Wir wurden als Menschen geboren, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Doch in der Regel tun wir heute alles, um dieser Herausforderung zu entgehen. Politischer Radikalismus und Isolation durch sogenannte Kommunikationstechnologie haben eine Gesellschaft der brüllenden Sprachlosigkeit geschaffen. Umso irritierender, wenn doch einmal geredet wird.
Der Wutbürger im Rentenalter steigt an der Haltestelle Berliner Tor zu. Ohne Luft zu holen wutbürgert er los. Denn gleich bei der Tür, durch die er den Zug der Linie U2 betritt, stehe schon ich mit meinem Fahrrad. Ah, ein Fahrrad, schallt es mir entgegen, das Verkehrshindernis Nummer eins! Finden Sie, setzte ich zur Gegenwehr an, weil ich ihm keineswegs den Zutritt erschwert habe.
Da sehe ich, dass der betagte Brillenträger zwar keinen weißen Stock mit sich führt, aber einen Button mit dem Blinden-Symbol an seiner Jacke, drei schwarze Punkte auf gelben Grund, außerdem eine entsprechende Armbinde. Er lässt sich auf die Bank gleich neben der Tür fallen. Einen Meter entfernt von der Haltestange, an der ich mit dem Fahrrad stehe.
Ja, findet er allerdings. So rücksichtslos, die Radfahrer heutzutage! Aber doch nur eine Minderheit, nicht die Radfahrer, versuche ich zu moderieren. Doch, die Aggressivität der Radfahrer habe unglaublich zugenommen, lässt er meinen Einwand nicht gelten. Was für eine Aggressivität, frage ich, ich sei jedenfalls nicht aggressiv, ich stehe nur zufällig hier. Etwas an meinem Tonfall signalisiert ihm wohl, dass er bei mir Interesse an einem Austausch geweckt hat. Und so erfahre ich, während ich an diesem regnerischen Vormittag auf dem überdachten Weg ins Büro bin, einiges aus der Welt eines Fastblinden, der noch über zehn bis 15 Prozent Sehkraft verfügt.
Ich erfahre zum Beispiel, was er als stark eingeschränkter Fußgänger immer wieder erlebt. Er geht so seiner Wege, wird dabei urpötzlich von einem Radfahrer fast umgenietet und ruft dem mobilen Gefährder hinterher: Hallo, das ist hier ein Bürgersteig! Woraufhin er zuverlässig zu hören bekommt: Verpiss dich, du Wichser! Hamburg im Jahr 2024.
Fast bin ich versucht, mich für mein Fahrrad zu entschuldigen, oder jedenfalls für die Asozialen unter den Radfahrern, die zu solchen Auftritten imstande sind (und die selbst ich als nicht sehbehinderter Fußgänger schon erleben musste). Allein seine unprovozierte Verbalattacke hält mich zurück. Doch da sagt er schon, dass er an sich bemerke, im Lauf der Zeit immer bitterer geworden zu sein – alt, alleinstehend und körperbehindert in der Großstadt. Immerhin fällt es Ihnen selbst auf, lenke ich ein. Die Leute reden nicht mehr miteinander, erklärt der Fastblinde. Er vermisse die Zuwendung, das Gespräch.
Auf meine Frage nach seinem Beruf vor der Pensionierung antwortet er „Tippse“. Als Schreibkraft habe er lange Jahre gearbeitet, weil das einer der wenigen für Sehbehinderte zugänglichen Berufe gewesen sei. Ein geschulter Zuhörer. Ich werde deswegen immer überschätzt, sagt er von sich wie von einem Untersuchungsobjekt, denn die Leute verwechseln Wortgewandtheit mit Intelligenz. Früher sei er ein Liberaler gewesen, erzählt er, aber dann sei Schröder gekommen und habe mit neoliberaler Politik die Arbeiter vernichtet. Jetzt im Rentenalter hat mein Mitfahrer zum Sozialismus gefunden.
Von Haltestelle zu Haltestelle ist ein Gespräch in Gang gekommen, wo es zunächst nur nach einer weiteren urbanen Konfrontation aussah. Als ich schließlich vor ihm aussteigen muss, ruft er mir nach: Und verzeihen Sie meinen Wutausbruch! Kein Problem, rufe ich zurück, überraschend beglückt, weil mir unverhofft ein Einblick in das Leben eines Fremden gewährt wurde. Nur durch die Kraft sich bewegender Lippen. Längst zurück am Tageslicht, staune ich immer noch: Dazu muss Sprache ursprünglich mal dagewesen sein.
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Der freundliche junge Mann hat Ahnung von Technik. Veranstaltungstechnik, genauer gesagt. Am Vorabend einer Lesung stellt er Kabelverbindungen her, löst schwierige Adapterprobleme und macht so unpassende Steckverbindungen kompatibel, stellt Lautstärkepegel ein und sorgt auch noch dafür, dass der Beamer beamt, was er beamen soll. Mikrofonprobe: Eins zwo, eins zwo. So kommen wir ins Gespräch. Ob das hier für ihn ein Nebenjob ist oder ein Freundschaftsdienst für den Veranstalter, bleibt im Unklaren, aber im Hauptberuf ist er Lehrer an einer Hamburger Brennpunktschule.
Wenn ich mir einen malen müsste, würde ich ihn mir genauso malen: Anfang Mitte dreißig, sportlicher Typ, Wuschelkopp, schwarzer Hoodie mit dem unvermeidlichen Jolly-Roger-Totenschädel über gekreuzten Knochen, St. Pauli Merch. Vor einem Jahr, erfahre ich, war da diese Sache mit dem Schüler, der mit einer echt aussehenden Schreckschuss-Knarre in den Unterricht kam. Das löste einen SEK-Einsatz aus, der die Schule und das halbe Wohnviertel in den Lockdown schickte.
Nachdem alles vorbei war, hatte der Vater des Teenagers durch den Stress einen Herzinfarkt erlitten, oder wegen der ihm präsentierten hoch fünfstelligen Rechnung für die Einsatzkosten, und leider leider, der Junge musste auch noch die Schule verlassen. Dabei war der doch bloß doof gewesen, dumme Jungs halt, wollen immer auf dicke Hose machen. Kein Grund, die Familie derart zu bestrafen.
Ich denke an die Todesangst und Ungewissheit, unter der Hunderte Mitschüler, Angehörige, Lehrer und Anwohner stundenlang gelitten haben müssen. Mein Mitgefühl mit dem Spinner hält sich in Grenzen, sage ich. Und das ist der Punkt, an dem alles kippt. Meine Gefühlskälte verstößt gegen den Konsens linker Hamburger Pädagogen (andere gibt es meiner Erfahrung nach nicht). Und Nichtpädagogen wie ich, die an der Stelle kein Verständnis für den Täter zeigen, müssen etwas doppelt Finsteres ausstrahlen: außerhalb der Zivilgesellschaft stehend und keine Ahnung von den Härten des unterprivilegierten Brennpunktschülerlebens.
Ab jetzt ist es kein Gespräch mehr, sondern ein auf Distanzierung bedachter Monolog, zielend auf schnellstmögliche Verabschiedung. Was jetzt einsetzt, hat immer weniger mit mir als Gegenüber zu tun und immer mehr mit dem, was in seinem Kopf vorgeht. Darin eskaliert alles so schnell, dass ich thematisch kaum noch mitkomme. Auf dem Nährboden des unausgesprochen im Raum stehenden Konzepts „drakonische Strafen“ erblüht die böse Blume eines phantastischen Faschismus, schneller als eine Nachtkerze in der Finsternis.
Plötzlich sind wir bei den Lehrplaninhalten des Faches Deutsch, und dann bei den Wahlen in Sachsen, und wenn die AfD so stark wird wie erwartbar, dann, erregt sich der junge Mann zunehmend, dann steht bald wieder Hitlers „Mein Kampf“ auf dem Programm! Und dann wird wieder richtig Deutsch gelernt! Mit diesen Worten ist er schon halb zur Tür hinaus.
Ich möchte gerne an Satire glauben, an Ironie, aber dafür gibt es kein Anzeichen. Das steht ihm wirklich als Zukunftsvision vor Augen, in diesem Moment. Er ist überzeugt, dass in Sachsen demnächst „Mein Kampf“ als völkisches Vorbild gelehrt wird, wenn Höckes Partei gewinnt. Es gibt keine Fakten, die solch ein Schreckensszenario stützen. Aber die Angstlust hat jeden Realitätsbezug fortgespült.
Schade, ich hätte gern noch mehr aus dem Brennpunktschulalltag erfahren, wo die Wirklichkeit buntere Blüten treibt als alle Phantasie.
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Oh nein, wo ich es doch so eilig habe! Als ich mich im Penny-Markt, mit bloß einer Mikrowellenmahlzeit für die Mittagspause, gerade ans Ende der beträchtlichen Kassenschlage einreihen will, kommt sie mir knapp zuvor: die massige, vorgebeugte ältere Frau mit den strähnigen grauen Haaren und den zahlreichen Wodkaflaschen vorn im gut gefüllten Einkaufswagen. Na klar! Ukrainerin bestimmt. Russin. Irgendwo vom Balkan. Und einhundert Prozent ignorant für mein Bedürfnis, hier schnell rauszukommen. Was muss ich auch hier in diesem Pennerpuff einkaufen! Aber es gibt ja nichts anderes im Umkreis. Und jetzt schmore ich hier. Hinter ihr und ihrer Flaschenbatterie.
In dem Moment dreht sie sich zu mir um: Haben Sie nur die eine Sache? Dann gehen Sie doch gerne vor! Äh, danke, stammele ich.