Wurmfortsätze am Menschenwerk: eine unfreiwillig philosophische Bahnfahrt zwischen Hamburg und Hannover

Zugfahren ist langweilig. Also nicht grundsätzlich, aber schon auch, wenn man oft fährt. Und besonders, wenn man oft dieselbe Strecke fährt. Und ganz besonders, wenn man oft die Strecke Hamburg – Hannover fährt. Entsetzlich. Bloß nicht nach draußen schauen: Da schlieren bloß Dänische Bettenlager vorbei, Logistik-Klötze in vollständig verflachter Flachlandschaft, Autobahnlärmschutzwände, die in ihrer endlosen Gleichförmigkeit trotz Tempo 250 die Halluzination heraufbeschwören, man bewege sich gar nicht. Und dazu der Soundtrack des Schaffners auf Dauerschleife: „Bitte beachten Sie: In unseren Zügen sind Sie verpflichtet, sich den Mund- und Nasenbereich abzudecken.“

Statt auf die Frage, was für ein Dialekt von Bahndeutsch das nun wieder ist, konzentriere ich mich brav darauf, mir den Mund- und Nasenbereich abzudecken. Am liebsten auch noch den Ohren-, Augen- und Hirnbereich. Weghören, wegriechen, weggucken, wegdenken – doch wohin, wohin? Im Käfig meiner Großraum-Fahrgastzelle ist mein Blick vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Er rutscht schließlich nach rechts ab, auf den leeren Nebensitz. Der so leer gar nicht ist, denn auf ihm ruht meine alte Umhängetasche, treuer Begleiter über vermutlich fünf Millionen Bahnkilometer. Aus lauter Gewöhnung und Schwärze des Designs indes fast so unsichtbar wie sinnliche Attraktionen entlang der Strecke Hamburg – Hannover.

Doch was ist das? Das da! Was ist das eigentlich? Schlagartig refokussiert sich mein abgestumpftes Auge. Es hat etwas bemerkt. Etwas noch nie Gesehenes.

Meine Tasche ist, wie schon gesagt, eine Umhängetasche. Mit einem breiten Trageriemen zum Umhängen. Aber heute, bei Bahnkilometer 5.000.001, sehe ich: Sie hat auch eine Aufhängeschlaufe. Ja da schau her! Wozu die wohl gut ist? Zum Aufhängen, du Dödel! Also wenn ich jetzt zum Beispiel Bahn fahre, müsste ich die Tasche gar nicht auf den Nebenplatz stellen und ihn so blockieren (was ich indes doch tue, Corona, könnte ja sein, dass sich da ein Megaspreader distanzlos hinsetzen will). Vielmehr könnte ich sie an den dazu vorgesehenen Bahn-Haken hängen.

Nur gibt es den gar nicht. Weder in meiner Sitzreihe noch sonstwo. Es gibt einen, sehr hoch oben, für meinen Mantel, aber da würde die Tasche nur lächerlich aussehen und außerdem unerreichbar sein. Also das kann nicht der Sinn sein. Sondern: Wenn ich als Lehrer in die Schule komme, kann ich meine Tasche mit der Schlaufe ans Pult hängen, so wie die ganzen Tornister der Schüler, damit Ordnung herrscht im Unterricht – Moment: Ich bin überhaupt kein Lehrer. Und Schüler war ich vor ca. 35 Jahren zuletzt. Sagt man überhaupt noch Tornister? Gibt es überhaupt noch Tornisterhaken an Pulten? Was weiß ich, kann mir auch egal sein. Als Journalist und Autor hab ich meine Taschen noch nie an irgendeinen Haken gehängt, sondern immer gleich in die Ecke geschmissen.

Also was? Was, was, was ist der Sinn meiner Taschen-Aufhängeschlaufe, die ein Textilgestalter extra und ausdrücklich mit viel Mühe da hingestaltet hat? Mein gemartertes und maskiertes Hirn macht sich fieberhaft (Corona, bist du es?) an die Arbeit. Ich muss das rausfinden! Mein Leben hängt davon ab, mindestens meine geistige Sauerstoffversorgung. Es könnte, es könnte … es könnte eine Trageschlaufe sein. Wenn man mal keine Lust mehr auf den Trageriemen hat. Die Hand passt tatsächlich hindurch! Ich bin da an einer ganz großen Sache dran.

Bloß: So hat die Tasche schon beim Hochheben Schieflage. Ungleichgewicht. Und die Schlaufe schneidet ins Fleisch. Es ist eben keine Hochheb-, sondern eine Aufhängschlaufe. Zuhause werde ich einen Haken an die nächstgelegene Wand dübeln, bloß um die Tasche dort aufhängen zu können. Um es zu können, nicht um es zu tun. Natürlich schmeiße ich sie weiterhin in die Ecke. Das Wichtige ist doch, dass ein Sinn hergestellt wurde.

Draußen zieht immer noch die Flachlandschaft am Fenster vorbei. Nicht hinschauen! Denken. Denken: Warum sind da Dinge an den Dingen dran, die man nie braucht? Das ist eine tiefgreifende philosophische Frage. Warum gibt es Formularvordrucke, auf denen eigens Spalten für Einträge vorgesehen sind, die dann nie jemand macht? Zum Beispiel das computergedruckte Listensystem für irgendwelche internen Dienstpflichten im Großraumbüro: „Woche 1“ (handschriftlicher Eintrag: Hanna); „Woche 2:“ (Martin); „Übergabe am:“ (Nichts.) Blankes, kaltes Nichts. Weißes Rauschen seit Wochen in dieser Spalte. Und warum auch nicht? Übergabe vermutlich am Wochenende, bitches! Eat this!

So geht es mit jeder Tabelle, jeder To-Do-Liste, die im Büro irgendwann mal erstellt und auf Papier an die Wand gepinnt worden ist. Selbst die riesige Dispo-Wand mit Dimensionen wie im Raumfahrtzentrum von Houston, auf der eigentlich die Projekte des Büros mit ihren Details und sich immer verschiebenden Terminen koordiniert werden sollten, wurde irgendwann nicht mehr von allen und zuletzt überhaupt nicht mehr aktualisiert. Die Magnete zum flexiblen Markieren der Stichtage und Deadlines bilden nun zusammengeschoben zum Abschied ein buntes Clownsgesicht an der Wand. Die Projektplanung wurde unterdessen in eine App verlagert. Wo sie nun wiederum von allen gepflegt werden muss, um zu funktionieren.

Immer noch das blanke Nichts vor den Fenstern? Yo! Think harder!

Vor einigen Tagen lieh ich in der „Bibliothek der Dinge“ ein Teleskop aus. Das geht bei uns in Hamburg, und ich befürworte das ausdrücklich. Wenn Sie sich mal die Monde des Jupiter ansehen wollen, aber die Kosten für eine eigene Sternwarte scheuen, dann können sie das Ding für einen ganzen Euro vier Wochen lang ausleihen. Also in einer wolkenlosen Nacht auf die Terrasse gestellt, alles gemäß Anleitung zusammengeschraubt – und trotzdem Teile übrigbehalten! Teile, die wichtig und hochtechnologisch aussahen, aber in der Anleitung des Herstellers überhaupt nicht vorkamen. Teile mit Ehrfurcht heischenden Namen, zumindest auf der Verpackung. Aber das Teleskop funktionierte auch so.

Also warum? Warum haben Dinge Dinge drum und dran, die man nie braucht? Vielleicht nur aus einem Grund: damit ich einen Blogeintrag schreiben kann und Zeit vergeht. Zeit, in der ich sonst bloß aus dem Fenster schauen könnte zwischen Hamburg und Hann … oh.

Lassen Sie mich durch, ich muss aussteigen!