Wer hat behauptet, der Mobilfunksektor sei eine Servicewüste? Stimmt nicht: Es kommt zu unverhofften menschlichen Begegnungen. In Echtzeit, O-Ton und Bewegtbild.

Big Grandma taucht auf, als ich gerade dabei bin, in der Servicewüste zu verdursten: auf der ausgedorrten Marathonstrecke eines Tarifwechsels von Anbieter A zu Anbieter B. Haben Sie mal versucht, Ihre Telefonnummer von A nach B mitzunehmen? Es möge an dieser Stelle genügen, dass ich für etwa eine Woche weder A noch B nutzen kann.

Bleibt nur C: eine Prepaid-Karte zur Überbrückung. Rein in die Aldi-Filiale, „Starter-Set“ mit Karte von Aldi Talk gekauft und gleich mal festgestellt, dass die versprochene Sonderaktion mit Mini-Flatrate entgegen der Onlinewerbung nicht im Paketumfang enthalten war. Aber egal. Ist ja alles nur für eine Woche. Hauptsache erreichbar.

Gleichfalls egal, dass jetzt schon Juli ist. Und seit Juli kann man Prepaid-Karten nur noch nach Durchlaufen eines ausgefeilten „optischen Identifizierungsverfahrens“ aktivieren. Das muss von der BaFin autorisiert sein, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Denn Prepaid heißt: Man lädt seine Karte mit amtlichen Zahlungsmitteln auf, und dazu muss in Deutschland erst mal die Übereinstimmung zwischen Personalausweisdaten und Gesicht zertifiziert werden.

Um jetzt nicht in der kafkaesken Postfiliale Schlange stehen zu müssen, wo sie einem die eigene Existenz am Ende wahrscheinlich auch per „PostIdent“ bestätigen würden, kann man die Kontrolle jetzt zuhause durchlaufen – am eigenen PC, bei eingeschalteter Webcam.

Ich hab’s ausprobiert. Es war großartig.

Gerechnet hatte ich mit einer Art virtuellem Bodyscanner, vollautomatisch natürlich, oder einem digitalen Avatar, der mich programmgesteuert durch schreckliche Eingabe- und Selfieprozesse führen würde.

Weit gefehlt.

In Deutschland muss erst mal die Übereinstimmung zwischen Personalausweisdaten und Gesicht zertifiziert werden

Ein Fenster tat sich auf meinem Bildschirm auf. Eine Botschaft erschien: „Ihr Video-Agent wird sich in Kürze melden“. Und dann meldete sich mein Video-Agent.

Whoa!

Groß im Bild: ich selbst im Esszimmer, innerlich vollkommen unvorbereitet. Klein im Extrabild in der der unteren rechten Ecke: der Video-Agent. Eine sächselnde Oma mit Kurzhaarschnitt vor neutralem Hintergrund. Dass sie nicht simultan mit Stricknadeln klapperte, war alles. „Nu, Hörr Dries’n, gudn Doog, wollnse vleisch mol ihrn Persenolausweis vorde Gammera holn?“

Der Staat schaut dich an. Genau so muss das aussehen. Big Grandma sieht alles, durchschaut alles, durchleuchtet alle meine Daten und vermutlich auch noch meinen Mageninhalt. Ähm, ja. So recht?

„Ö bissl möhr rächds, vleisch. So’ß gudd.“

Dass ich jetzt umgehend das rechte Ohr frei machen müsse, wie damals zu DDR-Zeiten am Grenzübergang Friedrichstraße, befahl sie nicht.

„Sch überdrog dannemol grod Ihre Persenolausweisdodn“, machte sich die Agentin ans Werk und hieb die Dodn sogleich in eine unsichtbare Dosdeduhr Tastatur.

„Ist ja nett, dass man hier noch von richtigen Menschen behandelt wird“, entfuhr es mir, aufrichtig erfreut. Um ein Haar hätte ich, allein zu Hause, gedankenlos halbnackt vor meiner Webcam gesessen.

„Dös’s goröggd, Hörr Dries’n“, bestätigte die Agentin ihre Original-Menschlichkeit. Ich meinte den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Nach zwei Minuten des zittrigen Perso-vor-die-Kamera-Haltens waren die Formalitäten beendet.

„Gönnse wieda rundonähm“, wies mich meine BaFin-kompatible Gesprächspartnerin jovial an.

„Sch überdrog dannemol grod Ihre Persenolausweisdodn“, machte sich die Agentin ans Werk

Ich tat, immer noch verblüfft, wie mir geheißen – um mich im nächsten Moment für meinen unkritischen Gehorsam gegenüber einem Videobild zu verwünschen. Was, wenn es sich doch nur um eine virtuelle „Agentin“ gehandelt hatte? Können die das nicht heute schon in der Computergrafikabteilung? Es soll ja bereits Spielfilme geben, in denen digitale Schauspieler nicht mehr von echten zu unterscheiden sind. Vielleicht eine Parodie, mit der das Bundesamt Selbstironie dokumentieren und Sympathiepunkte heischen wollte?

„Nö schöne Uhr hommse do ond’r Wond höng‘, Hörr Dries’n!“

Oh mein Gott. Hinter mir an der Esszimmerwand war auf dem Bildausschnitt, den ich sah und den sie sehen konnte, deutlich meine aus alten Vinylscheiben gebastelte Pendeluhr zu erkennen, sachte pendelnd.

Und dieses Wesen konnte das sehen. Es musste real sein. Es musste tatsächlich irgendwo in Sachsen eine  Oma soeben meine Personalausweisdaten mit meinem Gesicht abgeglichen haben. Ich fühlte mich zu sehr ertappt, um sie zu ihrem zeitgemäßen Einrichtungsgeschmack zu beglückwünschen.

„Ihr Videostream wurde beendet.“

Drei Stunden später war meine Handykarte freigeschaltet. Ich weiß, es klingt unangemessen sentimental und spottet allen Privatsphärenschutzinstikten, aber das BaFin und das allgemeine Mobilfunkwesen haben heute bei mir gepunktet.

Mann mit schöner Uhr, offiziell bestätigt (nicht im Bild: Grandma)