In meiner Welt sind die Glaubensgebäude der Kirchen längst eingestürzt. Aber auch „die Wissenschaft“ drängt mir alternativlose Heilslehren auf. Gibt es überhaupt noch irgendein Weltbild, das mich durch die Zeiten des (Ver-)Zweifelns tragen könnte? Überraschenderweise ja.

Genug jetzt! Genug mit den traurigen Niederungen des Alltags. Genug mit den Abgründen der Corona-Klima-Wokeness-Politik und der fürsorglichen Strangulierung eines obrigkeitsfrommes Landes. Das hält auf die Dauer ja kein denkender Mensch aus! Um das immer weiter anschwellende Elendsgetöse wenigstens kurz mal auszublenden, wende ich mich lieber den größeren Dingen zu. Groß wie … das Universum. Das Leben. Und der ganze Rest.

„Wer nichts weiß, muss alles glauben“, lautet ein leider kluger Spruch. Gut, ein bisschen was weiß ich, aber es ist zu wenig, um halbwegs unbeschadet, und zu viel, um wenigstens unverdrossen durch diese Zeit und dieses Leben zu kommen. Zu massiv sind die Zumutungen, die Widersprüche, die schwarzen Löcher der Dummheit in mir und um mich herum. Also: An irgendwas muss der Mensch glauben. Hm. Muss er? Muss ich wirklich? Wollen wir doch mal sehen. Ach übrigens: Ich habe das hier für mich aufgeschrieben, nicht für Sie. Sie müssen da nicht durch. Es ist lang, es ist vielleicht verworren, vermutlich voller Widersprüche, wenngleich am Schluss mit einer mich selbst überraschenden Pointe. Soll niemand sagen, er sei nicht gewarnt worden.

Es ist nicht so, dass ich an gar nichts glauben würde. Ich bin kein Nihilist. Bloß an den Christengott, diese gütige, alles liebende und alles vergebende Vaterfigur, kann ich längst nicht mehr glauben. Und das liegt nicht daran, dass er mich enttäuscht hätte, weil meine Gebete nicht erhört wurden, obwohl ich doch „gut“ war, oder mir Schicksalsschläge zugemutet wurden, die ich nicht verdient hatte. Schicksalsschläge, denke ich heute, sind unglückliche Verkettungen von willkürlich anmutenden Umständen, mit menschlicher Beteiligung oder ohne, die jeder im Laufe seines Lebens erfährt. Es sind Schläge, die wir nicht beeinflussen können und die daher hinzunehmen sind, so sehr sie auch schmerzen. Entweder man zerbricht daran oder nicht.

Trotzdem wäre mein erster Impuls, wenn der nächste Hieb aus dem Nichts käme, immer noch Gott anzuklagen. Denn der Gott, an den ich nicht glaube, muss doch wenigstens an mich glauben, er als der Stärkere. So habe ich es schließlich ganz zu Anfang gelernt, und das sitzt sehr tief drin: Du darfst blind auf Gott vertrauen, vorausgesetzt, du sündigst möglichst nicht oder wenn, dann bereust du es tüchtig. Okay, okay, ich bereue! Also warum ich? Warum muss ich das erdulden? Ich habe doch fast alles richtig gemacht. Ich war doch meistens brav. Es gibt doch viel Bösere als mich, warum dann ich? So würde dann das Kind in mir klagen.

Und ganz bestimmt würde ich von einem Moment auf den anderen alles über Bord werfen, was ich mir in langen Jahren des Grübelns und Philosophierens zusammengereimt habe, und aus lauter Verbitterung und immer noch uneingestandender Sehnsucht nach diesem lieben Papa-Gott ins Gegenteil verfallen: Ich würde ihn also beschimpfen, ihn hassen in meiner Hilflosigkeit. Das ist nur menschlich. Ganz unabhängig davon, dass es Unsinn ist.

Denn meinen naiven Glauben an den lieben Gott habe ich nicht durch mangelnde Glückserfahrung oder übermäßiges Unglück verloren. Im Gegenteil: Je länger mein Leben dauert, desto mehr persönliches Glück erkenne und anerkenne ich. Ich bin nicht zu kurz gekommen in dieser Beziehung, ganz sicher nicht, trotz aller gegenteiligen Erfahrungen. Und genau das, gerade diese Einsicht hat mich dazu gebracht, meinen Glauben an den biblischen Vater-Gott und an alle begleitenden Geschichten der Bibel zu verlieren. Also Undankbarkeit? Nein, es ist etwas ganz anderes.

Der Prüfstein, an dem mein Kinderglaube zerschellt ist, heißt Theodizee. Und ich bin nun wirklich nicht der Erste und beileibe nicht der Klügste, dem das so ergangen ist. Das merkwürdige Fremdwort ist eine Verbindung der altgriechischen Begriffe theos (Gott) und dike (Gerechtigkeit), bezeichnet also das Konzept der göttlichen Gerechtigkeit. Oder eben vielmehr seiner schreienden Ungerechtigkeit – aus (mit)menschlicher Perspektive. Nicht vergessen: Wir haben es ja der Bibel zufolge mit einer allmächtigen, allwissenden, allsorgenden Instanz zu tun. Wie kann also die göttliche Gerechtigkeit derart ungerecht sein, dass sie unerträgliches Leid zulässt? Und damit ist nicht mein eigenes Leid – siehe oben – gemeint, sondern das menschliche Leid ganz allgemein.

Warum sind jüdische Kinder oder Rabbiner im KZ vergast worden? Wie konnte Gott das zulassen, massenweise? Diese Menschen waren unendlich viel reiner und schutzwürdiger als ich, im Glauben, in ihren Taten, in ihrer Liebe zu Gott und den Mitmenschen, im Fall der Rabbis waren sie tausendfach verdienstvoller und weiser als ich. Also warum geht es mir relativ gut, warum erlebe ich Glück um mich herum, aber diesen Menschen wurde das radikalste Unglück zuteil? Warum war ihr Leben und Tod so voller Leid und Brutalität und Ungerechtigkeit, ich aber mit all meinen Makeln existiere in Frieden und relativem Wohlstand?

Oder anders: Warum gab und gibt es (und wird es immer geben) Diktatoren, die quasi das Blut ihrer Völker soffen, die Milliarden auf ihre Konten abzweigten, die ihre Kritiker zu Tode foltern ließen, die sich fünftausend Paar Schuhe kauften, ohne sie je zu tragen – und doch schwelgten sie unangefochten im Luxus bis ans Ende ihrer Tage? Wie konnte Gott das bloß zulassen? Kein Theologe, kein Kardinal konnte mir jemals eine auch nur halbwegs befriedigende Antwort darauf geben.

Das Äußerste war immer: „Als Sterbliche können wir es nicht verstehen, aber Gott weiß, wozu es gut ist.“ Oder die Geschichte von Hiob, von der Prüfung des Glaubens durch einen überwältigenden Verlust, der zur Opfergabe und damit zum Treuebeweis gegenüber dem Allmächtigen verklärt wird. Und das reichte mir eines Tages nicht mehr. Ich empfand es als eine Beleidigung meines Verstandes, meines Gerechtigkeitsempfindens und meiner (schwachen) Menschlichkeit.

Wie konnte Gott das bloß zulassen? Kein Theologe, kein Kardinal konnte mir jemals eine auch nur halbwegs befriedigende Antwort darauf geben.

Einen solchen Bibelgott wollte ich nicht anbeten. Einen Gott, dem ich einerseits dafür danken kann, dass er meine kläglichen Gebete um ein neues iPhone oder auch meine edleren Wünsche für das Wohlergehen meiner Lieben erfüllt hat – aber all das lässt er andererseits zu? Kinder werden geopfert, um den Glauben der Eltern zu prüfen, und ich bekomme hübsch mein neues Handy? Nein, zum Teufel nein! Wer wäre ich denn, wenn Gott diese Prioritäten setzte? Wer wäre der andere? Wer wären wir alle? Das Theodizee-Problem ist unauflösbar, selbst für die größten Geister, denen ich begegnet bin.

Als ich also schließlich so weit war, all diese tief eingegrabenen Christenreflexe abzustreifen und loszulassen, tat sich die zu erwartende Lücke auf: das große Nichts. Was jetzt? Woran glauben? Oder besser gar nicht glauben? Oder nur an die nackten Fakten der Wissenschaft? Das wäre natürlich eine Möglichkeit, aber erstens kommt heute vieles, was in Wahrheit politische Agenda ist, als unbestechliche und daher auch nicht in Zweifel zu ziehende Wissenschaft daher. Von „climate science“ über „black history“ und das RKI bis „Genderwissenschaft“. Und zweitens trägt uns all unser aufgehäuftes Wissen, selbst wenn es nicht korrumpiert ist, nur bis zu einem bestimmten Punkt.

Dieser Punkt ist der Urknall. Der Punkt, an dem das Universum plötzlich da war und mit unvorstellbarer Gewalt expandierte, immer und immer weiter, bis knapp 14 Milliarden Jahre später ich auf die Bühne trat und ein paar Fragen hatte: Hallo, was war denn „vor“ dem Urknall? Wenn das Universum sich ausdehnt, dann innerhalb von was? Bin ich, da ich dies frage, mehr als die biochemischen Funktionen meines Körpers? Wozu dieses ganze Theater am Nachthimmel? Was kommt nach mir? Worauf steuert all dies zu? Und vor allem: warum?

Natürlich könnte man sagen: Ähnlich wie die „Schicksalsschläge“ können wir all dies nicht im Geringsten beeinflussen oder jemals erklären, also kann es uns doch herzlich egal sein. Aber so einfach ist es für mich nicht. Da ist nicht nur diese unstillbare Neugier, dieser andauernde Drang nach Erkenntnis und Verstehen. Wenn ich in den Nachthimmel blicke und die Sternbilder sehe, wenn ich an die Geburt meiner Kinder denke, wenn ich mir einen Sonnenuntergang hinter Berggipfeln vorstelle oder dem Treiben in einem Bienenstock zuschaue, erkenne ich zweierlei: Ordnung und Schönheit.

Einerseits fühle ich bei allem Chaos im Kleinen eine große, alles überwölbende Folgerichtigkeit. Eines geht aus dem anderen hervor, ganz organisch. Alles folgt Gesetzen, die man Naturgesetze nennen kann, aber das ist nur ein Name. Alle diese Gesetze haben mit Sicherheit keine Menschen gemacht, und sie sind von uns auch nicht korrigierbar. Es gibt also ein Gefüge, das größer ist als wir. Ich nenne es den Masterplan. Die große Generalrichtung. Der Fortgang in diese Richtung ist überall, im Kleinsten wie im Größten, im Mikro- wie im Makrokosmos.

Das scheint ein Widerspruch zu sein, denn ich habe ja oben behauptet, dass es auch Willkür gibt, eben die „Schicksalsschläge“, ebenso wie Irrwege und Rückschläge. In Wahrheit existieren vermutlich weder Schicksal noch Willkür noch ein Weg zurück. Die Sackgasse, in die wir uns manövrieren, das Unfassbare, das uns aus heiterem Himmel trifft, ist auf jeden Fall nicht unvereinbar mit dem Masterplan. Innerhalb der großen Generalrichtung, die er vorgibt, ist das, was wir Zufall nennen, bei genauerem Hinsehen bloß die unfassbar komplexe Verkettung von Trillionen einzelner Ursachen und Wirkungen. So kleinteilig, so vielfältig, so unüberschaubar, dass wir an Willkür glauben, an Chaos.

Auch das Chaos hat indes eine Logik, ein Ordnungsprinzip. Ist die Zeitachse nur lang genug, strebt jedes System, jede Zusammenballung von Materie, selbst jeder energetische Zustand nach Entropie. Darunter versteht man die größtmögliche Unordnung, der maximalen Diffusion, sodass jede Struktur ausgelöscht ist und alle Spannungen auf Null reduziert sind. Selbst Atome tun das, aber auch das Universum als Ganzes tut es. Und gerade darin wird wieder die Ordnung des Masterplans erkennbar. Während der Mensch ein kleines Stück auf dem langen Pfad in die unausweichliche Entropie unterwegs ist, hat er alle Freiheiten, dem Chaos auf jede Weise durch eigene Ordnungsimpulse entgegenzutreten – oder sich ihm als sein Spielball hinzugeben.

Das Ergebnis kann sein, dass wir uns als Spezies morgen schon aus purer Dummheit auslöschen. Oder wir überwinden die Gefahr der drohenden Selbstzerstörung, indem wir uns weiterentwickeln. In beiden Fällen geht der Plan, der größer ist als wir, unbeeindruckt in seine nächste Phase. Es folgt Epoche auf Epoche, bis nichts mehr von uns als Menschheit und von all den unzähligen anderen Zivilisationen da draußen übrig ist und die erschreckend kurze Phase des Lebens im Universum von allumfassender Kälte und Dunkelheit abgelöst wird. So sehen es zumindest die meisten Astrophysiker heute voraus:

Das Gleichgewicht zwischen der Grundlogik – dem Masterplan – und den Milliarden „Zufälligkeiten“ scheint an jedem Ort des Universums nach denselben, nur eben oft noch unerklärlichen Spielregeln zu funktionieren. Diese innere Logik ist weder gut noch böse, das sind ja ohnehin nur menschliche Konstrukte. Sie ist einfach bloß. Oder anders gesagt, sie neutralisiert beides: das „Gute“ (Kreation, Evolution, Perfektionierung) und das „Böse“ (Destruktion, Zerstörung, Auslöschung).

Das eine ist ohne das andere nicht vorstellbar. Beides bedingt einander, eines löst das andere ab, ein nahezu ewiges Wechselspiel. Auf der Ebene der kleinsten Teilchen ebenso wie in meinem langweiligen Leben und in der Sphäre der Sterne und Planeten. Es toben unermessliche Gewalten dort draußen, aber exakt dieselben wie im kleinsten Molekül: ein ständiger Wechsel von Werden und Vergehen, Kreation und Destruktion. Das Stärkere verschlingt das Schwache, wird selbst geschwächt und verschlungen, woraus etwas Neues hervorgeht. Bis hierher ist mein Weltbild nichts weiter als ein mechanisch abschnurrender Apparat, ein schwingendes Pendel, volkommen emotionslos.

Andererseits ist da – neben reichlich Tod und Verderben – überall und immer wieder diese Schönheit. Eine Schönheit, die nicht nur über das Auge wirkt, sondern auf andere Weise leuchtet: Vielleicht meint man das, wenn man „Liebe“ oder „Glück“ sagt. Natürlich sind auch das menschliche, psychische Konstrukte. Aber ich könnte schwören, dass man sie mit noch zu erfindenden Instrumenten auch messen könnte: als kosmische Harmonie, ein Gleichschwingen auf derselben Wellenlänge. Geborgenheit, die sich einstellt, wenn ich den Widerstand gegen meine eigene Bedeutungslosigkeit aufgebe und mich nur als Teilchen unter Teilchen in der Unendlichkeit betrachte. Ein Strahlen, das die Raumzeit zu durchdringen scheint, bis hinein in mein kleines Leben und die Mikroorganismen in der Erde unter meinen Füßen.

Okay, jetzt klingt es vermutlich heftig esoterisch. Fällt mir selbst auf. Aber das liegt nicht an mir. Es ist auch ganz unabhängig von meiner persönlichen Befindlichkeit. Denn diese Schönheit besteht ja auch ohne mich fort, solange es überhaupt noch fühlende Wesen gibt, die mit Erschütterung in den Nachthimmel schauen oder die Seelen ihrer Geliebten spüren. Die größten Geister, die Weisesten der Weisen haben das beschrieben. Es ist ein wortloses Einverständnis mit all diesem Sein um mich herum, die Befriedigung meines Sinns für die Erhabenheit des Masterplans, der unfassbar komplexen und perfekten kosmischen Tanzformation.

Und da kommt für mich eben doch wieder Gott ins Spiel. Ein ganz anderer Gott. Besser gesagt: das Göttliche. Denn es ist natürlich nicht der gütige alte Mann mit Rauschebart, der Kinderglaubegott. Das Göttliche ist auch nicht „lieb“, nicht gütig, es verzeiht nicht und bestraft nicht und richtet nicht. Es ist ganz und gar gleichgültig, was uns angeht. Es mag allwissend sein, was immer das bedeuten mag. Wohl auch allmächtig, wenn es aus reinem Willensimpuls ein Universum hervorbringen kann – und vielleicht sogar unendlich viele Universen, ob nacheinander oder zugleich. Wie dies geschehen konnte, ist das größte aller Geheimnisse, denn im physischen Universum selbst entstand von Sekunde eins an niemals und an keinem Ort etwas aus nichts. Es ist nicht möglich, sagt die Physik. Und da, wo es möglich scheint (Quantenmechanik), dürften wir irgendwann noch herausfinden, dass „nichts“ doch bereits „etwas“ war.

Dieses Etwas also, das aus dem Nichts das Alles erschaffen konnte, kann für mich kein absichtsloses Irgendwas sein. Dessen Werk wäre bloß Struktur-, Regel- und Ziellosigkeit. Entropie von Anfang an. Der „Schöpfer“ hier ist das genaue Gegenteil: das göttliche Mastermind. Nach allem, was wir wissen, entwickelt sich alles, was wir kennen, seinem Plan entsprechend, ohne unterwegs alle nur denkbaren Irrtümer und gescheiterten Versuche der Evolution auszuschließen. Von der Mikrobe bis zur Galaxie läuft alles auf ein Endziel zu, das wir nur noch nicht verstehen und wahrscheinlich nie verstehen werden, weil es alle unsere vorstellbaren Größenordnungen in Raum und Zeit sprengt.

Im physischen Universum selbst entstand von Sekunde eins an niemals und an keinem Ort mehr etwas aus nichts.

Das Göttliche, das ich mir vorstelle, muss deswegen aber nicht angebetet werden. Es hat keine Propheten, keine Stellvertreter auf Erden, keine theologischen Deuter und keine Inquisitoren, wie die Christenkirche und andere Religionen sie benötigen, um nicht in sich zusammenzufallen als die Kartenhäuser, die sie sind. Dieses Göttliche gewährt keine Privilegien, erhört keine Gebete, verhängt keine Höllenstrafen. Und das ist das Grandiose: Dieses Göttliche besteht den Test des Theodizee-Problems. Da es den Menschen nie Gerechtigkeit versprach, kann es auch nicht ungerecht sein.

In seinem Masterplan hat auch das, was für uns grausam und destruktiv ist, innere Logik. Krebs zum Beispiel folgt ebenso zwangsläufig-chaotischen Entwicklungsmustern, wie sie auch das Wachstum gesunder Zellen bstimmmen. Es ist einerlei, aus dieser Perspektive. Kein Unterschied zwischen Fluch und Segen. Das Göttliche hat den Menschen überhaupt noch nie etwas versprochen. Und aller Wahrscheinlicheit nach nimmt es uns noch nicht einmal zur Kenntnis. Wir sind uninteressant, und keine Anstrengung der Welt könnte uns interessant machen.

Ich stelle mir vor, in einem Universum, in dem es Milliarden mal Millarden mal Milliarden Sonnen gibt, um die sich Planeten jeder Art und Größe drehen, mit Zilivisationen jeden Alters, jeder Stufe und jeder Form – in einem solchen Universum ist die ganze Menschheit nur wie die eine, einzelne Ameise in einem Wald voller Ameisenhaufen. Wir würden sie nie und nimmer als Individuum ins Auge fassen oder gar als „Krone der Schöpfung“ herausheben. Denn sie ist es nicht.

Aber auch galaktischen Imperien, die uns Millionen Jahre voraus wären und mit unsichtbaren Raumkreuzern durchs All jagten, wären nicht besser dran. Auch sie: weniger als eine Fußnote des Masterplans. Dem Göttlichen geht es lediglich um alles. Das Ganze. Diese riesige, atemberaubende, sich niemals exakt wiederholende Vielfalt, die Muster und Linien in Raum und Zeit, die es geschaffen hat. Warum? Vielleicht zu seiner Unterhaltung. Ich stelle mir das Göttliche als ein verspieltes Wesen vor. Und uns nimmt es einfach nicht wahr. Gott sei Dank. Denn so kann ich meinen Glauben bewahren.

Einen Glauben, an dem das Schönste ist, dass man ums Verrecken keine Religion daraus stricken kann. Keine Lebensregeln, keine Herrschaftsansprüche, keinen theologischen Überbau, um weitere hundert Generationen in Angst und unter Kontrolle zu halten. Denn diese Erkenntnisse geben keine zehn Gebote her, sie reichen für keine Gesetzestafeln, keine heiligen Schriftrollen. Keine Jünger, Apostel, Propheten. Kein Teufel und kein gefallener Engel, kein Biss in den verbotenen Apfel. Dem Göttlichen bin ich egal, egal, egal. Das ist mal eine Ansage: Mensch, du musst dich schon selber kümmern! Viel Glück dabei. Vielleicht bist du ja clever genug – oder auch nicht. Dann weiter im großen Plan, der auf alle Fälle abgewickelt wird.

Nur: Was wird denn nun aus mir, wenn ich nicht mehr bin? Ich kann ja offenbar weder in die Hölle noch in den Himmel kommen, die ich soeben wegphilosophiert habe. Wenn ich aber so völlig bedeutungslos und nicht einmal ein jüngstes Gericht wert bin, ein Partikel unter unendlich vielen Partikeln, von Zufällen aufgewirbelt, im großen, beständigen Wind treibend für den Wimpernschlag meiner Existenz – was bleibt dann nach diesem Wimpernschlag?

Als erstes wird mein Körper der Gesetzmäßigkeit folgen, Masse in Energie zurückzuverwandeln, in umgekehrter Richtung wie bei meiner Menschwerdung. Zunächst wird es die profane, exotherme Wärmeenergieabgabe der Zersetzung sein, aber da Energie nicht vergeht, in letzter Konsequenz und Umwandlung womöglich eine Art von Strahlung. Irgendwo zwischem dem Spektrum des infraroten und des sichtbaren Lichts, hoffe ich. Keine destruktiv kurzwellige Gammastrahlung, wenn es nach mir geht. Dafür fehlt mir aber dann zum Glück auch die Erregung.

Ob in dieser Strahlung etwas mitschwingen wird, das ich gewesen bin, jenseits meiner körperlichen Masse? Ein Code, eine Serie von Morsezeichen, von Information über mich? Meine Vorstellung, die einem „jenseitigen Leben“ am nächsten käme, wäre diese: dass ich mit den Strahlen derer, die ich geliebt habe, mitschwingen darf, um gemeinsam die Finsternis des Alls zu durchkreuzen. Ohne Ort, ohne Gewicht, ohne gezielte Richtung außer auf den großen Endpunkt von allem hin.

„Mit dir will ich endlich schweben / voller Freud‘, ohne Leid / dort im andern Leben“ – wie nah diese Verse des großen Volksdichters und gottergebenen Christen Paul Gerhardt aus dem Jahr 1653 meiner Phantasie von einer Nachwelt ohne Himmel und Hölle kommen. Einer Vision, die mit der leidenschaftslos rationalen Physik ganz leicht in Einklang zu bringen wäre. Wissen und Glauben in Kongruenz – fast zu schön, um wahr zu sein. Aber wer weiß: Eines Tages könnte mir ein Licht aufgehen.

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