Ausgerechnet in der finstersten Zeit seit vielen Jahren hatte man mich losgeschickt, eine Reportage über den Hamburger Hafen zu schreiben. Doch in der Lockdown-Kälte entstand etwas, das meinem Ideal von Sinn und Sinnlichkeit im Journalismus schon sehr nahekommt.
Kurz vor Mitternacht am letzten Tag des Jahres 2020 fährt ein fast leerer Zug der Hamburger Hochbahn in die Station Baumwall am Hafen ein. Hier, wo sich normalerweise Zehntausende zum Silvesterfeuerwerk an der Waterkant drängen, steigt mit wenigen anderen Fahrgästen ein mittelaltes Ehepaar aus – und zögert auf dem Bahnsteig nach wenigen Schritten.
Von der Uferstraße her, auf der statt Menschenmassen nur Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht unterwegs sind, empfängt eine Lautsprecherdurchsage die Neuankömmlinge: »Hier spricht die Polizei Hamburg! Im Rahmen der Corona-Maßnahmen gilt im Bereich Elbufer Versammlungs- und Alkoholverbot! Das Abbrennen von Feuerwerkskörpern ist untersagt!«
Das Paar wechselt Blicke, wandert dann aber weiter in Richtung Elbphilharmonie. Hinunter zum Fluss, der sich dunkel unter einem schwarzen Himmel dahinwälzt. Als es Zwölf schlägt, flüchten sich die beiden in die tiefsten Schatten des verwaisten Traditionsschiffhafens in der HafenCity, um auf dem sacht schaukelnden Ponton verstohlen mit Sekt aus Plastikbechern anzustoßen.
Plötzlich kommt aus einem der umliegenden Wohnblocks ein junger Mann hinzu. Einen gehörigen Abstand wahrend stellt er sich fast schüchtern vor: »Hallo, ich bin Linus. Hättet ihr was dagegen, wenn ich hier eine Rakete steigen lasse?« Nein, hätten sie ganz und gar nicht. Wenige Sekunden später erblüht hoch über den Masten der alten Segler mit poetischer Pracht eine einzelne, orangegelbe Riesenblume. So begrüßt doch noch ein Funke Lebensfreude das neue Jahr an der Elbe.
Die vier Absätze, die Sie gerade gelesen haben, gehören einer aussterbenden journalistischen Gattung an: der literarischen Reportage. Sie sind der Anfang meiner gerade veröffentlichten Geschichte über den Hamburger Hafen. Wie bitte? War der nicht lange vor der Jahrtausendwende endgültig als Thema abgefrühstückt? Und wer will so was im Blatt haben, GEO, Merian, Mare? Ach, wo denken Sie hin! Sie kämen eh nicht drauf: das Magazin ATLAS des internationalen Logistikunternehmens Gebrüder Weiss aus Lauterarch in Österreich.
ATLAS – mit Online- und Printausgabe auf Deutsch und Englisch – ist in vielerlei Hinsicht etwas ganz Besonderes. Nicht nur wurde es mit renommierten Preisen für Text und Gestaltung überhäuft, es bietet seinen Autoren vor allem etwas, das in der Welt des „Content Marketing“ schon fast in Vergessenheit geraten ist: richtigen Journalismus. So, wie er früher mal gemeint gewesen sein muss, bevor der „Stern“ die Hitlertagebücher erfand und das Redaktionsnetzwerk Deutschland gegründet wurde.
Das wusste ich aber alles noch nicht, als die Hamburger Agentur mit dem kongenialen Namen „Groothuis Gesellschaft für Ideen und Passionen“ bei mir anfragte, ob ich nicht mal was für den ATLAS über den Hamburger Hafen schreiben wolle. Ich dachte natürlich, jetzt gelte es die Vorzüge des Logistikers auf Straße, Schiene und Wasserwegen in den Mittelpunkt zu stellen. Wobei dann der drittgrößte europäische Handelshafen den passenden Hintergrund bildet.
Doch nein, zu meiner Verblüffung und Verwirrung erhielt ich völlige Narrenfreiheit beim Umgang mit diesem doch recht komplexen Schauplatz zugesagt. Es solle halt nur klar werden, wie dieser Hafen so funktioniert. Ansonsten würde man es begrüßen, wenn das Projekt ganzheitlich angegangen würde: Was ist das für ein Ort, der Hafen? Historisch, kulturell, touristisch? Was ist von der klischeehaften Hafenromantik übrig, was ist hier „hanseatisch“, wo findet Innovation statt, was für Menschen sind hier unterwegs, was ist mit Corona und den Hafenjobs …
„Ja, aber, der Kunde …“, stammelte ich, als Textdienstleister für Unternehmen seit zwei Jahrzehnten auf Mehrwerte und Narrative eingenordet. Man werde, erklärte die Agentur, zu meinem Text noch ein Interview stellen, in dem ein Experte der Gebrüder Weiss zu speziellen Logistik-Aspekten des Hafens für das Unternehmen Auskunft gibt. Ansonsten: „Machen Sie mal!“
Es kam noch besser: Mein Text durfte 15.000 Zeichen lang werden. Das ist etwa so, als ob Sie heute einem Fernsehmacher sagen: Ihr Beitrag für das „Auslandsjournal“ sollte bitte nicht länger als drei Stunden sein. Mit anderen Worten: Extase pur beim Autor. Und einmal, ein einziges Mal im Leben noch die Möglichkeit, das Thema samt Geruch, Geräusch und Geschmack einzukreisen. Um dann vom Speziellen und Menschlichen auf das Allgemeine, Hintergründige zu kommen. Reportage eben. Wolf Schneider lebt. (Insiderwitz für die Journalistengeneration Boomer.)
Ist das nun eine verschwenderische Luxus-Strategie des Logistikers Gebrüder Weiss, seinen Autoren so viel Raum zu geben und sich selbst so zurückzunehmen? Keineswegs. Es zeugt im Gegenteil von einem guten Maß an Souveränität und übrigens auch Cleverness. Denn je glaubwürdiger, origineller, spannender und freier von gelenkten Botschaften sein Medium ist, desto mehr fällt dieser Glanz auf den Herausgeber zurück, der es nicht nötig hat, seine Seiten allenthalben mit Glücks- und Markenversprechen zu pflastern. Die eigene Qualität spiegelt sich im Understatement.
Um das Maß vollzumachen, durfte ich auch noch den Fotografen vorschlagen. Denn anders als auf meinen amateurhaften Bildern aus verschiedenen Jahren hier im Blog wurde die Strecke im Magazin natürlich von einem erfahrenen Profi, dem Lübecker Fotografen Patrick Ohligschläger, ins Bild gesetzt. Ach was: inszeniert! Der Mann hat sogar eine Drohne fliegen lassen. Was er übrigens auf diese engagierte Weise eingefangen hat, sind nicht nur wunderbare Porträts von Männern und Frauen, die in meinem Text auftauchen. Es ist auch die große Menschenleere in den Totalen: der Hafen in den Zeiten des Coronavirus.
Heute, wo beim Hafenumschlag vieles schon vollautomatisch abläuft und auf den Containerterminals autonome Transportfahrzeuge vor sich hinmanövrieren, um die bunten Blechboxen in immer neuen Mustern aufzuschichten, werden selbst in normalen Zeiten immer weniger Leute im Hafen beschäftigt. Aber seit der Pandemie muss man sie fast mit der Lupe suchen – zumindest, wenn man in größerer Flughöhe unterwegs ist.
Wenn das so weitergeht, erleben wir vielleicht noch, wie selbst die Schlepper-Kapitäne ins Home Office wechseln und von dort aus per Joystick und Datenbrille das Anlegemanöver eines 40.000-TEU-Frachters dirigieren. Sie denken, jetzt gehe nur meine wilde Phantasie mit mir durch? Falsch. Im Hamburger Hafen wird diese Technologie bereits entwickelt und erprobt. Wäre nicht Corona, dann hätte man das schon mal im richtigen Leben durchexerziert. Auch davon handelt meine Reportage mit Patricks Bildern, die sie hier in Gänze finden.
Pssst! Was Sie hingegen selbst im Original-Magazin nicht erfahren, sondern nur hier bei TWASBO – wo wir beiden ganz unter uns sind: Auch das „mittelalte Ehepaar“ aus den ersten vier Absätzen oben, das durch den nächtlich vereinsamten Hafen wandert, ist nicht etwa eine literarische Erfindung. Nein, es sind der Autor und seine Frau, denen es in der Silvesternacht exakt so ergangen ist.