Potjomkinsche Dörfer waren gestern. Heute dient eine ehemals pulsierende Einkaufsmeile im Herzen Hamburgs, gleich neben der Klimakirche, als verkehrs- und kommerzbefreite Kulisse grünen Größenwahns: 500 Quadratmeter amtlich abgesegnete Fortschrittsillusion im öffentlichen Raum.

Wenn früher Erich Honecker durch seine DDR gefahren wurde und beispielsweise in Parchim Halt zu machen beabsichtigte, einem rettungslos vor sich hinmodernden Kreisstädtchen im Bezirk Schwerin, dann lief das so: Vorab war bereits ein Rollkommando im Auftrag des ZK der SED dagewesen. Es hatte die hässlichsten der bröckelnden Rauhputzfassaden an der Hauptstraße mal schnell mit der Honeckerlieblingsfarbe Eiterbeige übertüncht. Mit Farbe aus strategischen Parteibeständen natürlich, denn zu kaufen gab es die wegen Mangelwirtschaft nur in Ausnahmefällen. Sonst hätten die Parichmer ja ihre Häuser möglicherweise schon selbst instandgehalten – wahrscheinlich aber nicht, weil es volkseigene Häuser waren, also wurschtegal.

Jedenfalls sah der Staatsratsvorsitzende bei seiner Parchim-Visite, was er sehen wollte: blühende Landschaften und einhellige Einheit überall. „Wir alle …“, konnte er demgemäß in seiner nicht unter neunzigminütigen Rede an Ort und Stelle nuscheln, „… vdank’n demäntwiggldnsozialismus eiterbähsche qualitätswohnraumfossodn ufweltniwoh!“ Die gewünschten Pressebilder mit huldvoll winkendem Staatschef und dankbar fähnchenschwenkendem Staatsvolk vor frisch vereiterten Fassaden konnten geknipst werden. Die Karawane fuhr weiter – und ein paar Wochen später hatte saurer Regen der tatsächlichen Realität schon wieder weitgehend zu ihrem Recht verholfen.

Solche temporären Glücksinstallationen heißen aber trotzdem nicht Honeckersche, sondern Potjomkinsche Dörfer. Denn Erich war natürlich nicht der erste Wahrheitsverbieger, der beim ungünstigen Aufeinandertreffen von Anspruch und Wirklichkeit ein wenig nachhelfen ließ. Nein, das hatte lange vor ihm und allen Sozialistenfürsten der zaristische Feldmarschall Grigori Alexandrowitsch Potjomkin eingeführt. Er stellte in regelmäßigen Abständen Kulissen nicht existierender Dörfer auf und transportierte sogar Dorfbewohner-Darsteller just in time von einem zum nächsten Illusionsort. So wollte er, zumindest der Legende nach, Katharina die Große auf deren Reise durchs russische Hinterland über den Entwicklungszustand einer neubesiedelten Gegend täuschen.

Allmählich wird es nun Zeit, den Begriff neu zu münzen: „Baerbocksche Dorfstraßen“ müsste es in der deutschen Wirklichkeit – oder vielmehr ihrem imaginierten Gegenstück – des 21. Jahrhunderts heißen. Die etwas unhandliche Definiton: Eine Baerbocksche Dorfstraße ist eine begehbare Projektionsfläche für Wunschrealität, die von der politreligiösen Staatskirche abgesegnet und für den karbonfreien Verkehr freigegeben wurde. Bestes Beispiel für eine Baerbocksche Dorfstraße ist seit dem vergangenen Wochenende ein zentraler Hamburger Shopping-Boulevard, die Mönckebergstraße.

Ich fahre da jeden Tag durch, bzw. drüber weg. Mit dem Fahrrad. Ich nehme diese Route seit Jahren, aber neuerdings bin ich hier recht einsam unterwegs. Selbst die früher allgegenwärtigen Busse haben sie jetzt verbannt. Es herrscht gespenstische Stille auf der ehemals pulsierenden „Mö“. Oh, verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin sehr für Umweltschutz, fahre selten Auto, dafür sehr gerne Bahn, und wohl kaum ein Hamburger Büromensch hat einen kleineren CO2-Fußabdruck als ich.

Aber jetzt, wo ich jeden Morgen über „Wir alle“ radeln muss, denke ich jeden Tag aufs Neue: Wann bin ich eigentlich gefragt worden, ob ich das auch will, eine mich vereinnnahmende Straßenvollbeschriftung in (ehemals) bester Innenstadtlage zugunsten einer luftigen Idee? Bin ich denn nicht auch „Wir alle“? Obwohl, ich war vorgewarnt. Mich muss niemand fragen. Mir muss man am Ende nur unter den Fahrradreifen diktieren, was ich zu wollen habe: 1,5 Grad Celsius Erderwärmung. Maximal. Klimaziel. Verzicht. Einschränkung. Verbot. Gebot. Du musst. Wir alle! Grün.

Legitimiert wurde diese Fridays-For-Future-Aktion natürlich nicht von Ungefragten wie mir oder den demnächst massenhaft gekündigten Einzelhandelsbeschäftigen, denen hier jetzt jeden Tag subtil für ihren Zwangsbeitrag zum Klimaschutz gedankt wird. Sondern von der rot-grünen Koalition Hamburgs und der evangelischen Nordkirche, vor deren Göttinnenhaus die Botschaft der Prophetin „uns allen“ auf dem Asphalt offenbart wurde. Man hat das mindestens 500 Quadratmeter große Stück einstiger Prachtstraße dazu ganz offiziell, unter Polizeipräsenz, mit amtlichen Absperrgittern umstellt, um den grünen Gospel ordentlich und nachhaltig aufs Pflaster malern zu können.

Selbstverständlich mit dem Segen der Kirche. Gleich hinter Sankt Petri campt seit Monaten das Jungvolk von FFF. Das sorgte noch vor wenigen Wochen bei strengem Frost und schneebedeckten Zeltplanen für eigenartig dissonante Bilder: Während die Erde sich katastrophal aufheizte, froren die Aktivistinnen für Abkühlung. Schon gut, ich weiß ja: Wenn es kalt wird, ist es nur eine Wetterlaune. Wenn es heiß wird, ist es der von mir verschuldete Klima-Armageddon. Amen.

Dazu hat die evangelische Kirche Hamburgs sicher noch viel Mahnendes und Anklagendes beizusteuern. Vielleicht lässt sie auch für verirrte Sünder wie mich beten, die immer noch nicht auf dem offiziell abgesegneten Fortschrittskurs sind. Ein komplett abstraktes „Klimaziel“, mit dem sich hervorragend moralischer Druck machen, ausgrenzen, in Gut und Böse spalten und zum millionsten Male Angst vor der Hölle erzeugen lässt, das ist ein gefundenes Fressen für die Pfäffinnen. Grad so wie früher der Teufel und das Fegefeuer, nur diesmal alles ins politische Diesseits verlagert.

Wenig Tröstendes hingegen gibt es aus Bischöfinmund zu den wirklichen, vor der Haustür drängenden, ganz konkreten Nöten der Menschen, die sich fast nur noch als Touristen in die Sankt-Petri-Kirche verirren. Doch solange sich die Dienerinnen der Herrin auf einem sicheren und beamtinnengleichen Salär aus staatlich eingezogener Kirchensteuer plus Staatsknetebeihilfen und -fördertöpfen ausruhen können, wissen sie auch, wo Bartel den Most holt und wes‘ Lied sie singen müssen. Ist alles bloß menschlich.

Das Schönste am staatskirchlich größenwahnsinnigen „Wir alle“ ist aber nicht die parteikonforme, strahlende Grundfarbe Grün. Nein, es ist die totale Indifferenz, mit der die morgendlichen Berufspendler und Müllmänner die drei Meter großen Buchstaben komplett ignorieren. (Schaufensterbummler gibt es ja auf der „Mö“ kaum noch, wegen Dauerlockdowns und Pleiten der nun leerstehenden Kaufhäuser wie Kaufhof und Karstadt Sport.) Na und, sagen die stumpfen Blicke der Vorübergehenden, das ist nun halt das neue Straßenbild. Haben die da oben wohl so angeordnet, wird schon irgendeinen Grund haben.

Nicht einmal ein Achselzucken ernten die „Wir-alle“-Erziehungsberechtigten von ihren Stadtkindern, die kreuz und quer drüber hinweglatschen. Und das ist dann schon wieder ein wenig beruhigend, das war in der DDR auch nicht anders: Willst du etwas auf Dauer zuverlässig unsichtbar machen, errichte ihm ein Denkmal auf dem größten öffentlichen Platz. Dieses „Wir alle“ ist bloß Schimäre, Wunschdenken, Paralleluniversum paradiesischer Einbahn-Einigkeit. Eine Baerbocksche Dorfstraße eben.

Das Desinteresse der Passanten macht denen, die das Licht gesehen haben, übrigens gar nichts aus. Die Verkündiger predigen ohnehin nur den Gläubigen, um sich dann untereinander auf die Schulter zu klopfen und zu wissen: Wir, wir alle sind die, die es besser wissen. Die Teilnahmslosen dienen ihnen auf andere Weise: als Beleg für den traurigen Rest, die Unverbesserlichen, die Ewiggestrigen. Kann man sie nicht mit Parolen kriegen, muss man sie zwingen. So schlicht ist das Weltbild, so war es immer, so wird es immer sein. Und noch einmal Amen.

„Wehe“, höre ich nun die Worte der Wissenden aus ihrem Glaubensgebäude donnern: „Du, Ungläubiger, hast unsere Predigt ja doch gelesen! Behauptest nur, sie werde ignoriert, machst dir aber selbst die ausgeklügeltsten Gedanken dazu! Rückst sie sogar hier im Blog noch ins Rampenlicht. So ist dies denn der Beweis, dass unser Gebot sich doch unauslöschlich in deinen sündigen Geist eingebrannt hat!“ Und sie reiben sich vergnüngt die Hände ob ihrer gelungenen Manipulierung meines Bewusstseins.

Denen aber sage ich, wahrlich, ihr werdet mich nicht umerziehen! Denn je mehr ihr es versucht und je sozialistisch-bombastischer ihr dabei zu brüllenden Groß- und Größtformaten greift, desto bockiger werde ich. Ihr beeindruckt mich nicht mit euren Kulissenschiebereien. Ich weiß schon selbst, was gut und richtig ist. Vernunft zum Beispiel. Maßhalten. Gemeinsinn. Bescheiden leben. Materiellen Besitz geringschätzen, die Freiheit dafür umso mehr. Die Freiheit des Reisens, die Freiheit des Geistes, die Freiheit der Meinung. Die Freiheit, im Wettbewerb der Strategien und Methoden zu kompromissfähigen Lösungen für den Umgang mit dem Klimawandel zu kommen. Womöglich gar auf Märkten, denn Marktwirtschaft ist Wettbewerb um das beste Angebot. Je höher der Problemdruck, desto innovativer der Markt.

„Teufelszeug!“, schreien die Erleuchteten jetzt auf, „Man muss die Leute zu ihrem Glück zwingen! Anders als wir sind sie so dumm und egoistisch, wie kann man da bloß auf Freiheit und Märkte setzen! Zwänge und Verbote, nur diese Sprache versteht der Pöbel!“ Und ihr Gesinnungsgenosse Karl Lauterbach räsonniert in der Welt, man benötige zur Bewältigung des Klimawandels eigentlich Maßnahmen, „die analog zu den Einschränkungen der persönlichen Freiheit in der Pandemie-Bekämpfung sind“. Solche Menschen mit solchen Ansichten regieren uns jetzt und malen dabei noch die Straßen grün oder mindestens den Teufel an die Wand.

Dabei ist und bleibt Freiheit die Grundlage allen gesellschaftlichen Fortschritts. Die Freiheit zu etwas: selbst zu denken, zu erkennen und dann, entsprechend motiviert, in der Sphäre des eigenen Einflusses zu handeln. Vor allem aber die Freiheit von etwas: von falschen Propheten, von unerträglicher Besserwisserei und Bevormundung, von Baerbockschen Dorfstraßen. Von den frischgrün getünchten Kulissen einer bedrohlich autoritären Ge- und Verbotspartei, deren Grundfarbe ich mit jedem neuen Tag ein wenig blasser radeln werde.