Segen und Fluch der Wiederaneignung einer alten Kulturtechnik: Indem ich mich nach langer Zeit des Dahintreibens im digitalen Vakuum erstmals wieder der Massivität des Mediums Buch aussetze, werde ich von Neuem zum Spielball mächtiger Kräfte – und ein klein wenig hellsichtig. Denn die derzeit gelesene Papierweltgeschichte deutet in eine monströse Zukunft.

Die gute Nachricht ist, dass ich wieder angefangen habe, Bücher zu lesen. Bücher, das muss ich vielleicht erklären, sind Druckwerke von oft mehreren Hundert Seiten Umfang und verlangen demzufolge eine Spanne an Konzentration auf ein und denselben thematischen Gegenstand, die durchzuhalten im Zeitalter von Swiping und Scrolling nahezu unausdenklich geworden ist (ähnlich einem Satz dieser Länge und Komplexität).
Zumal eine solch geballte Ladung als Buch ja nicht bequem in schwerelosen Videosequenzen oder doch zumindest im gleichfalls leicht konsumierbaren Audioformat daherkommt. Sondern als massives Tragwerk für abstrakte Zeichen und Chiffren, dazu entwickelt, unabhängig von Ort und Zeit und WLAN-Empfang belebte Bilder im Kopf des sie entschlüsselnden Lesers zu erzeugen. Damit entfaltet sich dort eine zusammenhängende Handlung und zieht den Lesenden in ihren Bann, wenn’s denn gutgeht. Das ist das Wunder der Schrift: Sie fordert Aktivität ein, die sie zugleich entfesselt. Sie generiert Hirnstrom.
Ich gebe zu, dass mich der Wiedereinstieg in die uralte Kulturtechnik des Bücherlesens – nach Jahren kürzerer und immer kürzerer Sinnzusammenhänge und Sinnesreize – einige Mühe und Disziplin kostet. Doch ich beginne, schon verloren Geglaubtes in mir wiederzufinden: die Möglichkeit, mich vielschichtigen Gedanken und mächtigen Erzählströmen hinzugeben, sie in mich aufzusaugen und auszukosten wie eine selbst erdachte und damit nahezu selbst erlebte Welt.
Natürlich wusste ich, wie wir alle, dass etwas Fundamentales fehlt im digitalen Zwitscheruniversum, diesem Hohlraum aus endlosen Nullen und wenigen Einsen, der uns verschlungen hat. Natürlich klagten meine höher entwickelten Organe und Sinne unablässig, dass die Beschränkung auf fahrige Wisch-Reflexe und artifizielles Geflimmer dem Menschsein als denkendes, fühlendes Wesen Hohn spricht. Und unvermeidlich manifestierte sich die Antriebslosigkeit dieser Existenz im Vakuum, sobald der jeweils letzte Dopaminstoß der digitalen Belohnungsmaschine verpufft war. Weil mir schwante, dass man uns die Schwerkraft eines viel älteren Globus vorenthält, musste der Griff eines Tages zwangsläufig wieder zum Buch gehen.
Mein Geist erinnert sich nun all der von Kind an erlesenen Buchstabenfolgen, der geduldigen bis unersättlichen Aufnahme von bloß scheinbar Ungegenständlichem und Zweidimensionalem über das lesende Auge und die Fühlung haltende Hand, selbst über den Geruch verschiedener Arten Papier und Druckerschwärze, über die Textur von Seiten, von Papp-, Leinen- und Hochglanzumschlägen und minimalsten Prägungsmulden des Schriftbildes, nicht unähnlich einem Blinden, der sich Sätze in Braille ertastet. Das Fühlen gehört ja zum Gesamtpaket Buch.
Mir ersteht wieder vor dem jahrelang unterforderten inneren Auge, womit Generationen nach Generationen bis in mein Zeitalter heranwuchsen und sich ausbildeten: diese Weltwerdungen auf Papier, getaucht in wechselnde Licht- und Stimmungslagen vom Morgengrauen bis zum matten Schein der Taschenlampe, halberstickt unter der Bettdecke und somit aufopferungsvoll abgeschirmt von Schlaf einfordernder Finsternis, weil unermüdlich in Abenteuer verstrickt.
Und nebenbei besteht eine der neu bekräftigten Freuden darin, mich frei von den erdrückenden Fesseln der „einfachen Sprache“ des Digitalzeitalters in hemmunglos epischen Hymnen auf das literarische Wort zu ergehen – wie derjenigen, die Sie gerade gelesen haben. Falls Sie das Zeug dazu hatten.
Die Schattenseite meiner persönlichen Renaissance des Buches aber gibt es ebenfalls: Manche der so erschlossenen Welten setzen mich von Neuem entsetzlich wahrhaftigen Szenarien aus. Sie können mich in Zeiten und Gesellschaften entführen, vor denen mir graut und die doch, wie das einst Philipp Jenninger nannte, als „Faszinosum“ unwiderstehlich zum Nachspüren und Durchdenken reizen: in die Zeiten des fanatisch gesuchten und herbeigeführten Krieges. Ich lese derzeit zum ersten Mal einen 1973 erschienenen Roman, dessen Verfilmung als Spielfilm und TV-Serienfassung ich schon unzählige Male als eine der besten mir bekannten erlebt und erlitten habe: „Das Boot“ von Lothar-Günther Buchheim (Regisseur von Film und Serie: Wolfgang Petersen).

Es dürfte vielfach bekannt sein: „Das Boot“ schildert in kaum verschlüsselter Romanform die überwiegend wahren Erlebnisse der Besatzung von U96, einem U-Boot der Nazi-Kriegsmarine, die während des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1941 Jagd auf alliierte Schiffskonvois im Atlantik macht. Autor Buchheim ist als Propaganda-Offizier selbst an Bord dieses Bootes gewesen. Er berichtet, wie etwa 50 Mann, in Wahrheit überwiegend noch Jugendliche unter 20 Jahren, während der wochenlangen Tortur einer „Feindfahrt“ den ganzen Terror und die Verrohung des Krieges durchleben – in den denkbar elendesten, klaustrophobischsten Verhältnissen einer waffenstarrenden Sardinenbüchse unter und über Wasser. Fast jeder dieser Einsätze ist ein Himmelfahrstkommando. Von Hitlers 40.000 U-Boot-Soldaten werden 30.000 das Kriegsende nicht erleben.
Obwohl ich den antiquarischen 600-Seiten-Wälzer unverhofft in der sehr empfehlenswerten Hamburger Rathauspassage entdeckte und dort, einem Impuls folgend, für vier Euro erstand, gibt es im Reich der Bücher vermutlich keine Zufälle. Denn wie damals zieht Krieg auf. Falsch: Er wird aktiv aufgezogen.
Konnten den Influenzern der Macht die deutschen Mensch*innen noch gestern gar nicht unmännlich, friedensträge und antipatriotisch genug sein, wird nun wie auf Kommando Gegenkurs gesteuert: Plötzlich trommeln die Propagandisten, „wir“ müssten uns jetzt nach langen Jahren der Verweichlichung als „wehrfähig“ erweisen, die Wirtschaft „kriegstauglich“ machen, Überlebensvorräte anlegen, Bunker bauen, uns erneut dem Feind im Osten entgegenwerfen. Schon schwadronieren angebliche Experten vom „letzten Sommer im Frieden“, diskutieren sogenannte Qualitätsmedien, ob genügend junge Männer bereit seien, „für Deutschland zu sterben“. (Gleichzeitig kann die zustimmende Verbreitung der als SA-Parole gebrandmarkten Wendung „Alles für Deutschland!“ zu Haftstrafen führen. Vielleicht hinkt da die Juristerei dem von oben gewendeten Zeitgeist noch leicht hinterdrein.)
Wann immer Sie die markigen Worte der neuen Kriegstrommler hören oder lesen, sollten Sie sich bewusstmachen, was damit von Ihnen verlangt wird. Als Eltern, die ihre Söhne bereitwillig dem Fleischwolf schwerreicher Rüstungsprofiteure ausliefern sollen. Als kaum erwachsene Söhne, die zwar von diesem Land keine hinreichende Bildung oder ein auskömmliches Arbeitsleben erwarten dürfen (das wäre teuer und mühselig für die „Elite“), gern aber als möglichst williges Kanonenfutter an der Ostfront gesehen sind. Selbst als Töchter und Frauen, die schon in zwei bis fünf Jahren wieder das züchtige Leben einer „Kriegerwitwe“ oder gläubigen Soldatenmutter führen könnten oder zur Kriegsdienstpflicht, gern als Lazarettschwester, herangezogen werden. Die Frage bleibt nur, wo in dieser neuen Ordnung unsere Diversen und all diejenigen mit Geflüchtetenststus unterkommen werden, so sie dann noch auffindbar sind.
Das jedenfalls, was junge deutsche Männer wieder werden sollen, nimmt „Das Boot“ historisch vorweg: rohes Fleisch. Es geht ja gar nicht anders. Sie werden es „aufgeklärte Bürger in Uniform“ nennen, „Soldaten der Demokratie“, „Verteidiger des Wertewestens“ – aber es bleibt dabei: ohne basalen Killerinstinkt kein Überleben als Soldat im Krieg. Ohne die totale Verrohung kein totaler Sieg. Man braucht das nicht einmal einzufordern, es stellt sich ganz von selbst ein, wenn spätestens nach den ersten Gemetzeln das Mäntelchen der Zivilisation von beiden Seiten abfällt. Dann gibt es nur noch den Racheschrei, nur noch die perverse Lust an der Vergeltung. Und an anderen Schandtaten. Die Bandbreite dessen, was Soldaten verüben, ist bekanntlich groß.
Die Verwahrlosung beginnt weit vor der Schwelle zum Töten. In der ersten Szene von „Das Boot“ sind der „Alte“ (alias der Kommandant) und einige seiner Offiziere nachts im Wagen auf der Küstenstraße unterwegs zur Bar Royal, nah bei den U-Boot-Bunkern von Saint-Nazaire an der französischen Atlantikküste. In der Bar versuchen kampferprobte Marinesoldaten bei Sauforgien die Schrecken des Krieges zu ertränken. Dem Wagen stellt sich kurz vor Erreichen des Lokals eine Kolonne schwankender, sturzbesoffener deutscher Seeleute in den Weg. „Beim Näherkommen sehe ich“, schreibt Buchheim im Roman, „dass allen über die heruntergeklappten Hosenlätze der strahlende Penis hängt. Der Alte gibt Signal. Die Reihe teilt sich, und wir fahren durch ein pissendes Spalier.“
Noch auf derselben surrealen Fahrt tun sich die alltäglichen Abgründe der damals herrschenden Ideologie und des dazugehörigen Kadavergehorsams auf: „‚Und was gabs noch?‘, frage ich den Alten. ‚Heute nichts mehr. Aber die Erschießung von gestern liegt mir noch im Magen. Fahnenflucht. Klarer Fall. Dieselheizer. Neunzehn Jahre alt. Reden wir nicht darüber.“
Im Offiziersclub angekommen diskutiert man dann alkoholgesättigt darüber, ob die unausgesprochene Richtlinie der U-Boot-Führung ethisch vertretbar sei, Schiffbrüchige von versenkten Feindschiffen nicht an Bord zu nehmen, sondern ihren Tod sicherzustellen. Einer der Kommandanten habe das Dilemma für sich gelöst, berichtet ein anderer: „Den Leuten kein Haar krümmen, aber die Rettungsboote zerschießen. Wenn die Wetterlage so ist, dass die Piepels im Bach bestimmt bald draufgehen, um so besser – dann ist ja die Sache geregelt! Die Konventionen sind beachtet … stimmt doch?'“ Selbst Ertrinkende von eigenen Schiffen, die der Gegner getroffen hat, sollen nach dem Willen der Führung nicht gerettet werden: Man habe dann so viel menschlichen Ballast an Bord, dass man den Kampfauftrag nicht erfüllen könne.
Was das Entsetzen über eine in disziplinierte Barbarei verfallene Gesellschaft nur stellenweise unterbricht, sind die blitzlichthaft poetischen Betrachtungen, die Romanautor Buchheim in den Pausen zwischen zwei Gefechten gelingen. So während einer Nachtwache auf der Brücke des aufgetauchten Bootes bei ruhiger See in den Weiten des Atlantiks: „Mir ist, als würde das Boot nicht vom Wasser getragen, als glitte es vielmehr zwischen Tiefe und Höhe auf einer dünnen, verharschten Haut dahin: Abgrund oben, Abgrund unten. Tausend Stockwerke Nacht in die Höhe und tausend Stockwerke Nacht in die Tiefe.“ Das ist wahrhaft tief durchdrungen: Der siebte Kreis der Hölle, den eine Nation im Krieg durchmisst, wird hier in schlicht-ergreifende Worte gefasst.

Das Mittel, das im Krieg aus Menschen Monster macht, ist Todesangst. Im realitätsbasierten Roman herrscht kein Mangel daran, zählt doch die Erwartung eines nachtschwarzen Ersaufens und Zerquetschtwerdens unter Millionen Tonnen von Wasser zum Schlimmsten, was ein der Kriegsmaschine ausgelieferter Mensch sich ausmalen kann und muss. Den Horror unter Wasser verbreiten Geräusche: Die gebündelten Schall-Impulse des technisch überlegenen britischen Ortungssytems zur U-Boot-Abwehr, die auf die Bootswand treffen, sind Vorboten jedes feindlichen Wasserbombenangriffs auf die abgetauchten Jäger: „Gezirp, das nach Heimtücke klingt. Feilt am meisten an den Nerven. Ein gemeineres Geräusch konnten die Tommies gar nicht erfunden haben, um uns zu piesacken.“
Das ist sehr ähnlich dem existenziellen Schrecken, den ein hohes elektrisches Summen in der Luft heute in der Ukraine verbreitet: Dort sind es fliegende Drohnen auf der emotionslosen Jagd nach allem, was sich am Boden bewegt. Auch dort werden die Soldaten beider Seiten von einem Geräusch für ihr ganzes Leben traumatisiert – so, wie es unseren jungen Männern erginge, sobald der Krieg nach dem Willen mächtiger Profiteure bis hierher ausgeweitet würde. Im „Boot“ lässt sich ein einfacher Marinesoldat nach stundenlangem Wasserbombenterror auf die Flurplatten des schwer getroffenen Bootes sinken: „Er ballt sich zusammen: ein dunkler Klumpen Fleisch und Angst.“
Mehr als ein Klumpen herumkommandiertes Fleisch, das sich zur Kompensation nur noch seines Sexualtriebs erinnern kann, wird auch im nächsten Krieg ein deutscher Soldat nicht sein. Was es bisweilen zu einer Strafarbeit macht, Buchheims Report in Romanform zu folgen, sind die niemals endenden Verbal-Schweinereien der gemeinen Soldaten an Bord von U96. Selbst in der relativen Ruhe einer Kampfpause flüchten sie, die knapp davongekommen sind, sich noch ins gegenseitige Übertrumpfen mit möglichst überdrehten Sex-Geschichten. Einer treibt das Protzen mit erotischen Exzessen vor seinen Kameraden so weit: „Die zieht sich aus, legt sich lang. Ich denk‘, ich lass mich überraschen, und will ihn reinstecken – da sagtse: ‚Vögeln willste, du Süßer! Mein Gott, wie primitiv!‘ Und plötzlich nimmtsen Auge raus – Glasauge natürlich – und hat da so n rotes Loch und sagt: ‚Los, jetzt kannste äugeln!'“
Immerhin gesteht der Ich-Erzähler an dieser Stelle, ihm und anderen an Bord sei davon übel geworden. Doch in den schlimmsten Momenten der Hetzjagd durch britische Zerstörer, als rings um das getauchte Boot über Stunden Wasserbomben explodieren, bleibt den Soldaten immer noch die Entmenschlichung von Frauen, um nicht losheulen oder schreien zu müssen. Nach stundenlangem Terror und – wieder einmal – Todesangst befiehlt der Kommandant, die nächste Ladung Torpedos klarzumachen. Dazu muss die Mannschaft die Sprengkörper zunächst üppig einfetten, um sie dann in die Abschussrohre schieben zu können. Buchheims Report ist an der Stelle schwer erträglich, denn er referiert die lautstarke Untermalung der Aktion durch die Verwilderten an Bord: „‚Schön Vaseline drauf und rein in die Fotze!‘ Ario hängt sich in die Kette des Flaschenzugs und imitiert Ekstase, während er sich nach Hackers Hau-ruck-Rufen ins Zeug legt: ‚Fick mich – fick mich – du geiler Bock, oh, oh, oh, du alte Sau – oh, du Sau – so isses richtig – noch tiefer – los!'“
Das ist Segen und Fluch eines Buches zugleich: Es ist so viel detailreicher und tiefenschärfer, als es ein Kinofilm und selbst eine mehrteilige Fernsehserie sein kann. Es vermittelt durch die schiere Fülle an Wortmaterial Nuancen und Exzesse, wo die Filmfassung der Selbstzensur und der Ökonomie des Schnitts unterlag. Weil dieses Buch aus einer Zeit stammt, als der Zwang zum Schönfärben von Wirklichkeit im Dienst der Herrschenden noch nicht allgegenwärtig war, ist es wahrhaftiger, erlaubt es tiefere Einblicke in die conditio humana als alle anderen Medien. Und was es sichtbar macht, lässt schaudern.
Als der Roman „Das Boot“ 1973 erschien, lebte ein Gutteil der verbliebenen U-Boot-Fahrer noch. Deren Veteranenverbände protestierten prompt, solche Sauereien wie die von Buchheim aufgeschriebenen hätte es in der Wehrmacht nicht gegeben – oder wenn, dann wären die Vorgesetzten sofort eingeschritten. Ich aber glaube Buchheim. Nach allem, was wir wissen, ist die Verwahrlosung der Seele eine fast unausweichliche Folge menschenunwürdiger Lebens- und Todesumstände. Und wo wären diese gewisser als im Krieg, der uns einmal mehr vorgeschrieben werden soll.
Dass ich gerade dieser Tage auf Buchheims Roman stieß wie auf ein einsames U-Boot in den unendlichen Weiten des Atlantiks, erscheint mir als unwahrscheinliche, aber vorgesehene Begegnung. „Das Boot“ wollte eine Botschaft an die ferne Zukunft des Jahres 2025 absetzen, die es nicht kennen konnte: Wenn ihr nicht viehisch-verrohte Klumpen von Angst werden wollt wie wir, müsst ihr den Angstmachern eurer Epoche etwas entgegensetzen! Und zwar alles, was euch nur menschenmöglich ist.
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