Hatte ich nicht neulich erst öffentlich einen Text vorgelesen, in dem ein Mensch mit einer künstlichen Intelligenz diskutiert? Am Ende stellt sich raus, dass die vermeintliche Software in Wirklichkeit menschlich ist und umgekehrt. Wer hätte gedacht, dass mich die Realität so bald auf die Probe stellen würde.

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Der Anruf auf dem Handy erreichte mich zuhause. Es war elf Minuten nach acht am Abend. Ich weiß das noch so genau, weil ich kurz danach, dem Rat eines Hamburger Polizisten folgend, ein Gedächtnisprotokoll geschrieben habe.

Der Anrufer nutzte eine Mobiltelefon, dessen Nummer auf dem Display angezeigt wurde: 0176 8386 9864. Die Nummer kannte ich nicht. Aber wer weiß, dachte ich: Vielleicht ist es Hollywood (Außenstelle Castrop-Rauxel), wegen der Filmrechte an meinem neuen Roman. It’s the hope that kills you.

Der Anrufer war männlich, von der Stimme her mittelalt, aus der Gegend von Hannover (dem reinen Hochdeutsch nach zu urteilen, auch wenn es kein vorschriftsmäßiges Hannoveraner Gender-Neudeutsch war).

Und er war deutlich angepisst.

„Guten Abend, hier Ochsenknecht!“ (Oder so ähnlich, vergessen.) „Es ist wegen dem Computer, den Sie mir auf Ebay verkauft haben. Den will ich wieder zurückgeben.“

„Äh“, sagte ich. Manchmal kann man meinen Hirnströmen beim Verarbeiten unerwarteter Informationen zusehen.

„Wegen dem Computer“, half er vermeintlich meinem Gedächtnis auf die Sprünge. „Ich will den zurückgeben, der funktioniert nicht.“

„Äh“, wiederholte ich. „Sie haben sich verwählt, glaube ich. Hier ist TWASBO.“

„Nein“, beharrte er. „Der Computer, den Sie mir verkauft haben. Auf Ebay. Ich will den zurückgeben.“

„Ihren Namen kenne ich überhaupt nicht. Ich habe Ihnen keinen Computer verkauft, und auch sonst niemandem.“

„Doch, auf Ebay. Und der Computer funktioniert nicht.“

Inzwischen waren etwa 30 Sekunden vergangen. Jetzt erst meldete sich ein Alarmsensor in meinem Hirnkasten: Hier stimmte etwas nicht. Es mochten die vielen Wiederholungen sein. Oder die mikroskopischen Zeitverzögerungen, bis er auf meine verdatterten Antworten reagierte. Oder der immer exakt gleiche, vorwurfsvoll-geschäftige Tonfall.

„Also gut, was für ein Computer soll denn das gewesen sein?“, fragte ich nach, um mein Gegenüber zur Preisgabe weiterer Informationen über sich zu provozieren.

„Der Computer auf Ebay. Nehmen Sie den jetzt zurück? Ich finde, Sie könnten ruhig dazu stehen.“

Es kostete mich einige Überwindung, meinem Anrufer gegenüber die folgende Vermutung in Worte zu fassen. Schließlich betrat ich damit telefonische Terra Incognita. Unkartografiertes Gelände. Noch nie zuvor erkundete Abgründe der Echtzeit-Kommunikation.

„Ich glaube, Sie veralbern mich. Ich glaube ehrlich gesagt, ich spreche gar nicht mit einem Menschen. Sondern mit einem Computerprogramm, das reden kann.“

„Na gut, dann schicke ich Ihnen den Computer jetzt mit der Post zurück! Auf Wiederhören.“

Aufgelegt. Diese letzte Erwiderung war schwach, fast enttäuschend gewesen. Sie hatte meinen Verdacht schlussendlich bestätigt: Ich hatte mit einer Software telefoniert, die nur einen begrenzten Vorrat an Reaktionsvarianten auf bestimmte Schlüsselreize besaß. Und mein letzter Satz hatte ihre Exit-Strategie ausgelöst. Denn kein Mensch reagiert so, wenn man ihm auf den Kopf zusagt, dass er keiner sei. Ein Mensch hätte hier seine Ehre verteidigt, wäre geradezu explodiert vor verletzter Menschenwürde.

Ich starrte dumpf vor mich hin. Was war das jetzt bitteschön gewesen? Was war mir da soeben zugestoßen? Es war ein wenig gruselig. Nein, nicht ein wenig, je länger ich darüber nachdachte, sondern sogar ziemlich. Scary! Zum ersten Mal in meinem Leben hatte jemand mit mir – ungefragt und gegen meinen Willen – einen Turing-Test gemacht. Und zumindest in den ersten 30 Sekunden war ich durchgefallen.

Dann rief ich probehalber, doch ohne große Zuversicht, die Anrufernummer auf dem Display zurück. Wie erwartet: „Die gewählte Nummer ist nicht vergeben. Bitte rufen Sie die Auskunft an.“

Meine Güte. Du lebst in einer Zeit, in der dich nach Feierabend jemand anrufen und mit dir Geschäfte bequatschen kann, der kein Mensch ist. Der nebenbei noch seine Handynummer fälscht. Und du, der du Geschichten über den Konflikt zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz schreibst, fällst eine halbe Minute lang auf alles rein.

Jetzt gab es zwei Möglichkeiten für den beträchtlichen technologischen Aufwand, der da zur Täuschung gegen mich aufgefahren worden war.

Die bessere der beiden: Ein Forschungsinstitut für Artificial Intelligence führte einen Feldversuch durch, um die Reaktivität seines Systems am lebenden Objekt zu erproben. Im Dienste der Wissenschaft. Um dann später segensreiche technologische Lösungen für die gesamte Menschheit daraus zu entwickeln.

Irgend etwas sagte mir, dass es das nicht war.

Die schlechtere Alternative: Jemand versuchte mich auf finster raffinierte Weise zu betrügen. Man kennt das: Hacker, Darknet, Malware, Phishing, das ganze Programm.

Mit steigender Nervosität wählte ich die Nummer der für meinen Wohnort zuständigen Polizeiwache. Und zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten kam ich mir ausgesprochen bescheuert vor: „Guten Tag, ich habe gerade einen Anruf von einer künstlichen Intelligenz erhalten, die behauptete, ich hätte ihr einen Computer auf Ebay verkauft. Kennen Sie sowas auch?“

Doch dort, in der polizeilichen Telefonzentrale, lief meine wirre Botschaft bei einem jungen Polizisten auf, der zufällig in seiner Freizeit Computermagazine las. Was ausreichte, um mich nicht sofort als paranoiden Irren aus der Leitung zu entfernen.

Nein, die Sprachsoftware kannte auch er noch nicht, aber: „Es gibt Betrüger, die Sie anrufen, Sie zu bestimmten Aussagen wie etwa ‚Ja, das will ich machen‘ verleiten, alles aufzeichnen und neu zusammenschneiden. Dann schließen sie am Telefon damit Kaufverträge in ihrem Namen ab, zum Beispiel im Telekombereich. Da reicht manchmal eine gesprochene Bestätigung.“

Ach du Schande. Im Geiste sah ich Hunderte von Handys der Tausend-Euro-Klasse samt Dreijahres-rundum-sorglos-Verträgen den Besitzer wechseln – abgebucht von meinem Konto. Ich versprach, seinem sehr willkommenen Rat zu folgen und mit dem Gedächtnisprotokoll in der Hand auf die Wache zu kommen, sobald ich eine unerwartete Zahlungsaufforderung erhielte. Und ich bedankte mich überschwänglich für die Freundlichkeit, mich nicht als armen Irren mit Alu-Hut und Verfolgungswahn bezüglich bösartiger Roboter behandelt zu haben.

Erst später kamen mir erneut Zweifel: Wozu bräuchten die Täter denn da unbedingt meine Stimme? Dass ich alles zu bezahlen bereit sei, könnten sie schließlich dem Telefon-Verkäufer schließlich auch mit ihrer eigenen erzählen. Oder? Ach, ich bin zu doof für diese Bösartigkeit.

Es war dann mein 13-jähriger Sohn, der den Verdacht in eine für mich nachvollziehbarere Richtung lenkte: Man kann sein Handy oder seinen Computer heute per Sprache entsperren, wenn die Software genügend verschiedene Sprechproben „gelernt“ hat. Das passende Sprachmuster ist letztlich nichts weiter als digitaler Code. Wer ihn verschickt, möglicherweise im Anhang einer Spam-Mail, entriegelt also möglicherweise damit das fremde Gerät – und hat möglicherweise Zugriff auf Passwörter. Die möglicherweise zu Bankkonten führen.

Also, Mitmenschen: aufgepasst! Von heute an ist nicht mehr jeder, der Sie anruft und in ein Gespräch verwickelt, auch selbstverständlich aus Fleisch und Blut. Wieder eine existenzielle Sicherheit weniger auf der Welt. Verlass ist nur noch auf die kriminelle Kreativität. Die ist und bleibt menschlich. Beziehungsweise unmenschlich.