Eine Geschichte über den Traum von der Schwerelosigkeit, das harte Landen und den letzten Flug des Phönix
Mit dir will ich endlich schweben
voller Freud
ohne Zeit
dort im andern Leben.
Paul Gerhardt, Fröhlich soll mein Herze springen, um 1650
1.
Die Zeit war Eschenbachs größter Feind geworden. Zuerst zerrieb sie seinen Berufsstolz zu Staub. Wäre er zwanzig Jahre eher zur Welt gekommen, so lamentierte Eschenbach oft im Stillen, hätte er im Journalismus zweifellos Karriere gemacht. Eine stürmisch ansteigende Bahn hätte ihn kraftvoll bis in den Ruhestand getragen – sich emporschwingend und vom Aufwind getragen wie das geflügelte Wesen, als das er sich oft des Nachts in seinen Träumen sah. Seine Reportagen waren außergewöhnlich farben- und facettenreich, seine Features tiefgründig recherchiert und von großer Relevanz, seine Essays analytisch brillant. Immer größere Redaktionen wurden auf ihn, den Freelancer, aufmerksam und wollten ihre Seiten mit seinen Beiträgen schmücken.
Doch nach dem ersten und dann noch einem weiteren Medienpreis, der ihm als „Stimme einer neuen Generation im Journalismus“ verliehen wurde, riss seine Glückssträhne ab. Die Anfragen und Buchungen wurden seltener, die Honorare sanken. Reisen zu Schauplätzen von Reportagen wurden immer häufiger als zu kostspielig verworfen: Man müsse jetzt sparen, hörte er allenthalben, die Verlagsgruppen planten Umstrukturierungen. Man schätze ja seine außerordentliche Qualität und Tiefgründigkeit, wie er wisse, doch die Auflagen gingen zurück, die Werbekunden wanderten ins Internet ab. Am Telefon malte man ihm beinahe flüsternd drohende Redaktionsschließungen aus. Er möge verstehen, die Zeiten seien härter geworden. Bevor man weiterhin mit „Dienstleistern“ zusammenarbeiten könne, müsse zunächst die Auslastung der festangestellten Redakteure sichergestellt werden.
Die Magazine und Zeitschriften wurden dann nicht selten kurz darauf tatsächlich eingestellt. Jedes Mal hatte Eschenbach das Gefühl, ihm seien die Flügel ein Stück kürzer gestutzt worden. Aus seinen Träumen als majestätischer Adler über Berggipfeln gerissen, fühlte er sich wie ein kupierter Hahn, der wild flatternd dem Boden keinen Meter entkam. Auch das Geld wurde knapp und knapper, aus Überfluss wurden Körner, die der panisch pickende Hahn nur noch hier und da auflesen konnte. Eschenbach versank in Depression.
Er brauche einen Neustart, sagte sein Nervenarzt: Ob er sich vorstellen könne, seine beträchtlichen Fähigkeiten als Autor und Journalist für eine andere Art Auftraggeber einzusetzen? Nämlich für Unternehmen und Marken, die zur Eigenwerbung und Imagepflege eigene Zeitschriften oder Broschüren herausbrächten? Und die, wie er höre, immer noch vergleichsweise gute Honorare zahlten?
Das mache ihn ja gerade so bitter, erwiderte Eschenbach seinem Arzt, dass die Medienkrise ihm nur noch dies als Ausweg anbiete, um sich beruflich wieder aufschwingen zu können. Es sei ihm aber zutiefst zuwider, Marketingfloskeln und Reklamesprüche auf Artikellänge auszuwalzen, das als Journalismus auszugeben und dabei für andere die Tatsachen zurechtbiegen zu müssen, um weiterhin vom Schreiben leben zu dürfen. Zwar möge er inzwischen ein Hahn mit gestutzten Flügeln sein, doch sei das immer noch ehrlicher als ein Dasein als domestizierter Papagei. Der plappere, gut dressiert, mit krächzender Stimme jede Botschaft nach, die sein Herr ihm nachzusprechen lehre, spüre aber nie den warmen, tragenden Wind der Wahrheit unter den Schwingen.
Er müsse es ja letzten Endes wissen, erwiderte der Nervenarzt teilnahmslos und verschrieb ihm ein Antidepressivum. Eschenbach löste das Rezept ein, und unter dem Einfluss des Medikaments, das seine Stimmung aufhellte, begann er seine neue Karriere als Papagei.
Auf der Einnahmeseite funktionierte das für eine ganze Weile recht gut. Doch seinen Texten war endgültig die schwerelose Wahrhaftigkeit abhanden gekommen, für die er einmal bekannt gewesen war. Es mochte daran liegen, dass sie nun in Käfighaltung entstanden.
2.
Als nächstes machte die Zeit ihn arbeitslos. Die Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Markenartikler, die von seinen geschliffen formulierten und clever konzipierten Papageien-Texten eine Zeitlang gerne Gebrauch gemacht hatten, sahen in Eschenbach letzten Endes auch nur einen Kostenfaktor, den es zu minimieren galt. Zwar betonten sie ihm gegenüber stets, dass nur Menschen wie er imstande seien, anderen Menschen mit der Kraft des überzeugenden Wortes Vertrauen einzuflößen und sie für die anvisierten Zwecke und Produkte zu gewinnen. Doch auf höheren Etagen suchten dieselben Kunden unablässig nach Wegen, um die „Content-Generierung“ weiter zu „verschlanken“, den „Workflow“ zu „streamlinen“ und „Synergien“ zu erzielen.
Da kam ihnen der Fortschritt der Informationstechnologie und die Entwicklung im Bereich der künstlichen Intelligenz gerade recht. Zunächst waren es nur standardisierte Texte mit vielen Zahlen und Daten, die von automatisierten Schreibprogrammen übernommen wurden. Über die plumpen, sich andauernd wiederholenden Floskeln der Software in den Fußball-Spielberichten vom Wochenende lachte Eschenbach noch dünn. Er schrieb ja so etwas nicht. Auch über die vollautomatisch erstellten Aktienkurs-Meldungen konnte er sich noch erhaben fühlen wie ein Greifvogel über sein Beutetier.
Als aber die erste Sozialreportage einen Medienpreis gewann, die von einem komplexen Digitalprozessor verfasst worden war, verging ihm das Lachen. Der Siegertext schilderte die gesellschaftspolitischen Wohltaten eines Wirtschaftsverbandes, der die Software eigens zu diesem Zweck programmiert hatte. Solch einen Text hätte Eschenbach schreiben können, ja sollen. Doch da das Produkt des Programms für seinen Auftraggeber so überzeugend ausgefallen war, setzte dieser fortan ausschließlich auf die Autoren-Software, deren Entwicklung sich schnell amortisierte. Und alle anderen Kunden Eschenbachs kopierten das Verfahren in Windeseile. Er selbst, der noch das Gefühl des Windes in seinen Schwungfedern kennengelernt hatte, war nun nicht einmal mehr ein Papagei. Er war ein gerupftes Suppenhuhn.
Eschenbach solle einen Neustart wagen, sagte der Berater der Arbeitsagentur. Ob er es nicht, wenn das wahrhaftige Schreiben ihm so ungeheuer wichtig sei, vielleicht als Schriftsteller versuchen wolle? Das Zeug dazu habe er doch offenbar. Das dokumentierten ja sowohl die Liste seiner früheren Medienkunden als auch die Auszeichnungen, die er vorweisen könne.
Etwas im Gesichtsausdruck des Arbeitsagentur-Beraters weckte in Eschenbach den Verdacht, dass dies nur eine letzte, tollkühne Idee von jemandem sein konnte, der selbst beim besten Willen nicht mehr wusste, wie hier noch zu helfen sei. Doch mit demselben blindwütigen Optimismus der völligen Verzweiflung beschloss er, an den vom Berater gewiesenen Ausweg zu glauben. Und mit eiserner Disziplin, die durch keinen Anruf eines Auftraggebers mehr unterbrochen worden war, verfasste Eschenbach seinen ersten Roman.
3.
Zuletzt aber ging die Zeit auch noch über seine Sprache hinweg. Diese letzte Demütigung zeichnete sich ab, als kein Verlag Eschenbachs Roman drucken wollte. Warum denn nicht, fragte er ein ums andere Mal nach. Nun, leider, die Leute lesen nicht mehr, erhielt er zur Antwort, und wenn doch, dann nur billigen, schnellen Kitsch. Das war als Kompliment für seinen wortgewandten, komplex angelegten und gründlich recherchierten Roman gemeint, fühlte sich aber nicht so an.
Das könne doch nicht sein, wandte er händeringend ein, es kämen doch jährlich -zigtausende neue Bücher heraus. Irgend jemand müsse die doch lesen, rief er beschwörend. Ja, aber fast nur noch Frauen, sagte man ihm. Die aber wollten Geschichten mit Frauen als Heldinnen, mehr was über Gefühle, mehr über Beziehungen und gerne auch mit Mord. Und selbst das alles läsen eher nur die schon etwas Älteren, die jüngeren hätten sich Instagram oder YouTube zugewandt, da störe fast gar kein Text. Das sei sicher traurig, aber nun einmal der Markt. Und dann sei da auch noch die Sprache.
Wie, die Sprache, fragte Eschenbach fassungslos. Ob er denn vielleicht nicht Deutsch spreche beziehungsweise schreibe? Das sei es ja gerade, kam die Antwort. Die deutsche Sprache sei auf dem Rückzug. Er habe doch sicher Augen im Kopf und sehe, wie sich das Straßenbild verwandelt habe. Dass in vielen Jahrgängen diejenigen, für die Deutsch nicht die Muttersprache sei, schon die Mehrheit hätten und selbst bei den Älteren, durch Sterbeziffer und Zuwanderung, sich die Dinge allmählich veränderten. Wodurch Bücher, die zuerst auf Arabisch oder in afrikanischen Sprachen und mit passendem kulturellem Hintergrund der Autoren erschienen, zunehmend marktrelevant würden.
Eschenbach verstand. Er verstand, dass er am Boden zerschellt war, gleich ob mit Federn, mit Schwingen oder nackten Knochen. Die Flugsaurier fielen ihm ein, die ihr Aussterben auch nicht ewig hatten hinauszögern können. Es war einfach das große Sieb der Zeit, durch das er gefallen war.
Keine Sorge, er könne jetzt noch einmal ganz neu durchstarten, versprach der Fluglehrer Eschenbach. Der Fluglehrer war ein enthusiastischer Mensch. Lange hatte Eschenbach geschwankt, ob er seine letzten Ersparnisse und den Barwert seines Autos vernünftigerweise in Arabisch-Unterricht oder, als symbolischer Akt der Selbstheilung und des Aufbegehrens, in Flugstunden investieren sollte. Den Ausschlag gegeben hatte dann der Enthusiasmus des Fluglehrers: Über den Wolken erhalte man eine ganz neue Sicht der Dinge, neue Wege würden erkennbar, der eigene Platz in der Welt scheine nicht mehr so fixiert und unabänderlich. Auch wirke die Kontrolle über den Steuerknüppel im wahrsten Sinne des Wortes beflügelnd, man werde innerlich wieder jünger, dynamischer, beweglicher.
So stieg Eschenbach kurz entschlossen in die einmotorige Maschine und legte, viele Flugstunden später, erfolgreich die Pilotenscheinprüfung ab. Als er schließlich ein Flugzeug zum ersten Alleinflug mietete, hatte er einen beachtlichen Berg Schulden, und der Strom in seiner Wohnung war abgeklemmt. Doch was war das gegen den Luftstrom, der unter den Tragflächen pfiff. Was war das gegen den Aufwind, jenes ätherische Medium der Fliegerei und der Seele, das ihn einem neuen Ziel entgegentrug.
Allem irdischem Elend enthoben summte Eschenbach vor sich hin, immer dieselbe melancholische Melodie. In tausend Metern Höhe schaute er sich um. Auf neun Uhr erhob sich in geringer Entfernung die Silhouette eines der höchsten Gebäudekomplexe seiner Stadt. Die Fassaden der dicht beisammen stehenden Doppeltürme glitzerten silbrig in der Abendsonne. Eschenbach zog den Steuerknüppel scharf nach links und drückte die Nase der Maschine nach unten.
Dann gab er vollen Schub.
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