportun erscheint, schreckt sie vor der rhetorischen Ausbeutung des Kindchenschemas nicht zurück, während ihnen das Kindeswohl in anderen Zwangslagen, wie etwa bei der geplanten Corona-Impfpflicht oder auch in der zeitlosen Abtreibungsthematik, allerhöchstens sekundär ist.

Die Kinder der Kriegsgebiete sind diesen Politikerinnen probates Mittel zum emotionalen Zweck. Und der ist nach innen gerichtet, auf Applaus im eigenen politischen und medialen Lager, nicht nach außen hin, auf die Beeinflussung der Gegenpartei. Nur dort aber müssten gerade die Argumente einer Außenministerin als oberster Diplomatin verfangen, um irgend etwas Positives zu bewirken. Ja, natürlich: Kinder sind die schrecklichsten Opfer jedes Krieges. Aber statt die ohnehin schon überbordende Emotionalisierung der deutschen Politik auf noch höhere Spitzen zu treiben, hätte Baerbock in der Stunde höchster Anspannung und Aggression besser daran getan, wenigstens den rhetorischen Drama-Regler herunterzufahren, statt „abzurechnen“. Gerade als Vertreterin Deutschlands.

Doch es war dieselbe Rede, in der Mias neue Freundin Annalena nebenbei bekanntgab, dass das NATO-Mitglied Deutschland der Ukraine jetzt Waffen liefern werde. Waffen, die auch nicht zur Verabreichung von Babynahrung dienen, sondern die den Tod bringen. Waffen für einen Krieg auf europäischem Boden gegen Russland – aus dem Land, zu dessen „historischer Verantwortung“ als ehemaliger Vernichtungskriegstreiber im Osten sich die Ministerin fast im selben Atemzug hoch und heilig bekannte. Waffen gegen Vladimir, den Russen. Waffen für Mia.


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