Schnell, schnell: den Prager Hamburger Frühling nutzen! Wenn die Museen für wenige kostbare Tage wieder öffnen, müssen auch mal zwei Besuche innerhalb von Stunden drin sein, bevor die Axt für weitere fünf Jahre fällt. Lohn der Hast sind neue Erkenntnisse über die Kunst der Symbolik – wenn auch eher beklemmende.

Ach ja, die gute alte Inzidenz. Sie wird uns noch ewig begleiten, denn als Deutsche brauchen wir eine einzige, alles vereinigende Leitzahl, die uns führt, und zwar in eine einzige, eindeutige Richtung: ins totale Nichts. Weil ich schon ahnte, dass Hamburg nach wenigen Tagen der Sechzehntel-Öffnung wieder dichtmachen wird (Inzidenz > 100!), bin ich gleich zu Beginn dieser vorfrühlingshaften Lockerungsillusion sicherheitshalber in zwei Museen gewesen, an ein und demselben Tag. Nämlich erstens hier:

Und zweitens, gar nicht weit davon entfernt, hier:

Auffällig ist zunächst mal die nicht relative, sondern absolute Menschenleere auf den beiden Fotos. Es war aber in beiden Fällen wirklich geöffnet. Nach Online-Voranmeldung und Zeitfenster-Zuteilung, wobei pro Museum nur wenige Personen gleichzeitig anwesend sein durften, daher die Geräumigkeit auf den Bildern. Doch darum geht es mir ja gar nicht. Es geht mir um die Kunst.

Spoiler: Sie scheint sich in den vergangenen hundert Jahren irgendwie verändert zu haben.

Ich fange mal mit dem zweiten Bild an. Kunsthalle Hamburg, De-Chirico-Ausstellung. Als ich jung war, hat mich die merkwürdig zweidimensionale Mystik dieser Gemälde in ihren Bann gezogen, so wie sie heute meine Tochter in ihren Bann zieht. Die Symbole, die er verwendet, um großflächig und scharfkantig Rätsel ohne Lösung ins Bild zu setzen. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das noch diesseits oder schon jenseits der Grenze zum billigen Effekt ist, zum gefälligen Kitsch (bei Dalí wäre es klar jenseits).

Aber immer noch muss ich anerkennen, dass die Auflösung nicht mitgeliefert wird. Ich darf mir selber Antworten ausdenken. Ich darf mir meinen ganz persönlichen Reim auf die immer wiederkehrenden Dampf-Eisenbahnzüge, Bahnhofsuhren, Türme, Gliederpuppen oder griechischen Säulenheiligen machen. Ob mich das intuitiv anrührt, ob es „etwas mit mir macht“, bleibt ganz mir überlassen, im stillen Dialog mit dem Kunstwerk. Und so will ich das haben. Kunst spricht zu mir ohne mitgelieferte Untertitel, auf seelischen Kanälen, die anderen Medien nicht zur Verfügung stehen. Kunst will und darf mich irritieren und auf eine mehrdeutige Weise auch manipulieren, aber keinesfalls stumpf agitieren. Kunst verlangt keinen mitgesprochenen Kommentar, keine eingebaute Deutung. Keine „richtige“ Lösung. Würde sie das tun, wäre sie keine Kunst.

Sondern dann wäre sie Propaganda, und damit sind wir bei Bild 1. Museum für Kunst und Gewerbe, Ausstellung „Life on Planet Orsimanirana“. Ein Konzept, das mich anzieht: „Auf dem Planeten Orsimanirana kann man einfach sein, genießen, Musik machen, an Diskussionen und Workshops mitwirken, über Utopien von einer besseren Welt nachdenken und dies im Radio Orsimanirana mit anderen teilen.“ Jetzt mal abgesehen von dem weißen Schimmel, dass Utopien eigentlich immer „von einer besseren Welt“ phantasieren: Sobald ich drin bin in der Ausstellung, stellt sich stattdessen Beklemmung ein. Und sie wächst mit jedem Augenblick.

Denn etwas stimmt vom ersten Moment an nicht. Ich kann hier nicht einfach sein und genießen. Das liegt nicht so sehr an den psychedelisch schrillen Farben, die ein Amsterdamer Ausstellungsmacher freigiebig im Raum verteilt hat. Dem Mann ist es übrigens ganz wichtig, die Wände nicht als selbsternanntes Individuum so tapeziert zu haben, sondern als legitimes Mitglied eines „Kollektivs“, wie hier überhaupt ein großer Teil der Kunst ausdrücklich von Kollektiven eingebracht wurde.

Meine Anspannung liegt auch nicht daran, dass wegen Corona alle in diesen Räumen geplanten Workshops und Impro-Konzerte mit bereitliegenden Musikinstrumenten sowie jede Art von Gesang ausfallen müssen. Das erfahre ich von der sympathischen junge Frau, die als surreal kostümierte Ansprechparterin bereitsteht. Ich bedauere sie ehrlich dafür, dass eine höhere Gewalt (die man Pandemie oder zutreffender Regierung nennen kann) alles kreative Leben aus dieser Schau gesogen hat.

Nein, an alledem liegt es nicht. Schon eher daran, dass die junge Frau beim Beantworten meiner Fragen alle Gender-Sternchen mitspricht. Ich tue das nicht, bin also automatisch in der Defensive, suspekt. Was ich aber im Grunde ganz schön erniedrigend finde: dass sie für die Selbstverständlichkeit, das weibliche Geschlecht mitzudenken, im Gespräch mit mir ihre eigene Muttersprache gegen die Wand fahren muss. So kontrolliert kann ich nicht träumen. Träumen ist hier nur in eine Richtung erlaubt: in die korrekte, vorformatierte, auch sprachlich neu durchdeklinierte, also nach vorne links. In eine strahlende Zukunft für alle, die mit den neuen Sprachregelungen klarkommen. Und ich gehöre nicht dazu.

„Die Ingenieure des politischen Umbaus verdrängen den Geist der Kunst gründlicher aus diesen Mauern, als es die strengsten Corona-Maßnahmen könnten.“

Jedes Video, jedes Plakat, jeder Schaumstoffwürfelsessel, jedes einzelne Artefakt hier, mag es auch so ironisch daherkommen wie die überall verteilten Silikon-Nachbildungen männlicher und weiblicher Geschlechtsteile, schreit mich an: Mach dich mal locker! Sei gechillt! Sei progressiv! Sei gegen alle hier ringsherum angeprangerten Ismen: Sexismus Rassismus Faschismus Militarismus Kapitalismus! Ganz besonders Kapitalismus! Sei die Norm, indem du gegen die Norm bist!

Rätselhafte Symbole wie bei de Chirico vor hundert Jahren sind hier gar nicht erwünscht, nicht einmal mit Bedienungsanleitung. Bestenfalls sind sie als inhaltsloser Deko-Plunder geduldet. Hier regieren Parolen, und sie kommen umstandslos durch die Vordertür. Auch ohne dass ich die überall bereitliegenden Kopfhörer aufsetze, klärt mich ein Videoschirm mittels rasend schnell wechselnder Schrifttafeln auf: Gegen die drei apokalyptischen Reiter Klimawandel, Ungleichheit und Weltgesundheitskrise hilft nur das bedingungslose Grundgehalt.

Gleich nebendran: irgendwas gegen Mietwucher. Für Solidarität. Gegen weißnichtmehr. Habe abgeschaltet, die innere Selbstschutzanlage aktiviert. Was mich auch daran hindert, das an sich konzeptionell interessante Internet-Radioprogramm zur Ausstellung anzuhören. Dort bieten die Künstler*innen, Gestalter*innen und Akteur*innen (auch vom Museum überall brav mit Genderstern geschrieben) Besuchern wie mir die Möglichkeit, einen selbstproduzierten Beitrag zum Gesamtkunstwerk beizusteuern.

Aber jede Wette, meinen würden sie nicht senden. Denn Zweifel an ihren Utopien sind im Sendeplan ganz sicher nicht vorgesehen. Meine kleinen, reaktionären Freiheitswünsche wären Häresie. Auch meine Sehnsucht danach, ganz still für mich mit Kunstwerken in eine Beziehung zu treten statt mit gesichtslosen Kollektiven und deren digitalen Propagandapappplakaten.

Ich räume ein: Junge Menschen und insbesondere junge Künstler dürfen von einer besseren Zukunft träumen. Es ist geradezu ihre verdammte Pflicht, das zu tun. Ich bin 54, Familienvater, spießiger Steuerzahler, nicht ihre Zielgruppe. Aber wenn sie ein öffentliches Spektakel als dogmatisches und damit zwanghaftes Gedankengbäude errichten, können sie mir das nicht als Kunst verkaufen. Es ist und bleibt Propaganda, Agitation. Dass das Museum für Kunst und Gewerbe es für Kunst oder Kunstgewerbe hält, ist ein Zeichen politisch hysterisierter Zeiten, wie sie zuletzt die späten Sechziger und frühen Siebziger gewesen sind.

Solch ein Zeichen war auch die kleine, aber für mich schwer erträgliche Ausstellung zum Thema „Social Engineering“ am selben Ort, noch gar nicht so lange her. Den Namen der Schau habe ich vergessen, nicht aber, dass darin wie selbstverständlich und vollkommen kritiklos die Stadtgesellschaft umformiert wurde im Sinne einer – nein: genau derselben – Utopie. Ein künstlerisch-gewerblicher Ansatz wäre vielleicht gewesen, die Ästhetik solcher Planspiele auf ihre Symbole hin zu befragen, auf ihren Zeitkontext. Die zupackenden Ingenieure des politischen Umbaus aber verdrängen den Geist der Kunst gründlicher aus diesen Mauern, als es die strengsten Corona-Maßnahmen könnten.

Was an diesem Vorfrühlingstag beim Verlassen des Museums bleibt, ist das Gefühl inwändiger und aushäusiger Fremdbestimmung. Regierte drinnen mit fröhlichen Farben und eiserner Faust die Utopie, nimmt mich draußen der starke Arm der entfesselten Exekutive wieder in Empfang. Dazwischen blieb keine Sekunde Zeit zum Träumen. Die Maske kann gleich aufbleiben.