Er war einmal eine journalistische Ikone des linksliberalen Bürgertums (und meine auch). Doch über die Jahre geriet Kurt Tucholsky zuletzt ein wenig aus dem Rampenlicht – was vielleicht auch mit manchen seiner Texte zu tun hat. Denn die wenden sich gnadenlos gegen jene, die heute ebenso gnadenlos über das Rampenlicht bestimmen.

„Das kann man natürlich nicht schreiben!“
Alter Spruch

Was ich an unserem Bücherschrank besonders liebe, ist der Geruch. Der rund hundert Jahre alte deckenhohe Eichenschrank, der einmal der Vorratshaltung in einer Küche gedient haben muss, hat im oberen Teil eine fensterverglaste Tür. Sobald ich sie öffne, weht mir der gerade noch wahrnehmbare Hauch von Maggikraut entgegen, vermischt mit dem ehrwürdigen Aroma von Druckerschwärze auf alterndem Papier. Ich würde sagen: Kopfnote Thymian, Herznote Bleisatz, Basisnote Tintenfass. Aaaah!

Diesen oberen, einsehbaren Teil des Schrankes müssen sich die Bücher auch noch zur Hälfte mit unseren besten Gläsern und Karaffen teilen, sowie mit einigen gebrannten Tonfiguren aus verschiedenen Kreativphasen der damals noch kleinen Kinder. So bleiben der Literatur letzten Endes nur zwei recht schmale, weißlackierte Schrankbretter. Es tobt also ein knallharter Konkurrenzkampf um diese Ehrenplätze, während der nicht erwählte Rest der Bücher um die Ecke im offenen Buchregal verstaut ist und, zugegeben, mehr als nötig verstaubt.

Zu den Beständen, deren Stammplatz hinter Glas von Anfang an nie in Gefahr war, gehört die broschürte Gesamtausgabe der Werke Kurt Tucholskys. Und das trotz ihrer mit Blick auf die Stellplatz-Knappheit fast schon unanständigen Breite von zehn Bänden, die allein mehr als zwanzig Zentimeter vereinnahmen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1975. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Traurigere Buchdeckel als den dünnen, monochrom beigefarbenen Karton dieser Ausgabe hat es in Deutschland vermutlich nie gegeben. Wahrscheinlich auch keinen lesefeindlicheren Seitenspiegel als diese mikroskopische Sechspunktschrift, fast ohne Zeilenabstand.

Aber egal, der Inhalt macht den Literaturgenuss. Den Tucho hatten wir alle im Regal, damals in den Neunzigern. Wir waren ja aufgeklärt, bildungsbürgerlich, linksliberal – natürlich, was denn sonst? Es wurden Tucho-Abende im Theater geboten, Tucho-Revuen kamen im Fernsehen, Tucho-Preise für jede Art von kritischem Bewusstsein und ambitionierter Gesellschaftskritik sowie geistvolle Satire wurden vergeben. Mit Tucho konnte man nichts falsch machen.

Wie – der Name sagt Ihnen nichts?! Kommen Sie! Kurt Tucholsky, der Tucho! Der Einzigartige, Unverwechselbare … nein? Gar nicht?

Da sehen Sie mal: Kein halbes Jahrhundert ist seit der Taschenbuch-Werksausgabe vergangen, und schon ist alles anders. Geschenkt, dass seit Generation XYZ eh niemand mehr Bücher liest und von daher auch niemand mehr weiß, wer die Klassiker waren. Geschenkt auch, dass dieser Mann mit seinem Geburtsjahr 1890 in der Vorstellung jener Generationen ungefähr gleichzeitig mit Göte oder Gras gelebt haben muss – man weiß es ja nicht so genau. Aber der Hauptgrund, warum Sie den Tucho nicht mehr kennen, könnte ein gewisses Unbehagen unserer heutigen Medien- und Kulturschaffenden gegenüber der früher vorbehaltlos bewunderten antifaschistischen Ikone sein. Vielleicht sollen seine Texte, vor allem ganz bestimmte Texte, ja gar nicht mehr so viel Beachtung finden. Vielleicht treffen sie gewisse Punkte ja allzu genau.

Als ich nämlich vorgestern nach Jahren zum ersten Mal wieder wahllos einen der zehn Tucholksy-Bände aus dem Bücherschrank zog (Aaaah!), war es zufällig der letzte, Band 10. Und dort las ich mich zufällig sofort in einem Essay fest. Wäre dieser Text im Jahr 2023 von einer der zahlreichen in Ungnade gefallenen Unpersonen des lifestyle-linken Medienbetriebs verfasst worden, sagen wir vom emeritierten Medienwissenschaftler Norbert Bolz aus Berlin, sie hätten den Autor geteert und gefedert. Sie hätten ihn einen Schwurbler genannt, der die übelsten Verschwörungstheorien bedient. Zum Beispiel das „sattsam bekannte rechte Narrativ“ von der Lückenpresse.

„Sie hätten ihn einen Schwurbler genannt, der die übelsten Verschwörungstheorien bedient. Zum Beispiel das sattsam bekannte rechte Narrativ von der Lückenpresse.“

Dreieinhalb Jahre vor seinem Freitod, 1932, hatte der unbestechliche literarische und journalistische Freigeist Kurt Tucholsky einen seiner letzten größeren Texte für die Weltbühne veröffentlicht: eine zweiteilige Abrechnung unter dem Titel „Redakteure“. Unterzeichnen ließ er seine Kunstfigur Ignaz Wrobel; aus dem Strauß seiner Pseudonyme dasjenige, das er nutzte, um mal hemmungslos herumzugranteln. Und nichts weniger als das hatte er sich vorgenommen, beziehungsweise es musste einfach raus. Zwei Jahrzehnte angestauter Erfahrungen des Autors und freien Mitarbeiters K. T. mit Verlagen, Verlegern, Redaktionen und eben Redakteuren drängten auf Entladung. Einen Rant würden wir das heute auf Denglisch nennen.

Dabei hatte Tucholsky selbst ja Ende 1926 die von Siegfried Jacobsohn gegründete Weltbühne, nach dessen Tod, für einige Monate als „Oberschriftleitungsherausgeber“ übernommen. So titulierte er den Spitzenjob selbstironisch-bombastisch. Er kannte also auch die Sorgen eines Chefredakteurs und Herausgebers – hinreichend, um den Posten schon im Mai 1927 wieder abgegeben zu haben (an Carl von Ossietzky). Denn Tucholsky war in erster Linie und von ganzem Herzen Autor: als Journalist, Reporter, Kritiker, Dichter, Satiriker und Erzähler. Das Beobachten und Aufschreiben war sein Ding, nicht das Editieren und der Kampf mit den Gewalten auf der Brücke des Schiffs. Er lieferte Wörter; sollten andere eine Zeitung oder ein Buch daraus machen. Eine Aufgabenteilung, die für ihn grundsätzlich in schönster Ordnung war.

Wenn da nur nicht diese unselige Hierarchiekette gewesen wäre: Verleger – Redakteur – freier Mitarbeiter. Sozusagen der Innenaufbau der Medien im Längsschnitt, im Essay „Redakteure“ von oben nach unten säuberlich seziert. Bei allem, was nun folgt, ist immer wieder zu vergegenwärtigen: Dies schrieb Tucholsky vor bald einem Jahrhundert, nicht im August 2023. Aber wenn Sie wissen wollen, warum der deutsche Journalismus solch ein verdorrtes Stoppelfeld ist: Bitte, dort in der Weltbühne sind seine schon im Ansatz dürren Wurzeln beschrieben. In einem solchen Arbeitsumfeld konnte kaum je dauerhaft eine fruchtbare Saat aufkeimen. Da wäre zunächst:

Der Verleger

Sie dürfen heute wahlweise auch „der ARD-Vorsitzende“ oder „die Eigentümer von T-Online“ sagen, natürlich zeitgemäß „w/m/d“. Damals war das Feld noch nicht mal ansatzweise divers, weder technologisch noch geschlechtlich. Weit mehr noch als der staatskontrollierte Hörfunk war die Zeitung das alles dominierende Medium. So ein Zeitungsverleger habe vielfältige Interessen, schrieb Tucholsky, aber „am Redakteur hat er nur eines: dass der ihm keine ‚Unannehmlichkeiten‘ mache“. Auch sei ein Verleger im Allgemeinen „tief davon durchdrungen, dass Redakteure nur Geld kosten, aber wenig einbringen“. Jeder, der heute zum Beispiel seinen Arbeitsplatz bei Gruner + Jahr RTL einbüßt, verdankt dies neben der Massenflucht des Publikums aus dem betreuten Denken der Mainstream-Medien auch den KI-Phantasien seiner Konzernbosse (w/m/d). Die glauben nicht ganz zu Unrecht daran, dass den Job heutiger Redakteure morgen ebensogut ein ChatGPT erledigt.

Denn im krassen Gegensatz zur Selbsteinschätzung gerade von „Leitmedien“-Journalisten wurden Redakteure von ihren Verlegern schon 1932 als bloße Schreibautomaten eingesetzt, die jederzeit nur ein genau definiertes Programm abarbeiten sollen. Deshalb, so Tucholsky, „sind die meisten Redakteure nicht einmal in kleinen Alltagsfragen frei. (Ganz frei ist nur der Kritiker in nichts als ästhetischen Dingen – da darf sich alles austoben, was sonst schwer gebändigt kuscht.)“ Diese Ersatzfreiheit der Theater- oder Literaturkritik ist heute ebenfalls weitgehend abgeschafft und durch den Zwang zum „Hype“ ersetzt, wurde zum Ausgleich jedoch umgelenkt auf Schmähkritik an freigegebenen Abschusszielen, etwa Protagonisten und Sympathisanten der Querdenker-Bewegung in der Coronazeit. Dort geht sie dafür weit über das ästhetische Urteil hinaus, es darf auch die totale Dämonisierung sein. Narrenfreiheit trifft Vogelfreiheit.

Doch der Verleger, der dem Redakteur diese genau dosierte Macht verleiht, ist laut Tucholsky selbst nur ein Scheinriese mit Größenwahn: Wenn das Geschäft gut läuft, dann wegen seines untrüglichen Instinkts. Läuft es schlecht, liegt es an den widrigen Umständen – aber dann schrumpft seine Standfestigkeit auch besonders schnell auf Zwergenmaß: „Da sitzt nun der Verleger auf seinem Stühlchen und hat: eine Zeitung, Größenwahn und Angst. Er hat Angst vor den Berufen. Er hat Angst vor den Frauen. Er hat eine geradezu maßlose Angst vor allen Behörden.“ Oder in heutigem Deutsch: Angst vor staatlichem Liebesentzug, vor den „Aktivisten“ – und vor dem Shitstorm.

Es ist, als kenne der hellsichtige Tucholsky 1932 selbst das Wort Shitstorm schon, wenn er den feigen Verlegertypus bei Gegenwind einknicken sieht: „Einem Sturm trotzen? Seinen Standpunkt auch dann wahren, wenn jeder zehnte Abonnent abbestellt? Wenn der gefürchtete Boykott durch irgendeinen gereizten Verband deutscher Feinkosthändler heraufbeschworen wird? Es gibt nur eine Sorte Menschen, die der Zeitungsverleger nicht fürchtet: das sind die geistigen Menschen. Die können protestieren, das macht nichts.“ Denn diese versprengten Intellektuellen sind keine organisierten Lobbyisten, vor denen er buckeln müsste.

Anders als französische Verleger, bemerkte der Frankreich-Kenner Tucholsky, wollten ihre deutschen Entsprechungen nicht wirklich politische Macht (zu der seinerzeit die entsprechende Verantwortung gehörte). Was sie wollten, sei in erster Linie Anerkennung durch die Mächtigen als „einer von uns“. Deshalb bedienten sie die Interessen von Parteien, Konzernen und Verbänden. Durch diese willfährige Dienstbarkeit an der Spitze des Verlags gelangen Tucholsky zufolge dann all die unsichtbaren Lücken in die Zeitung: das Weglassen von unbequemen, provozierenden und – Gott bewahre! – womöglich geschäftsschädlichen Wahrheiten. Denn die Liebedienerei im Chefsessel lässt auch die Exekutivebene darunter degenerieren. Dort arbeitet der „angestellte Literat“ der Zeitung, zugleich die Titelfigur des Weltbühne-Essays:

Der Redakteur

Ihm und den Lesern der von seinesgleichen gebauten Zeitungen schreibt Tucholsky es noch einmal unmissverständlich ins Stammbuch: „Das, was die meisten Redakteure zu sein vorgeben, das sind sie gar nicht: unabhängige Inhaber von Machtpositionen. Das können sie nur einem unkundigen Außenseiter erzählen.“ Vielmehr seien sie „bis ins letzte Komma abhängig wie die Landarbeiter“. Die Folge bis heute: jene berüchtigte „Schere im Kopf“, der vorauseilende Gehorsam gegenüber der mit feinen Antennen wortlos wahrgenommenen „Linie“ des Blattes.

Die zeitlose Überlebensstrategie in den Verlagshäusern besteht von daher in Selbstverleugnung. „Die Klugen unter den Redakteuren wissen zwar genau, was los ist; doch beherrscht die Redaktionen jener Spruch, den sich die Herren auf goldene Teller malen lassen sollten: ‚Das kann man natürlich nicht schreiben!‘ Aber warum, warum können sie es nicht schreiben? Weil sie keine Macht haben.“ Ersatzweise, so der Insider Tucholsky 1932, spreizten sich die Redakteure in ihren „allzu willfährigen Organisationen, mit dummen Eitelkeits- und Prestigefragen befasst“. Denn der Redakteur als solcher sei „von seinem Eitelkeitswahn unheilbar besessen“.

„Ersatzweise, so der Insider Tucholsky 1932, spreizten sich die Redakteure in ihren allzu willfährigen Organisationen, mit dummen Eitelkeits- und Prestigefragen befasst.“

Die narzisstische Kränkung, trotz eines übergroßen Egos nicht wirklich im Kreis der Macht-Elite mitspielen zu dürfen, spürt der Redakteur ähnlich wie sein Chef, der Verleger. Den jovialen bis brachialen Druck der tatsächlich Mächtigen, dem man selbst in der Teppichetage nicht standhält, zieht der Redakteur positionsbedingt als Blitzableiter an – und gibt ihn seinerseits nach Kräften an die ihm unterstellte Ebene weiter:

Die freien Mitarbeiter

Das ist das Fußvolk des Journalismus, sind die Autoren und Reporter, die Rechercheure, die Kolumnisten, die Schreiber oder Filmer oder sonstigen „Content-Provider“. Der freie Mitarbeiter macht, um es angemessen zynisch zu formulieren, bloß die Seiten voll. Er ist durch kein Angestelltenverhältnis geschützt und seinem Redakteur daher in noch größerem Maße ausgeliefert als dieser seinem Verleger. Das eröffnet dem Redakeur ein willkommenes Ventil: „Und was er sich vor seinem Verleger niemals getraute, das wagt er dem Mitarbeiter gegenüber alle Tage: da trumpft er auf, da ist er der große Mann, dem zeigt er aber, was eine Harke ist. Leider zeigt er ihm nicht, was eine gute Zeitung ist.“

Content-Provider Tucholsky hat die oft mit journalistischer Inkompetenz verbundene Weitergabe erlittener Demütigungen am eigenen Leib erlebt, wieder und wieder. Einige seiner treffendsten Satiren handeln davon. Das Verhältnis des Redakteurs zum freien Mitarbeiter ist in seinen Worten „ein einziger Skandal – das Äußerste an Unkollegialität und an Schmierigkeit, an äußerstem Mangel von Solidarität, der nur denkbar ist. Ich habe in zwanzig Jahren Literatur etwa fünf Redakteure kennengelernt, die sich nicht einbildeten, deshalb, weil man sie angestellt hatte, etwas Besseres zu sein als ihre Mitarbeiter.“

Tucholskys Fazit in seiner Grantler-Rolle als Wrobel: Es sei ihm notwendig erschienen darzustellen, „welch bejammernswerte Position der Redakteur dem Verleger gegenüber einnimmt, und wie er sich aus dieser Lage herauslügt: durch Überkompensation seiner selbstverschuldeten Defekte und durch eine trübe Wichtigmacherei sich und seinen Mitarbeitern gegenüber“.

So endet sein Text, geschrieben in der deutschen „Zwischenkriegszeit“. Hallo 1932, darf ich Ihnen 2023 vorstellen? Doch nein, vergessen Sie diese Wutbürgereien aus einem anderen Jahrhundert lieber schnellstens wieder. Wie gesagt: Wären sie nicht von Tucholsky, wären es vermutlich „die vor Verachtung der demokratischen Presse triefenden Tiraden eines in neu-rechten Kreisen mindestens Anschlussfähigen“. Außerdem hat sich die Welt zum Glück längst weitergedreht, Medienberufe der beschriebenen Art gibt es bald gar nicht mehr. Und was soll’s, es ist ja auch alles extrem lange her.

Einundneunzig Jahre, um genau zu sein. Ein Methusalem-Leben lang hat dieser immerwährend nach oben buckelnde, nach unten hemmungslos tretende Apparat der Meinungsmacher den Deutschen ihre Weltbilder vorgemalt. Vielleicht kein so großer Verlust, wenn das Zeitalter menschengemachter Medien in absehbarer Zeit zu Ende geht.

Buchhandlung in der Berliner Tucholksystraße (Foto: Adam Jones, Ph.D., Lizenz)